Der erste Weg, den sie einschlugen, führte sie zurück zum Lager der Magier und der Wissenschaftler. Nylian sah sich wachsam um, denn er hoffte, Aidalos zu entdecken. Der Hengst blieb nach seiner panischen Flucht jedoch verschwunden und reagierte auch nicht auf Nylians halblaute Rufe.
Das hastig errichtete Lager der Magier befand sich auf einem Grasstreifen zu Füßen der Berge. Allein die verkohlten Reste eines großen Zeltes wiesen ihnen den Weg, andere Spuren konnten sie erst aus der Nähe entdecken. Nylian hob einen Ärmel vor den Mund, um den Gestank der verbrannten Leichen nicht riechen zu müssen. Der Anblick erinnerte an das, was von der ursprünglichen Zeltstadt übriggeblieben war. Niemand rührte sich. Nylian vermied es, die Toten anzusehen.
Schweigend kehrten sie dem Schlachtplatz den Rücken und stiegen die Berge hinauf zum zweiten Lager. Der mächtige Sturmturm, von dem Yodda ihm erzählt hatte, war einem Feuer zum Opfer gefallen. Nur Trümmer türmten sich an einer Felswand auf.
„Da geht dieser Fluchtplan dahin“, murmelte Azmaek.
Auch hier erwartete sie ein Bild des Todes. Wissenschaftler waren vom Feuer verbrannt oder in tödlichem Zweikampf verknotet ausgeblutet. Es gab kein Lebenszeichen und keine Spur möglicher Überlebenden. Zum Glück auch keine Spur von Yodda oder Aoi.
„Sie sind vermutlich bereits in den Bergen und haben dich verpasst“, riet Kaithryn.
„Dann ist das Schloss von Amrais unser nächstes Ziel“, murmelte Azmaek düster. „Es wird Zeit, dass wir uns dem Grafen stellen und hinter das Geheimnis dieser vielen Rätsel kommen. Ich werde auch nach der Aura eurer Freundin Ausschau halten.“
Nylian schwieg. Er machte sich Sorgen um Yodda. Falls sie das Schloss erreicht hatte, so war sie in größerer Gefahr, als sie ahnte.
Er blieb wie angewurzelt stehen: „Kat! Ich habe ganz vergessen, es dir zu sagen!“
Seine Freundin drehte sich um.
„Colum lebt! Ich dachte, er wäre in der Zeltstadt gestorben, doch er hat es ins Schloss von Amrais geschafft. Ich war bei ihm. Dann ging ich kurz nach draußen, um nach Aidalos zu sehen. In diesem Moment griffen Vampire an, oder jedenfalls waren hunderte von ihnen auf dem Dach. Ich – ich habe ihn zurückgelassen.“
„Von wem redet ihr?“, fragte Azmaek.
„Colum war Yoddas Lehrmeister. Ein Zentaur mit dem Körper eines Stieres.“
„Ich erinnere mich“, sagte Azmaek bedächtig. „Doch wenn er von Vampiren angegriffen wurde, dann solltet ihr euch keine großen Hoffnungen machen.“
„Das war das Seltsame“, berichtete Nylian. „Sie saßen nur auf dem Dach und rührten sich kaum. Einer hat weit oben ein Fenster eingeschlagen, daraufhin bin ich geflohen. Falls sie mich bemerkt haben, sind sie mir nicht gefolgt.“
„Ich schließe daraus, dass dein Freund sich im Erdgeschoss befand und es dort weitere Fenster gab“, riet Azmaek.
Nylian nickte. „Sie hätten doch alle auf einmal angegriffen!“
„Du hast recht, das ist seltsam. Es sei denn, dass Colum der Graf von Amrais ist.“
„Unmöglich, er ist gemeinsam mit uns angekommen!“, protestierte Nylian.
„Inzwischen solltet ihr dieses Wort nicht mehr in den Mund nehmen. Das Unmögliche wird gerade Wahrheit“, wies Azmaek ihn zurecht. „Die Berge haben sich erst nach eurer Ankunft geschlossen, also ist es durchaus möglich. Wie hätte ich dich sonst für so lange Zeit für den Grafen halten können?“
Nylian senkte den Blick.
„Er war so lange weg“, sagte Kat.
Nylian sa auf und runzelte fragend die Stirn.
„In der Nacht im Wail, als die Wölfe geheult haben“, erklärte Kat. „Und dann, im Gebirge, hatte er sich verletzt. Seinetwegen haben wir den Pass erst nach Einbruch der Dunkelheit erreicht, wo die Vampire …“ Sie atmete zitternd ein. Ihr Blick wurde kalt, als sie offenbar an ihren Meister dachte.
