Eine tiefe Rührung ergriff Alena, bei diesem Gedanken und ehe sie sich versah, liefen ihr Tränen über die Wangen. Stefan schaute sie etwas erschrocken an.
«Was ist denn los? Habe… ich etwas falsch gemacht? Du… musst das Geschenk natürlich nicht annehmen, wenn du nicht willst. Vielleicht wirkte das Ganze ja etwas forsch von meiner Seite her. Aber… ich wollte dich auf keinen Fall bedrängen oder irgendwie unter Druck setzen!»
«Nein, nein!» wehrte die Frau mit bebender Stimme ab. «Das Geschenk ist so wundervoll! Ein Funken Hoffnung, in der teils so schwierigen Lebensphase, in der ich mich gerade befinde. Manchmal weiss ich einfach nicht mehr weiter und ich fürchte mich davor, der Finsternis, die mich ständig zu bedrohen scheint, einst zum Opfer zu fallen.»
Stefan setzte sich an ihren Bettrand und nahm ihre Hand behutsam in seine.
«Ist es denn so schlimm?»
«Ich… weiss auch nicht. Eigentlich dachte ich, es bessert langsam, aber… da ist noch immer so viel Angst und diese Ohnmacht, der ich glaube, einfach nicht Herr zu werden. Ich fühle mich gefangen, gefangen in all den Umständen, in denen ich mich schon viel zu lange befinde. Ich weiss, dass ich eigentlich meinem Leben eine ganz neue Richtung geben sollte. Aber… ich weiss schlichtweg nicht, wie. Dabei wäre es so wichtig, dass ich einen Weg finde…» Sie überlegte, ob sie Stefan von dem Erlebnis mit Tenebris berichten sollte. Schliesslich entschloss sie sich dazu, es zu tun, doch sie würde das schreckliche Erlebnis mit dem Schattendrachen, einfach als einen besonders realen Alptraum beschreiben.
So erzählte sie dem Mann alles, was sich zugetragen hatte. Dieser hörte ihr gebannt und tief erschüttert zu.
«Das muss wirklich ein schrecklicher Traum gewesen sein und vermutlich drückte er tatsächlich ein Dilemma aus, in dem du dich gerade befindest. Du sehnst dich danach wieder mehr Macht über dein Leben zu erhalten. Willst dein inneres Licht wieder mehr zum Strahlen bringen und Tenebris, der vermutlich irgendeine destruktive Macht verkörpert, will dich um jeden Preis daran hindern.»
«Aber meinst du denn, es gibt so eine destruktive Macht, ausserhalb von mir oder befindet sie sich schlichtweg innerhalb von mir, ist also ein Teil meiner Selbst?» fragte die Frau ratlos. «Vielleicht etwas von beidem.»
«Geht das denn?»
«Ja, ich denke schon. Wenn wir stets ein Leben führen, das uns nicht wirklich glücklich macht, wir gewisse Blockaden, woher sie auch immer rühren mögen, nicht auflösen können, bilden sich in unserem Inneren vermutlich, mit der Zeit, gewisse Dämonen. Je mehr Raum wir diesen Dämonen lassen, je mehr wir destruktive Muster immer und immer wieder aufs Neue wiederholen, desto stärker werden sie, bis sie vielleicht sogar ein Eigenleben entwickeln und dann von irgendwelchen Mächten, welche auf Chaos und Zerstörung aus sind, schliesslich aktiv instrumentalisiert werden.»
«Aber kann man dagegen denn überhaupt etwas tun?» wollte Alena verzweifelt wissen. «Ich habe mich Tenebris gegenüber so hilflos, mich richtig von ihm bedroht gefühlt. Zuerst dachte ich wirklich, er sei einfach nur ein innerer Dämon, den ich selbst in die Schranken weisen kann. Aber… alles, was ich getan habe, schien nicht wirklich etwas zu bewirken. Stattdessen hat er vermutlich Mondtänzer, der mittlerweile ein sehr wichtiger, innerer Begleiter für mich geworden ist, schwer verletzt. Würde sich das alles nur innerhalb von mir abspielen, dann wäre das doch nicht wirklich möglich. Eigentlich wären ich und auch Mondtänzer dann unsterblich und nicht ernsthaft verletzbar.»
«Wenn du das so erzählst, glaubt man beinahe, du redest von etwas viel Tieferem, als nur von einem Traum,» meinte Stefan und musterte Alena prüfend.
