Azmaek ließ die Versammelten in einer Reihe antreten. Noch immer war die Angst fast mit Händen zu greifen. Diejenigen, die Azmaek bereits kontrolliert hatte, stellten sich als Wachen rund um die Schlange auf und sollten verhindern, dass sich jemand aus der Reihe davonstahl.
Auch Nylian war beunruhigt. Da die drei Freunde in der vordersten Reihe gestanden hatten, waren sie sehr weit vorne in der Schlange. Die grimmigen Gesichter der wenigen Wachen machten ihn trotzdem nervös. Es war unglaublich, wie schnell die Stimmung umschlagen konnte. Nun wurde jeder verdächtigt, der nicht bereits durch Azmaeks Kontrolle gegangen war.
„Was ziehst du so ein finsteres Gesicht?“, fragte Kaithryn. „Ist doch gut, wenn wir den falschen Grafen bald überführt haben.“ Sogar sie hatte sich vom Eifer anstecken lassen.
„Denkst du denn, dass es so einfach wird?“, fragte Nylian zurück. „Der Graf muss ein mächtiger Zauberer sein. Er wird sich kaum ohne Kampf ergeben.“
„Außerdem gefällt mir dieser Azmaek kein bisschen“, mischte sich auch Yodda ein.
„Warum das denn?“, fragte Kat verwundert.
„Hast du schon vergessen, was er mit dir gemacht hat? Anderen seinen Willen aufzuzwingen, das ist dunkle Magie, Kat“, beschwor Yodda sie. „Oder hat er dir gleich den Kopf gewaschen?“
„Das nicht“, erwiderte Kat zögernd. „Aber es ist doch nichts passiert.“
„Es ist trotzdem ein ganz gewaltiger Zufall“, beharrte Nylian. „Wo kommt dieser Zauberer her? Wenn er den Grafen schon länger verfolgt, warum hat er uns dann in die Falle laufen lassen? Im besten Fall benutzt er uns als Köder, und schon das würde mir nicht gefallen.“
„Und im schlimmsten Fall?“, fragte Kaithryn.
„Im schlimmsten Fall ist er selbst der Graf von Amrais.“ Nylian musste seine Stimme senken, denn sie waren fast bei dem Magier angelangt. „Und das alles hier ist Teil seines Plans!“
„Das ist verrückt!“, zischte Kat.
Nylian schüttelte leicht den Kopf, doch er wagte nicht, noch etwas zu sagen. Inzwischen wurde ein alter Zwerg direkt vor ihnen kontrolliert. Azmaek ließ den Mann auf den Hügel treten und legte ihm eine Hand mit gespreizten Fingern auf die Stirn, um seine Aura zu lesen. Der Zwerg erschauerte, dann öffnete Azmaek die Augen und winkte den Mann beiseite.
Yodda wollte als nächste gehen, doch Imras Azmaek schüttelte den Kopf. „Der Elf zuerst.“
Nylian spürte, wie sich überraschte Blicke auf ihn richteten. Was hatte das nun zu bedeuten? Hatte Azmaek seinen Verdacht etwa gehört?
Nervös trat er nach vorne und kletterte den Erdhügel hinauf. Der Weg schien ihm unendlich lang zu sein. Er spürte, dass jeder ihn beobachtete. Seine Beine waren plötzlich weich. Er versuchte, ruhig und gelassen zu wirken, aber vermutlich konnte jeder seine Angst sehen. Vor Azmaek blieb er stehen. Der Feuerelb war noch einen ganzen Kopf größer als er. Die Fingerspitzen, die der Magier auf Nylians Stirn legte, waren kühl.
Fast sofort zog der Zauberer die Hand zurück, als habe er sich verbrannt.
„Du! Ich wusste es von Anfang an“, flüsterte er und seine violetten Augen weiteten sich. Dann brüllte er: „Er ist es!“
Nylian stolperte nach hinten. Wütendes Gebrüll erklang von allen Seiten. Gehetzt blickte er sich um, sein Herz raste.
„Fangt ihn!“, rief jemand.