Sie standen noch immer auf dem zerstörten Platz, wo einst die drei kleineren Lager der Wissenschaftler gewesen waren. Ein kalter Windzug fuhr über die Steine, trieb Asche vor sich her und ließ die Zeltbahnen flattern. Kat verschränkte fröstelnd die Arme vor der Brust. „Lasst uns gehen. Ich fühle mich, als würden die Geister der Toten hier umgehen!“
„Durchaus möglich“, murmelte Azmaek mit einem abschätzigen Blick zum grau verhangenen Mittagshimmel. „Diese Nacht ist Vollmond.“
„Das wollte ich nun wirklich nicht hören!“, jammerte Kat.
~ ⁑ ~
Auf halbem Weg zurück ins Tal sprang Nylian plötzlich vorwärts. „Aidalos?“
Erschreckt hob Kat den Kopf und entdeckte den Hengst, der unter ihnen durch die Wiesen streifte und, wie es schien, ausgiebig und sorglos graste.
„Warte!“, rief Azmaek, doch Nylian war bereits außer Hörweite. Die beiden Magier beobachteten, wie der Elf auf sein Pferd zulief, worauf Aidalos den Kopf hob und davontrottete, um weitergrasen zu können. Eine Weile standen Kat und Azmaek einfach nur da und gaben sich Mühe, über Nylians vergebliche Einfangversuche nicht zu lachen.
„Ich hätte sein Pferd mit einem Fingerschnippsen einfangen können, wenn er es nicht verschreckt hätte“, brummte Azmaek.
„Lass ihm den Spaß.“ Kat lächelte selig. „Er hat Aidalos von Fohlen an verzogen, die beiden kennen das Spiel. Wenn Nylian wirklich wollte, säße er längst im Sattel.“
Sie schlenderten langsam weiter, als Nylian endlich Erfolg hatte und sich auf Aidalos' Rücken schwang. Glücklich trabte er zu ihnen zurück.
„Er ist ein kluges Pferd und hat auf mich gewartet.“ Nylian lächelte stolz.
„Du könntest ihm trotzdem etwas Ruhe gönnen, denn er kann nicht uns drei tragen“, rief Kat ihm in Erinnerung. „Und ich werde sicher nicht den ganzen Weg neben Mister Plötzlicher Trab herlaufen!“
Nylian lachte und rutschte vom Pferderücken, während er Aidalos den Hals tätschelte. „Es ist immerhin beruhigend, dass wir ein Reittier haben.“
„Wenn es zum Kampf kommt, wird uns ein Pferd wenig helfen“, warf Azmaek ein und fixierte seine beiden Begleiter mit festem Blick. „Der Graf von Amrais, wer auch immer es nun ist, ist höchst gefährlich. Wir werden ihm entgegentreten müssen, aber selbst mit den beiden Amuletten, die ich habe, kann ich nicht garantieren, dass ich ihn besiegen werde. Wir müssen aber versuchen, ihn zu überwältigen. Ich denke, seine Vampire und Wölfe werden das ganze Tal nach Überlebenden absuchen und uns töten wollen.“
„Im Grunde müsste er wenigstens zwei von uns gehen lassen. Nylian als besten Krieger und einen von uns als Magier!“
„Kaithryn?“ Azmaek seufzte. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass der Graf Wort halten wird.“
„Nicht?“ Kat tat überrascht.
Sie stiegen die Berge hinauf, dort, wo Kat und Nylian sich endlich wiedergetroffen hatten, wenn auch unter verrückteren Umständen, als sie beide sich hätten ausmalen können. Azmaek redete fast ununterbrochen und besprach mit ihnen Pläne, um den Grafen zu besiegen. Er wusste, dass der Graf von Amrais ein mächtiges Amulett hatte, denn dieses konnte er schon aus einiger Entfernung fühlen. Selbst Kat verspürte bald ein nervöses Kribbeln in der Luft und konnte ihre Angst nicht länger unterdrücken.