Die Frau wusste nicht so recht, was sie darauf erwidern sollte. Dann jedoch sprach sie: «Nun ja… auf die Gefahr hin, dass du mich jetzt vielleicht für verrückt halten wirst… Das alles fühlte sich tatsächlich viel realer als ein blosser Traum an. Seit ich hier im Spital bin, erlebte ich immer wieder solch seltsame Episoden. Wenn auch meistens dann, wenn ich jeweils einschlief. Dennoch… das alles ist mehr als nur ein Traum. Es ist… als hätte sich eine Tür in meinem Inneren geöffnet, die mir in den letzten Tagen schon manch unglaubliche Erfahrung beschert hat.» Stefan nickte, doch in seinem Blick lag keinerlei Argwohn, keine Verurteilung. Stattdessen meinte er: «Auch wenn ich noch nie selbst solch tiefgreifende Erfahrungen gemacht habe, kommt es mir so vor, als hätten diese Erlebnisse eine sehr wichtige Bedeutung für dein Leben. Etwas wollen sie dir sagen. Irgendeine Weisheit liegt darin verborgen. Du solltest sie ernst nehmen und weiterhin nach Antworten auf deine Fragen suchen.»
Alena, welche sehr erleichtert war, dass Stefan so positiv auf ihre Offenbarungen reagierte, erwiderte: «Ja, da sind wirklich noch eine Menge Fragen. So z.B. wie es in Zukunft mit meinem Leben weitergehen soll. Soll ich jetzt kündigen oder nicht? Was wird, wenn ich es tue? Was für einen Job soll ich danach machen? Ehrlich gesagt, habe ich noch überhaupt keinen Plan. Auch wie ich mit Tenebris verfahren soll, keine Ahnung. Da sind auch noch so viele andere Fragen. Ich spüre sie in mir, wie schwelende Gluthaufen, doch ich kann sie nicht einordnen. Ich weiss nicht mal, wie einige dieser Fragen überhaupt lauten. Ich spüre nur dass sie da sind.»
«Ich glaube, dass du diesen Dingen immer mehr auf den Grund gehen wirst, wenn du die drängendsten Fragen erst einmal beantwortet hast. Oftmals kannst du dann zu der nächsten Frage vorstossen, auf sie eine Antwort finden und dann zur nächsten Frage und wieder zur nächsten, bis du alle, oder zumindest die meisten Antworten, schliesslich gefunden hast.»
Alena lachte: «Du bist ja ein richtiger Philosoph Stefan!»
«Nun ja… ich philosophiere schon sehr gerne. Und mit jemandem wie dir, die so unglaubliche Dinge erlebt, umso lieber.»
«Dann… hältst du mich also nicht für verrückt oder… zu abgehoben?»
«Nein, überhaupt nicht!» sprach er voller Zuneigung, «im Gegenteil.»
Die Frau schaute dem Mann, neben ihr, einmal mehr, prüfend in die Augen. Meinte er das wohl wirklich ehrlich oder handelte es sich bei seinen Äusserungen, vielleicht doch nur um eine Taktik?
Aber Stefan blickte sie so aufrichtig an, dass sie sich sogleich selbst schalt: Wieso nur, hatte sie noch immer so wenig Vertrauen in die Männer? Seit ihre erste Ehe auseinandergegangen war, tat sie sich damit wirklich etwas schwer. Auch wenn eigentlich sie sich damals von ihrem ersten Mann getrennt hatte. Er und sie waren einfach viel zu unterschiedlich gewesen, hatten sich, mit der Zeit, in eine ganz andere Richtung entwickelt.
Nun jedoch hatte sie das erste Mal wieder das Gefühl, in Stefan jemanden gefunden zu haben, der sehr gut zu ihr passte und ihre Gedankengänge und ihre Sensibilität auch verstand.
Sie setzte sich an den Bettrand, neben ihn und griff nach seinen Händen.
«Danke, dass du mir die letzten Tage, so zur Seite gestanden bist,» sprach sie. «Das schätze ich wirklich sehr.» Sie schob ihr Gesicht etwas näher an seines heran und schaute ihm tief in die Augen. Die Wangen des Mannes liefen sogleich rosig an und er erwiderte ihren Blick erneut mit solcher Zuneigung, dass Alena spürte, wie die Schmetterlinge in ihrem Bauch erneut zu tanzen begannen.
Sie nahm nun die eine Hand von Stefan, hob sie an ihre Lippen und küsste sie sanft.
Ein Schauder schien den Mann dabei zu durchlaufen und er sprach: «Ich… bin ganz durcheinander. Das ist schon so, seit ich dich das erste Mal gesehen habe. Es macht wirklich den Anschein, als gäbe es einen höheren Plan, der uns auf diese Weise zusammengeführt hat.»
«Das glaube ich auch,» hauchte Alena.
Sie legte nun ihre Arme um Stefan und schmiegte sich noch näher an ihn heran. Seine kräftigen Arme umfingen sie und sie kuschelte sich ganz tief hinein. Ein wohliges und zugleich unglaublich aufregendes Gefühl, erfasste sie und dann küssten sich die beiden endlich das erste Mal richtig, aber ohne dass sie diesmal von irgendeinem Arzt oder einer Schwester gestört wurden…