„Tötet ihn!“, brüllte ein anderer und ein dritter fiel ein mit: „Lasst ihn nicht zum Zaubern kommen!“
Nylian öffnete den Mund und wollte etwas sagen, irgendwas. Doch sein Kopf war wie leergefegt.
„Nein!“, schrie Kat gellend und sprang vor ihn. Sie streckte eine Hand aus und eine unkontrollierte Welle von Feuer schoss in einem Bogen hervor, verbrannte Gras und Erde und drängte die Angreifenden zurück.
„Lauf!“ Yodda stieß Nylian die Hände vor die Brust. „Lauf!“
Er wandte sich um, noch immer völlig überrumpelt von den Ereignissen. Imras Azmaek stand nicht mehr auf der Spitze des Hügels, er hatte sich mit einem Hechtsprung vor den Flammen retten müssen. Nylian rannte über die schwarze Erde und in den Wald hinein. Er drehte sich um: „Yodda! Kat!“
Die beiden Frauen liefen auf den Hügel, aber schon flogen Pfeile von allen Seiten auf sie zu. Kaithryn hob wieder die Hand, Feuer schloss die Mädchen ein.
„Lauf, Nylian!“, rief Yodda laut. „Flieh!“
Es war klar, dass sie nicht alle fliehen konnten. Kaithryn konnte die wütende Menge aufhalten, doch nicht für lange. Einen letzten Blick warf Nylian auf seine Freundinnen, dann wandte er ihnen den Rücken zu und stürmte davon, hinein in den dunklen Wald.
Erst viel später kamen die Tränen. Als er keuchend und mit Seitenstichen durch die Nacht irrte, Licht und Lärm längst hinter sich gelassen. Er wusste nichts von seinen Freundinnen, er betete stumm, dass man sie nur gefangen genommen hatte. Er wusste nur, dass er sich in Azmaek nicht getäuscht hatte. Nur die Gefahr, die von dem Grafen von Amrais ausging, hatte Nylian unterschätzt. Der Zauberer hatte gewusst, dass er enttarnt war, und war seinen Herausforderer auf die effektivste Weise losgeworden, die man sich nur vorstellen konnte. Nun hatte Nylian einen mächtigen Magier zum Feind, nicht nur stark, sondern auch mit der seltenen Gabe zur Aurasicht und wer wusste welchen anderen Talenten ausgestattet. Azmaek würde ihn jagen. Nylian wusste nicht, wie er entkommen sollte.
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Yodda sah auf ihre Handflächen und folgte der Linie darauf mit dem Blick. Sie fuhr zusammen, als Kat ein Stöhnen ausstieß.
„Bist du auch endlich wach?“, fragte sie leise.
„Wo … was zur Hölle?“, murmelte Kaithryn, die beim Aufsetzen merkte, dass ihre Hände und Füße aneinandergebunden waren. Sie sah sich suchend um und erblickte Yodda am anderen Ende des Zeltes.
Yodda lächelte schwach. „Wie geht es dir?“
„Mein Kopf brummt.“ Kat rieb sich mit beiden Händen die Stirn.
„Sie haben dich bewusstlos geschlagen“, erklärte Yodda.
Kaithryn hielt in der Bewegung inne. „Nylian! Jetzt erinnere ich mich!“
„Sie haben ihn noch nicht gefangen“, sagte Yodda ruhig. „Obwohl man ihn natürlich sucht.“
„Und wo sind wir?“
„Das hier ist unser Zelt.“ Yodda wies mit gefesselten Händen auf ihre Umgebung. „Nachdem du bewusstlos warst, habe ich mich ergeben. Es hätte auch keinen Zweck gehabt, alleine und ohne Waffe weiter zu kämpfen. Dieser Azmaek hat uns herbringen lassen.“
„Und dann?“, fragte Kat.
„Dann nichts. Es ist jetzt der nächste Tag.“
Kaithryn streckte sich leicht und bewegte die Finger. „Die Fesseln sind nicht sehr fest. Ich könnte sie ohne Probleme lösen.“
„Tu es besser nicht. Vor dem Zelt sind Wachen“, sagte Yodda. „Azmaek ist überzeugt, dass wir in bestem Wissen gehandelt haben und nichts von Nylians Verrat wussten.“
„Verrat?! Er ist unschuldig!“, rief Kat.
