Das weiße Zelt war geräumig und deutlich luxuriöser als das Zelt, das Kat mit ihren Freunden bewohnt hatte. Innen gab es einen rechteckigen Platz von der Größe eines richtigen Raumes. Das Klappbett, ein kleines, weißes Tischchen, eine große Holztruhe und ein Studiertisch samt Stuhl fanden hierin Platz. Aoi lümmelte auf dem großen Holzstuhl vor dem Studiertisch herum und spielte mit den Schubladen des Eichentisches, während Kat ihre Kleidung von dem Beistelltischchen auflas und anzog.
„Wer ist Azmaek?“, fragte Aoi.
„Er ist ein Magier. Terrakottafarbene Haut, blutrote Haare.“ Kat streifte den Harnisch über und begrüßte das vertraute Gewicht auf ihren Schultern. Es verlieh ihr Sicherheit. „Ich denke, es ist der Mann, von dem du gesprochen hast. Er ist ein Feuerelb.“
„Er hatte spitze Ohren“, sinnierte Aoi. „Aber ich weiß nicht, ob er ein Elf oder ein Elb ist.“
„Der Unterschied ist ja auch mehr philosophisch“, murmelte Kat.
„Was?“
„Nicht so wichtig. Was kannst du mir noch über das Lager sagen?“ Kat gürtete das Schwert.
„Frag doch gleich mich!“, sagte eine spöttische Stimme. Der Zeltstoff im Eingang wurde zurückgeschlagen und herein kam die große, rötlich-dunkle Gestalt von Azmaek. Kat konnte einen kleinen Aufschrei nicht unterdrücken.
Der Feuerelb lächelte schmallippig. „Schön, dass du schon wieder auf den Beinen bist.“
Kat starrte den Elb einen Moment sprachlos an. Sie musste an Nylian denken, der vor genau diesem Lächeln hatte fliehen müssen.
„Man betritt das Zelt einer Dame nicht, ohne vorher zu fragen!“, fauchte sie, als sie ihre Worte wiederfand.
Azmaek lachte leise. „Ich entschuldige mich dafür natürlich. Aber du bist alles, nur keine Dame, Kaithryn, das wissen wir beide. Was einer deiner besten Charakterzüge ist. Und ich wusste auch, dass ich nicht ungelegen komme.“
Das überlegene Funkeln in den dunklen Augen des Magiers weckte Kaithryns Wut. Doch sie schluckte sie herunter.
„Da du fertig bist, was hältst du davon, wenn ich dir das Lager zeige – immerhin ist es deine neue Heimat“, bot Azmaek an.
Kat stimmte nur zu gerne zu. Wenn sie flüchten wollte – und das war ihr vorläufiger Plan – musste sie mehr über das Lager erfahren. Für Azmaek verbannte sie diese Gedanken jedoch in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins. Sie war sich sicher, dass sie es wüsste, wenn er ihre Gedanken las – und dann hätte sie keine Chance, etwas von ihrer Verwirrung und Angst vor ihm zu verbergen – aber auch in der Aura hinterließen solche Absichten Echos, die Azmaek nicht sehen durfte. Kat hatte keine Erfahrung mit Aurasichtigen, doch es hieß, dass sie die offensichtlichen Absichten sehen konnten, ohne ihre Macht anzuwenden.
„Möchtest du auch mitkommen?“, wandte sich Azmaek freundlich an Aoi, aber das Mädchen schüttelte stumm den Kopf. Der Magier zuckte die Achseln und hielt den Zelteingang für Kaithryn auf.
Draußen schien die Sonne warm und erstaunlich kräftig. Das Lager der Magier bestand aus wenigen weißen Zelten, die mit großen Abständen einen Kreis um den Kampfplatz bildeten: Eine von einem Holzzaun eingerahmte Ebene aus Sand. Es waren zwanzig Zelte. Azmaeks Zelt stand dabei direkt neben dem Trampelpfad, die aus dem Ring herausführte, wie ein Wachhund, der am Tor eines Hofes lag. Diesem Zelt gegenüber befand sich ein größeres Zelt, in dem Strohpuppen und Zielscheiben gelagert wurden, wohl noch Vorräte, die Haikalos angeschafft hatte, aus der Zeit, bevor die Berge verrückt waren. Das Zelt daneben war die Vorratskammer und davor gab es ein großes Kochfeuer, das auch jetzt schon betrieben wurde. Es ging auf den Mittag zu.
