Gibur Kroblis hatte die Wissenschaftler aufgeteilt. Die Mechaniker hatten sich hoch in die Berge zurückgezogen und dort scheinbar verschanzt. Die anderen Wissenschaftler hatten tiefer im Tal zwei Lager gebildet, das Lager der Heiler und das der Forscher. Gelegentlich schrien sie Obszönitäten über den Abstand zwischen ihnen oder warfen Steine, um den Schein zu wahren, doch nach Einbruch der Nacht kam es durchaus vor, dass ein Wissenschaftler im Schutz der Dunkelheit in ein anderes Lager schlich.
Heute war Gibur Kroblis persönlich im Mechanikerlager erschienen, um den Bau des Turms zu begutachten. Ohne Erklärung hatte er nach Yodda geschickt. Müde von dem Tag, der aus Hämmern und Planen bestanden hatte, musste sie aus dem Bett steigen, sich wieder anziehen und zu dem alten Zwerg laufen.
„Wie geht es voran?“, fragte Kroblis.
„Sehr gut“, meinte Yodda reserviert. Das hätte Gibur auch jeden anderen Mechaniker fragen können.
In der Dunkelheit kaum zu erkennen stand das Gerüst des Sturmturms. Es war ein hastig zusammengenageltes Rechteck grober Bretter, doch es würde seinen Zweck erfüllen. Nun fehlte noch ein stabiler Kran, an dem mit Eisenketten ein Rammbock hing.
Kroblis sah in Richtung des Gerüsts und nickte nachdenklich.
„Wird es funktionieren?“, fragte Yodda leise. „Ich meine die Täuschung – wird der Graf wirklich glauben, dass wir gegeneinander kämpfen?“
„Sag du es mir“, knurrte Kroblis und bedachte sie mit einem düsteren Blick. „Denkst du, ich hätte vergessen, dass du es warst, die ihm die Flucht ermöglicht hat?“
„Aber … Nylian ist unschuldig!“, stammelte Yodda.
Gibur Kroblis hob die buschigen Augenbrauen. „Dieser Azmaek hat dir ja vielleicht vertraut, aber das heißt noch lange nicht, dass ich ihm glaube.“
„Und das solltet Ihr auch nicht.“ Yodda machte einen Schritt auf Kroblis zu. „Er hat Nylian angeschwärzt, denn er hatte als erster erkannt, wer Azmaek wirklich ist! Azmaek ist der Graf von Amrais, nicht Nylian!“
Gibur lachte trocken. „Meine Drohung steht noch. Wenn du versuchst, einen Keil zwischen uns Überlebende zu treiben, muss ich dich töten!“
Yodda öffnete den Mund und klappte ihn dann wieder zu. Resigniert erkannte sie, dass nichts, was sie sagen würde, Kroblis überzeugen konnte. Sie seufzte und sah zu dem Sturmturm. Wenn der einmal gebaut und sie frei waren, würde sich hoffentlich alles klären. Sie musste nur hoffen, dass Nylian durchhielt, bis der Berg durchbrochen war.
„Ich wollte nur sagen … woher wissen wir, dass der Graf keine Spione unter uns hat?“, fragte sie leise und sah Kroblis an. „Sie werden ihm berichten, dass der ganze Konflikt nur eine Farce ist.“
„Du spielst mit dem Feuer, Kind“, drohte Kroblis. „Aber dein Einwand ist berechtigt. Deswegen habe ich ein Auge auf dich. Es wäre besser, wenn du nicht alleine aus dem Lager gehen würdest.“
Yodda ließ die Schultern hängen. „Wenn du mir nicht vertraust, warum bin ich dann noch hier?“
„Dummerweise brauchen wir dich“, sagte Kroblis. „Ich kenne diesen Teil der Berge nicht und muss mich auf deinen Bericht verlassen.“
„Ich könnte dich belügen“, sagte Yodda bitter.