„Natürlich“, Yodda seufzte. „Ich gebe nur wieder, was dieser Magier gesagt hat. Er ist überzeugt, dass Nylian der Graf ist, oder jedenfalls hat er alle anderen davon überzeugt. Und ich glaube, es ist besser, wenn wir so tun, als würden wir es auch glauben.“
„Was? Das ist verrückt!“, fluchte Kat.
„Nicht so laut!“, zischte Yodda. „Die Wachen.“
„Trotzdem!“ Kaithryn senkte ihre Stimme. „Ich werde nicht so tun, als wäre mein bester Freund für das hier verantwortlich!“
„Verstehst du denn nicht?“, fragte Yodda zurück. „Nylian dachte, dass Imras Azmaek der Graf von Amrais ist. Wenig später schiebt Azmaek Nylian die Schuld zu, vermutlich hat er uns belauscht. Für uns ist das der Beweis, aber das heißt, dass Azmaek gefährlich ist. Sehr gefährlich. Wir sollten besser mitspielen und so tun, als würden wir ihm glauben. Dann haben wir vielleicht eine Chance, aus diesem Tal zu entkommen.“
Kat schwieg eine ganze Weile und dachte offenbar nach. Yodda sah, wie ihre Freundin schweigend den Kopf schüttelte.
„Mir gefällt das Ganze doch auch nicht“, versuchte sie es nochmal. „Hör zu, Kat. Dieser Azmaek hat gesagt, dass er mit uns sprechen will. Er wird sicherlich bald kommen. Überlass mir das Reden, ja? Einige der Leute da draußen wollten uns umbringen, dafür, dass wir Nylian zur Flucht verholfen haben. Azmaek hat uns gerettet, vermutlich, damit wir Nylian später in eine Falle locken können. Wir dürfen ihm nicht verraten, dass wir die Wahrheit kennen, hörst du?“
Kaithryn seufzte und nickte langsam. „Schon gut, Yodda. Ich weiß, dass du uns nur helfen willst.“
„Uns und Nylian“, berichtigte Yodda. „Azmaek muss glauben, dass wir ihn unterstützen. Ansonsten bleiben wir gefangen, und dann können wir Nylian auf keinen Fall helfen.“
Kaithryn lehnte sich zurück und gegen die Zeltplane. „Was für eine verrückte Geschichte! Und alle glauben Azmaek, Nylian hat man nicht einmal zu Wort kommen lassen.“
„Er ist eben ein Aurasichtiger“, seufzte Yodda. „Du weißt, dass sie die Aura eines jeden Lebewesens wiedererkennen können. Es gibt für niemanden außer uns einen Grund, an ihm zu zweifeln. Außerdem ist er charismatisch. Er besitzt Macht, er ist ein Anführer. Selbst du bist ihm beinahe auf den Leim gegangen.“
Kat verzog bei der Erinnerung das Gesicht. „Schon gut. Lass uns lieber überlegen, was wir jetzt tun sollen.“
„Mitspielen“, antwortete Yodda. „So tun, als würden wir Azmaek inzwischen glauben und wären erschüttert über Nylians Verrat. Und sobald wir frei sind, suchen wir ihn.“
Es dauerte noch einige Stunden, ehe Imras Azmaek zu ihnen kam. Der hochgewachsene Feuerelb schob sich durch den Eingang und schlug dann die Decke beiseite, die das Zelt in zwei Räume teilte. Yodda warf einen Blick zu Kat und Kat nickte.