„Du bist sicherlich hungrig“, sagte Azmaek und dirigierte Kat, ohne ihre Antwort abzuwarten, zu den langen Holztischen mit dazugehörenden Bänken, die in vier Reihen vor dem Kochzelt standen. Auch die anderen Magier fanden sich hier gerade ein. Kat war überrascht, wie wenige hier waren: Sie, Azmaek und Aoi mitgezählt bestand das Lager aus 13 Personen. Die meisten waren, nicht weiter verwunderlich, Elfen und Elben. Ein Zwergenwunderheiler saß für sich alleine am Ende eines Tisches.
„Was ist mit ihm?“, fragte Kat an Azmaek gewandt, die einen neuen Verbündeten erhoffte. „Ein Hochstapler?“
„Keineswegs. Nach allem, was ich hörte, ist er sehr erfolgreich. Sein Name ist Crayden Knurds. Er sitzt alleine, weil er glaubt, im falschen Lager zu sein – er ist Alchemist und behauptet, nichts mit Magie am Hut zu haben.“
„Und du glaubst ihm nicht?“, fragte Kat, während ein Elf eine Schüssel mit Suppe vor sie stellte.
Azmaek schüttelte den Kopf. „Er ist Magier, doch er weiß es selbst nicht. Seine Heiltränke funktionieren deshalb so gut, weil er sie mit einer Menge subtiler Magie füttert. Es steckt Magie in dem Prozess der Herstellung, die er selbst nicht sehen kann. Er ist ein wilder Magier.“
Kat hob beide Augenbrauen. „Wie widersteht er dem Sog? Und er ist als Wissenschaftler hergekommen?“
„In der Tat.“ Azmaek lehnte sich zurück, denn in diesem Moment verteilte eine junge Elfe Schüsseln mit dampfender Suppe. „Ein bemerkenswerter Fall. Die Konzentration bei der Herstellung der Tränke muss den Sog neutralisieren. Die Werwölfe müssen seine Kraft natürlich gewittert haben und trieben ihn hierher. Nun hat er Angst, dass wir ihn töten, weil er seine Magie natürlich nicht im Kampf nutzen kann.“
Kat, die schon den Löffel in die Suppe hatte tauchen wollen, sah wieder auf. „Werden wir das tun? Ihn töten?“
„Wenn es nach mir geht, nicht.“ Azmaek lächelte. Das Lächeln von jemandem, der sich keine Sorgen machen musste, selbst wenn sich alle Magier hier gegen ihn wenden würden. Er war mächtig. „Ich will die Magier dazu bringen, zusammen zu arbeiten. Wir müssen den Grafen von Amrais finden und ihn zwingen, uns freizulassen.“ Sein Gesicht wurde ernst. „Ich weiß, dass du ihn für deinen Freund hältst. Deswegen wollte ich mit dir reden.“
Kat legte den Löffel ab und lehnte sich zurück. Plötzlich hatte sie das Gefühl, nie wieder einen Bissen essen zu können.
„Ich will ihn töten“, offenbarte Azmaek. „Er ist gefährlich, gefährlicher, als du glaubst. Ich weiß, dass dir das nicht behagt. Hätte ich gewusst, wie hinterlistig der Graf ist, wäre ich anders vorgegangen.“ Der Feuerelb seufzte. „Vielleicht gibt es einen anderen Weg. Eine friedliche Lösung. Vielleicht muss der Graf nicht sterben. Du könntest mir helfen.“
Kat rührte sich nicht. Die anderen Magier um sie herum redeten leise und löffelten ihre Suppe. Azmaek bedachte sie mit seinem intelligenten Blick. „Ich könnte uns nicht nur befreien, ich könnte dir auch Antworten verschaffen.“
Um nicht antworten zu müssen, nahm Kaithryn einen Löffel von ihrer Suppe. Sie glaubte Azmaek nicht, kein einziges Wort. Er wollte sie für seinen Krieg gegen Nylian, ihren besten Freund, rekrutieren, dem er mit falschen Anschuldigungen den Schwarzen Peter des Grafen zugeschoben hatte. Aber blieb ihr eine andere Wahl, als zuzustimmen?