„Deswegen wollte ich dich sprechen: Wenn ich herausfinde, dass wir den Berg hier nicht durchbrechen können, wirst du dafür zahlen.“
Yodda sah auf. Kroblis meinte seine Drohung ernst, das konnte sie sehen. „Hier ist wirklich ein Pass!“, beteuerte sie.
Kroblis hob eine Hand, um sie zu unterbrechen. „Wir werden es sehen.“
Yodda senkte den Kopf und seufzte. „Willst du sonst noch etwas?“
„Nein, ich wollte nur mit dir reden.“ Kroblis klang seltsam zufrieden, als hätte er mehr erfahren, als Yodda preisgegeben hatte. Sie war nicht für dieses verbale Katz-und-Maus-Spiel geschaffen. Das Gefühl, mehr als einen schlimmen Fehler begangen zu haben, ließ sich nicht abschütteln.
Kroblis deutete eine Verbeugung an und wandte sich zum Gehen. „Die Arbeiten gehen gut voran. Das freut mich.“
~ ⁂ ~
Die Zeltbahnen flatterten unheilvoll im Wind. Kaithryn klopfte gegen den Stoff.
„Azmaek?“
Das Leinen im Eingang wurde zurückgeschlagen und er stand vor ihr. „Kaithryn.“
„Ich habe nachgedacht.“ Hoffentlich verriet ihre Stimme nicht, was in ihr vorging, die Angst und das überwältigende Bedürfnis, sich zu übergeben. „Über das, was wir am Mittag besprochen haben.“
Er warf einen Blick an ihr vorbei auf das nächtliche Lager. „Willst du nicht reinkommen?“
Natürlich. Er wollte nicht, dass jemand anderes ihr Gespräch mitanhörte.
Im Inneren war der Wind weniger schneidend, doch es blieb kalt. Eine Öllampe verbreitete gelbliches Licht.
„Ich helfe dir“, sagte Kat. Die furchtbaren Worte ließen sich so leicht aussprechen!
Azmaek lächelte. „Ich habe dich überzeugen können?“
„Ich will Antworten. Und ich will so Viele wie möglich lebend aus diesem Tal herausbringen.“ Kat hielt sich aufrecht und steif. Als Kind hatte sie eine Kriegerin werden wollen und viel trainiert, sie konnte soldatisch strammstehen und sich keine Gefühlsregung anmerken lassen. Hätte sie kein magisches Talent besessen, dann wäre sie jetzt in einem anderen Lager.
„Das will ich auch“, bestätigte Azmaek. Er bewegte sich schnell und tänzelnd und hielt plötzlich ihr Schwert in der Hand. Kat hätte beinahe geschrien.
„Du wirst meine rechte Hand sein“, sagte Azmaek. „Knie nieder.“
Kat gehorchte. Das Schwert berührte ihre Schulter, erst links, dann rechts. Die Klinge verweilte dort. „Gemeinsam, Kaithryn, können wir alle retten.“
„Ja“, sagte sie leise. Ihre Hände zitterten, sie ballte sie zu Fäusten.
„Steh auf.“ Sie bekam das Schwert zurück. Azmaeks Augen glühten unheilvoll. „Ich muss wissen, was aus dem Amulett deines Meisters geworden ist.“
„Ich … ich denke, er hatte es noch, als er starb“, log Kat.
Azmaek seufzte. „Dann ist es im Osten, wo das Lager der Wissenschaftler liegt?“
„Vermutlich.“ Kats Mund fühlte sich trocken an.
Azmaek nickte. „Dann steht unser Ziel fest.“
~ ⁂ ~
„Ruhig, Aidalos“, flüsterte Nylian.
Der Hengst schien zu verstehen. Stocksteif blieb das helle Tier inne, nur seine Mähne bewegte sich im Wind.