Azmaek blieb stehen und registrierte mit einem Blick, dass sie beide noch ihre Fesseln trugen. Die jungen Frauen schwiegen, also seufzte der Magier schließlich. „Ich verstehe, dass ihr euren Freund beschützen wolltet.“
„Sie hätten Nylian getötet“, sagte Kaithryn düster und sah in die erloschene Asche ihres kleinen Kochfeuers. „Ich verstehe nicht, wie sein Tod uns helfen könnte!“
„Er ist derjenige, der uns hier gefangen hält“, sagte Azmaek. „Ich habe seine Aura erkannt. Ich wusste schon von Anfang an, dass er im Lager war, aber ich konnte nicht sagen, zu wem die Aura gehörte. Ich habe sie sofort wiedererkannt. Und es passt. Das Haar und die Ohren habe ich bereits einmal gesehen, wenn auch zu einer düsteren Zeit, als ich noch fürchtete, mich ihm zu offenbaren.“
Die Frauen schwiegen wieder. Yodda sah, wie Kat sich auf die Lippen biss.
„Ich kann verstehen, dass ihr überrascht wart“, sagte Azmaek mit trügerisch sanfter Stimme. „Doch ihr müsst mir glauben. Euer Freund ist der Graf von Amrais, ohne Zweifel.“
„Wir wussten es nicht“, wagte sich Yodda vorsichtig vor. „Er war die ganze Zeit bei uns. Er ist nicht einmal ein Magier!“
„Besonders mächtige Magier können ihre Fähigkeiten verbergen“, entgegnete Azmaek. Er ging ihnen gegenüber in die Hocke und sein dunkler Mantel breitete sich auf dem Boden aus wie die Schwingen eines Todesboten. Er strich sich einige dunkelrote Strähnen aus dem Gesicht. „Ich glaube euch, dass ihr es nicht wusstet. Er hätte euch schützen können, statt ohne euch zu fliehen. Stattdessen hat er euch im Stich gelassen.“
Yodda widerstand dem fast übermächtigen Verlangen, die Hände zu Fäusten zu ballen. Nun versuchte Azmaek auch noch, Nylian schlechtzureden, dabei hatte der Elf keine andere Wahl gehabt, als zu fliehen.
Azmaek beugte sich vor und durchtrennte Yoddas Fesseln mit einer einzigen, fließenden Bewegung. Das Messer bemerkte sie erst, als die Stricke auf den Boden fielen. Azmaek wandte sich Kaithryn zu, die die gezackte Waffe bemerkt hatte und zusammenzuckte.
„Ihr dürft euch frei bewegen, solange ihr im Lager bleibt“, teilte Azmaek ihnen mit. „Ich möchte nicht, dass irgendjemand die Zeltstadt verlässt, solange der Graf auf freiem Fuß ist. Ich weiß, dass ihr ihn für euren Freund haltet, aber bitte, versucht nicht, ihn zu suchen. Denkt daran, dass ihr ein anderes Lebewesen niemals vollständig kennen könnt.“ Azmaek stand auf. „Wenn ihr dieses Zelt verlasst, werden je zwei Wachen euch begleiten. Es ist zu eurer eigenen Sicherheit, viele im Lager halten euch für Mitverschwörer. Versucht nicht, die Wachen abzuschütteln oder auszutricksen.“
Die letzten Worte klangen wie eine Warnung, trotzdem war Azmaeks Blick von Mitleid geprägt, als er sich zum Gehen wandte. Wenig später waren die Freundinnen allein in dem kleinen, bunten Zelt.
Kaithryn spielte mit einer kurzen Haarsträhne. Yodda öffnete ihren Zopf und flocht ihn neu, in den letzten Stunden hatte ihre Frisur sehr gelitten. Kat erschuf Feuer und setzte Wasser auf, aber keine von beiden sprach.
Yodda wollte es auf die Angst vor den Wachen schieben, die sie sicherlich belauschen konnten. Doch ein nagender Zweifel hatte sich in ihr Herz geschlichen.
Wie gut kannte sie Nylian wirklich?
Nach Kiirions Tod war er ihr fremd geworden. Wochenlang hatte er sich im Dunkeln verborgen, wer wusste schon, was er dort getrieben hatte? Und es war in der Tat seltsam, dass ein Elf keine Magie beherrschen sollte.
Sie wollte nicht daran denken. Trotz des flackernden Feuers erschien ihr das Zelt kalt und dunkel.