„Wir müssen ihm das Amulett abnehmen, wenn wir eine Chance haben wollen“, schärfte Azmaek ihnen ein. „Noch besser wäre es, wenn ihr mir das Amulett gebt. Ich weiß, du kannst zaubern, Kat“, er unterbrach sie, noch ehe sie den Mund ganz geöffnet hatte, „doch du hast keine Erfahrung im Kampf gegen andere Magier. Noch weißt du, wie man ein Amulett nutzt. So wird es nur ein schicker Ballast sein, der dich vor Magie schützt. Lieber wäre es mir, wenn ihr euch so weit wie möglich zurückhaltet. Ein Kampf unter Magiern ist keine schöne Angelegenheit, und ich kann auf Unbeteiligte keine Rücksicht nehmen. Sorgt für Ablenkung oder tut etwas anderes, das getan werden muss, aber haltet euch lieber aus dem Kampf heraus.“
Kat gefiel die Aussicht nicht. Sie war eine Kämpferin, sie versteckte sich nicht.
„Da kommt etwas!“, warnte Nylian.
Kat zückte ihr Schwert, Azmaek schob die Ärmel hoch. Ein dunkler Schatten kam ihnen auf dem gewundenen Pfad entgegen, den sie zum Schloss nahmen. Kat atmete erleichtert auf, als sie den Schatten erkannte: Ein dürres Kind in viel zu weiter Kleidung und mit großen, krausen Locken. Wenn man wusste, wonach man suchen musste, konnte man sogar die braunen Katzenohren erkennen, die sich zwischen den Locken verbargen.
„Aoi!“, rief sie erfreut und das Mädchen stürmte direkt in ihre Arme. Es zitterte, doch auf dem Pfad hinter ihr war keine Gefahr zu erkennen.
„Kat!“, piepste Aoi aufgeregt. „Ihr müsst umkehren! In dem Schloss da sind böse Menschen!“
„Das hast du mir schon einmal gesagt und du hattest dich getäuscht.“
Aoi hob den Kopf und folgte Kats Blick zu Azmaek. „Nein, hab ich nicht. Er ist doof. Aber da oben sind zwei ganz böse!“
„Zwei?“, fragte Nylian.
„Aoi, du musst mir alles erzählen. Der Reihe nach“, beschwor Kat das kleine Mädchen.
Stammelnd begann Aoi ihren Bericht. „Ich hab Yodda gefunden, aber dann war da er.“ Sie deutete auf Azmaek. „Da bin ich weggerannt und wollte ihn finden.“ Der Finger schwenkte zu Nylian herum. „Damit er Yodda hilft! Aber ich hab ihn nicht gefunden, weil sein Geruch schon so alt war. Ich bin in dieses Schloss gekommen, aber …“ Hier schüttelte sie sich und weigerte sich, weiter zu sprechen. Mit einem Seufzen ging Kat vor ihr in die Knie. „Wir gehen zu dem Schloss, Aoi. Da drin ist derjenige, der die Berge verschoben hat. Wir wollen ihn töten und frei sein.“
Mit feuchten Augen sah Aoi zu ihr auf. „Aber … aber er ist böse! Ich hab ihn reden hören! Er ist verrückt!“
„Deswegen müssen wir alles wissen, was du uns sagen kannst, meine Kleine“, sagte Kat. „Dann kann der Verrückte dir nichts mehr tun.“
Aoi zog schniefend die Nase hoch und nickte. „Also gut. Es sind zwei da oben.“
„War einer davon ein Zentaur?“, unterbrach Nylian nervös.
Aoi schüttelte den Kopf. „Ich habe sie nicht gesehen, nur gehört. Sie haben viel geredet. Der eine hat neue … Imfommationen gehabt und was gesagt davon, dass sich alle gegenseitig töten werden, weil er Dämonen geschickt hat. Er hat auch gesagt, dass die Dämonen froh sein werden, weil sie so viel Essen bekommen. Und dass sie dankbar sein werden.“
„Er will die Dämonen mit Blutopfern an sich binden!“, flüsterte Azmaek.
„U-und dann haben sie von einem Limbo oder so geredet. Sie können sie bald aufmachen.“
Azmaek zog scharf die Luft ein. „Eine Limbo-Truhe??“
Aoi sah auf und nickte.
„Was ist das?“, fragte Kat und stand auf. „Azmaek? Was habt Ihr?“
Der Magier war blass geworden, seine Haut erschien nahezu orange. „Eine Limbo-Truhe ist ein uraltes Relikt. Früher, in den dunklen Zeiten, wurden Dämonen in diese Kisten gesperrt und diese mit Siegeln verschlossen. Sie enthalten ganze Schwärme von Dämonen. Aber eigentlich wurden sie alle im Meer versenkt oder vergraben!“
„Das heißt … wenn der Graf eine solche Kiste gefunden hat … und mit Dämonen gemeinsame Sache macht …“
„Es geht ihm nicht um einen dummen Wettkampf“, zischte Azmaek. „Er will die Herrschaft über die Welt!“