Leise, aber deutlich klang das Heulen der Wölfe aus der Ferne an seine Ohren. Sie waren überall. Nylian hatte seine ganze Kunst aufwenden müssen, um ihnen zu entgehen. Viele wache Nächte hindurch hatte er ihrem Lied gelauscht und sich gewundert. Es klang nicht nach dem üblichen Jagdlied der Wölfe. Was ging in diesem Tal nur vor sich?
In dem Versuch, den Werwölfen aus dem Weg zu gehen, war er weit in den Norden gekommen. Schließlich hatte er eine Zeltstadt bemerkt, die auf einem Plateau lag, gut geschützt durch die steil abfallenden Klippen auf der einen und den steil aufragenden Berghängen auf der anderen Seite. Es gab nur einen Weg ins Lager, einen gewundenen Pfad, der sich rings um den Steilhang nach oben wand.
Als sich nichts rührte, schnalzte Nylian mit der Zunge und der Hengst ging leise weiter. Sie waren auf halber Höhe des Pfads. Die weißen Zeltspitzen kamen langsam über den Rand der Klippe in Sicht.
Es war tiefste Nacht, doch selbst der Schutz der Dunkelheit erschien Nylian nicht ausreichend. Langsam schlich Aidalos nach oben, setzte die Hufe behutsam auf, um kein Geräusch zu erzeugen.
„Halt! Wer ist da?“
Die Stimme kam von unten, ansonsten hätte Nylian sofort gewendet und wäre zurück in die Ebene galoppiert. So jedoch blieb ihm nichts anderes übrig, als auf den Besitzer der Stimme zu warten. Eilige Schritte klangen von unten herauf, dann kam ein Mann angerannt, ein Mensch mit einer großen Axt auf dem Rücken und einer Fackel in der Hand. Entweder er hatte sich in einer Felsspalte verborgen, die Nylian übersehen hatte, oder war erst nach ihm den Pfad hinaufgerannt.
„Wer bist du?“
Nylian hob beide Hände. „Ich will nichts Böses!“
Der Fremde hob die Fackel, die nun ihre beiden Gesichter beleuchtete. Das Gesicht des Fremden war dunkel, mit fettigen, schwarzen Haaren und alten Narben, ein Stück der Nase fehlte, als ob es jemand herausgebissen hätte. Die hellgrünen Augen des Fremden weiteten sich, als er Nylian erkannte.
„Du! Du bist doch der, den sie weggejagt haben!“
Aidalos schnaubte. Nylian spannte die Beine an, um sein Pferd zum Galopp zu treiben, sobald er eine Lücke erspähte. Es war ein Fehler gewesen, in das Lager zu reiten, denn er hörte bereits Stimmen hinter sich. Warum musste er bloß immer so neugierig sein?
„Ich will keinen Kampf“, sagte er leise. „Ich suche meine Freundinnen. Kaithryn und Yodda. Sag mir, ob sie hier sind, dann bin ich sofort verschwunden.“
„Du gehst nirgendwo hin.“ Der Fremde senkte die Fackel. „Niemand verlässt das Plateau, außer, er will sterben. Die Wölfe sind überall, sie zerfetzen jeden, den sie außerhalb der Lager finden.“
Nylian ließ vorsichtig die Hände sinken. Misstrauen und Wut waren aus der Stimme des Mannes gewichen.
„Du bist ein Krieger, nicht wahr?“, fragte der Fremde.
Nylian nickte. „Bogenschütze.“
„Dann bist du hier richtig. Ich bin Marik.“
„Nylian.“
„Komm, Nylian. Steig ab. Ich bringe dich zu Barren, er ist unser Anführer.“
„Aber …“ Nylian rührte sich noch nicht.
„Du brauchst keine Angst haben, Junge. Ich glaube nicht, dass du der Graf bist. Wärst du es, würde ich jetzt nicht mehr leben, oder?“
Nylian schluckte und ließ sich aus dem Sattel gleiten. Nach so vielen Tagen auf der Flucht war es beunruhigend, wie leicht er akzeptiert wurde. Was war nur in der Zwischenzeit geschehen?