Diesmal hatte er eine Packung Pralinen dabei.
Alena freute sich sehr ihn zu sehen und begrüsste ihn wohlgemut: «Hallo Stefan! Schön, dass du mich noch einmal besuchst!»
«Hallo Alena!» sprach der Mann mit fröhlicher Stimme, scheinbar erleichtert, dass sie sich so über seinen Besuch zu freuen schien. «Wie geht es dir heute so?»
«Oh eigentlich ganz gut. Leider darf ich das Bett noch nicht verlassen. Sie sagen die Entzündungswerte im Blut seien noch etwas hoch. Sie sind daran abzuklären, woher diese Entzündungsanzeichen kommen.»
Stefan rückte besorgt einen Stuhl an Alenas Bett und fragte: «Dann geht es dir also doch noch nicht wirklich gut?»
«Ach, es ist kaum der Rede wert! Ich fühle mich so gut wie schon lange nicht mehr! Danke übrigens für die Pralinen. Ich liebe diese Sorte!»
«Das freut mich. Entschuldige, wenn ich dich noch vor dem Mittagessen störe. Aber ich habe ab heute ein paar Tage Urlaub und da dachte ich, ich schaue mal vorbei, weil ich gerade in der Gegend war.»
«Das ist schön! Nein, du störst gar nicht! Mir ist sowieso immer langweilig. Ich kann kaum etwas tun, ausser essen, schlafen, lesen oder Fernsehen. Heute habe ich zudem noch etwas mit Malen angefangen. Das tut mir gut.»
«Du kannst malen? Darf ich mal sehen?» wollte Stefan interessiert wissen.
«Ach… es ist nichts Besonderes. Nur ein wenig Gekritzel.»
Alena griff nach dem Block und zeigte Stefan etwas unsicher ihre eben entstandenen Werke.
Stefan betrachtete diese voller Staunen und sprach: «Aber… die sind echt toll! So etwas könnte ich nie. Die Drachen… sie wirken so lebendig, besonders der Blauweisse. Aber auch der Schwarze ist grossartig. Er sieht etwas aus wie ein Schattendrache.»
«So etwas in der Art ist Tenebris wohl auch.»
«Tenebris?»
«Ach… das ist nur so ein Name, den ich mir für ihn ausgedacht habe.» rief die Frau schnell.
«Ich weiss nur noch nicht, was ich ihm für Augen malen soll. Ich habe… genaugenommen keinerlei Vorstellungen, wie seine Augen aussehen könnten. Zuerst dachte ich, ich male ihm irgendwelche roten Augen, aber diese Idee hat mich schliesslich nicht wirklich überzeugt.»
«Ich weiss nicht…» murmelte Stefan und betrachtete das Bild eingehend von allen Seiten. «Ich glaube rote Augen würden auch nicht passen…»
«Findest du? Aber rote Augen sind unheimlich und Tenebris… ist auch ziemlich unheimlich.» «Dennoch… da er so eine Schattengestalt ist… wären rote Augen vielleicht zu… definiert.» Alena lachte. «Du redest ja wie ein Kunstexperte!»
«Oh nein bewahre! Ich habe keinerlei Ahnung von Kunst, ehrlich gesagt. War nur so eine komische Idee.»
«So komisch finde ich die Idee eigentlich gar nicht…» sprach Alena nachdenklich und betrachtete das Bild erneut. «Ich werde noch etwas darüber nachdenken. Danke für deinen Impuls.»
Sie legte den Block erneut beiseite und Stefan fragte: «Und, wie lange musst du noch im Spital bleiben?»
«Nun, es kommt ganz darauf an, wie sich die Entzündungswerte im Blut entwickeln.»
«Bestimmt vermissen sie dich auf der Arbeit bereits.»
«Einige der Heimbewohner vielleicht, aber die meisten Mitarbeiter werden froh sein, dass ich weg bin.»
«Das kann ich mir nicht vorstellen. Es ist sicher schön mit dir zusammenzuarbeiten.»
«Ich glaube, vor allem unsere neue Heimleitung und deren Sympathisanten sehen das anders. Vermutlich werden sie mir bald kündigen. Jetzt da ich so lange krankgeschrieben bin, sowieso. Eigentlich will ich ihnen deshalb zuvorkommen.»
«Du willst kündigen?»
«Das klügste wäre es wohl. Aber es macht mir schon etwas Angst. Ich bin schon bald 40 und so einfach werde ich nichts Neues finden. Ich habe ehrlich gesagt noch keinen Plan, wie es weitergehen soll. Mein Körper und auch meine Seele signalisieren mir ganz klar, dass es eine Änderung geben muss, aber wie diese genau aussehen soll… ich weiss es wirklich nicht…» Die Frau senkte betrübt den Blick und starrte auf ihre Fingernägel.
«Erstens mal,» sprach Stefan tadelnd «bist du mit 40 noch gar nicht alt. Du findest bestimmt noch etwas. Zweitens, wenn du so klar spürst, dass es so nicht mehr weitergeht, dann ist wohl ein Ende mit Schrecken besser, als ein Schrecken ohne Ende.»
«Das sagt sich so einfach!» rief Alena verzweifelt. «Ich habe überhaupt keinen Plan!»
«Aber es wird sich bestimmt etwas Neues eröffnen,» wollte Stefan sie beschwichtigen.
«Ich kann mir nur nicht vorstellen was. Dennoch..., ich gehe daran mehr und mehr zu Grunde. Du weisst, ich hatte vor meinem Aufenthalt im Spital, chronische Schlafstörungen und jeden Morgen musste ich all meine verbliebene Kraft zusammenraufen, um dennoch zu arbeiten. Ich habe mittlerweile meine ganze Freude an diesem Job verloren. Es ist nicht die Pflege an sich, die mir zu schaffen macht. Aber das Umfeld, die unregelmässigen Arbeitszeiten. Ich komme nie zur Ruhe und bin so ausgelaugt.»
«Das klingt aber wirklich nicht gut. Wenn das weiter so geht, droht dir ein Burn Out oder noch Schlimmeres,» meinte Stefan ehrlich besorgt.
«Ich weiss, aber es geht um meine Existenz. Ich habe niemanden der mich irgendwie entlasten kann und auch keine Idee, was ich ausser der Pflege machen soll. Klar, ich habe einst eine Lehre im Detailhandel gemacht, aber wieder als Verkäuferin zu arbeiten, kann ich mir auch nicht so wirklich vorstellen. Ausserdem habe ich auch kaum Geld, um die Zeit ohne Job zu überbrücken.»
«Dann willst du also nach deinem Spitalaufenthalt doch wieder zurück an deine alte Stelle?» fragte Stefan mit gerunzelter Stirn.
«Zumindest vorläufig, wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben. Bis ich etwas Neues gefunden habe. Falls… ich etwas finde.»
«Das wirst du bestimmt. Eigentlich solltest du gar nicht mehr dorthin zurückkehren müssen. Aber ich verstehe gut, dass du auf Nummer sicher gehen willst. Es steht mir auch nicht zu, mich in deine Angelegenheiten zu mischen. Tut mir leid!»
«Schon gut,» erwiderte Alena «du hast ja auch recht nur… diese Entscheidung kann mir wohl niemand abnehmen. Aber reden wir über etwas anderes! Du sagst, du hast etwas Urlaub gerade?»
«Richtig.»
«Und du hast keine Familie, mit der du diese Freizeit verbringen willst?» tastete sich die Frau vorsichtig an.
«Nein, ich habe keine Familie. Nur eine Ex- Frau.»
«Ach so, das… tut mir leid.» Verlegenheit machte sich in Alena breit.
«Das muss dir nicht leid tun. Es ist besser so. Angelika und ich haben nicht wirklich zusammengepasst. Darum hat unsere Ehe auch nur drei Jahre gehalten. Sie störte sich öfters daran, dass ich als einfacher Lastwagenfahrer arbeitete, wollte immer, dass ich mir einen anderen Job suche. Aber ich liebe meinen Beruf nun mal.
Angelika hielt mich jedoch immer dazu an, mich weiterzubilden und eine andere, berufliche Richtung einzuschlagen. Sie fand, ich sei zu intelligent, um meine Zeit als Fahrer zu verschwenden.» Stefan lachte etwas bitter auf. «So ein Schwachsinn! Wir lagen uns deswegen oftmals in den Haaren. Schliesslich überredete sie mich dann dazu, eine zusätzliche Ausbildung zu machen, damit wir unsere eigene Speditionsfirma eröffnen konnten. Wir hätten dafür sogar das nötige Kapital zusammengebracht, da sie ziemlich gut situiert war. Doch dann merkten wir, dass es mit uns nicht funktionierte. Ich fühlte mich in den Kreisen, in denen sie verkehrte, auf Dauer nicht wohl und sie sich in meinen Kreisen auch nicht. Ausserdem gefiel es mir immer weniger, dass sie meine Lebensweise ständig in Frage stellte.
So sprach Angelika schliesslich aus, was auch mich schon länger umgetrieben hatte: Dass wir wohl doch zu verschieden sind, um weiterhin zusammen zu bleiben.
Nun die von ihr vorgeschlagen Ausbildung habe ich dann gemacht und es war sicher die richtige Entscheidung. Aber es braucht jetzt einfach etwas länger, bis ich mit meiner eigenen Firma durchstarten kann.»
«Du willst also tatsächlich eine eigen Spedition eröffnen?»
«Wenn es die Umstände zulassen, ja. Doch das selber Fahren, werde ich mir deswegen nicht nehmen lassen!» fügte er schmunzelnd hinzu.
Alena lächelte ebenfalls und irgendwie fühlte sie sich seltsam beschwingt. Stefan war also noch, oder viel mehr wieder, zu haben. Unvermittelt stieg Hitze in ihr auf und in ihrem Bauch kribbelte es auf einmal. Ihre Wangen nahmen einen rosigen Schimmer an und sie tat alles, um es vor Stefan zu verbergen. In ihrer Verlegenheit setzte sie sich an den Bettrand und sprach:
«Äh entschuldige, ich glaube ich muss kurz ins Bad!» Etwas zu schnell erhob sie sich.
«Vorsicht!» rief Stefan, als sie beinahe das Gleichgewicht verlor und verhinderte mit seinen kräftigen Armen, dass sie stürzte. «Danke…» murmelte sie und wäre am liebsten im Erdboden versunken.
Leicht schwankend ging sie dann weiter zum Bad. Warum bloss, war ihr plötzlich so schwindlig? Hing das mit ihren aufkeimenden Gefühlen zusammen? Doch gleich darauf, wurde es ihr sterbensschlecht und in diesem Moment, durchfuhr ein schrecklicher Schmerz ihren Oberbauch. Sie stöhnte auf und dann stürzte sie in eine endlose, dunkle Tiefe hinab!...