„Wie könnte ich dir helfen?“, fragte sie und wich Azmaeks Blick aus.
„Nun, zuerst einmal bist du eine mächtige Magierin.“ Azmaek sprach mit versilberter Zunge. „Und dann kennst du deinen Freund recht gut, dieses Wissen könnte uns sehr nützen. Doch am wichtigsten: Yrsa Cirdrim war dein Meister, nicht wahr?“
Diese Frage überraschte Kat.
„Ja, war er“, stammelte sie.
„Was ist aus seinem Amulett geworden?“
„A-Amulett?“ Mit einiger Mühe widerstand sie dem Drang, zu ihrer Brusttasche zu greifen. Cirdrims Amulett hatte sie in einer verborgenen, eingenähten Tasche verstaut, aber nachdem sie ihre Kleidung wieder angezogen hatte, hatte sie sich nicht vergewissert, dass es noch dort war. Einen Moment schämte sie sich, wie leicht sie den Tod ihres Meisters hatte vergessen können. Und wie leichtfertig sie mit seinem letzten Geschenk umging.
„Hatte er es bei sich, als er starb?“, fragte Azmaek. „Ich muss es wissen. Dieses Amulett könnte der Weg sein, den Grafen von Amrais zu überwältigen.“
Darum ging es Azmaek also! Er wollte Cirdrims Macht. Kat wurde noch immer nicht schlau aus dem doppelten Spiel, das der Auraleser mit ihr und den Wettkämpfern spielte, doch sie kannte nun wenigstens Azmaeks Motivation. Macht. Dafür hatten die vielen Erdvölker sterben müssen.
Die Übelkeit überschwemmte sie wie eine Sturmflut. Sie ließ den Löffel fallen und sprang auf, es kostete sie alle Willenskraft, das bisschen Suppe, das sie bisher gegessen hatte, nicht wieder in den Teller zu spucken.
„Ich muss … weg“, stammelte sie.
„Ist alles in Ordnung, Kaithryn?“, fragte Azmaek besorgt. Sie schüttelte den Kopf, nickte, dann stolperte sie weg vom Tisch. Sie drehte sich um und rannte zurück zu ihrem Zelt. Im Rennen tastete sie nach dem Amulett, zu ihrer Erleichterung war es noch an seinem Platz. Ihre Gedanken rasten. Sie hatte das Gefühl, dass der Boden unter ihr schwankte.
Keuchend rettete sie sich in ihr Zelt und warf sich auf das Bett, um durchzuatmen. Sie hörte nichts von draußen. Offenbar folgte Azmaek ihr nicht.
Im nächsten Moment fuhr Kat wieder hoch und sah sich um.
„Aoi?“ Das Mädchen war nicht im Zelt. Kat griff nochmals nach dem Amulett und hatte das Gefühl, dass ein Stromstoß sie in die Höhe katapultierte. „Aoi!“
Sie rannte nach draußen und rief den Namen des Kindes. Keine Antwort. Im ganzen Lager war keine Spur ihrer jungen Freundin zu sehen. In Panik lief Kat in das Nachbarzelt, das genauso eingerichtet war wie ihr eigenes. Auch hier war Aoi nicht.
Im dritten Zelt, in das sie eindrang, sah ein Elf missmutig auf. „Was willst du hier?“
„Ist … ist hier ein Mädchen? Ein Kind?“, stammelte Kaithryn.
Der Elf schüttelte den Kopf und musterte sie kritisch von Kopf bis Fuß. „Bist du nicht im falschen Lager?“
„Sie ist vielleicht acht Jahre alt, braune Locken, zwei verschiedenfarbige Augen! Bitte!“
„Nein, tut mir leid.“ Der Elf wirkte mehr genervt als besorgt.
Als sie nach dem Mittagessen in ihre Zelte zurückkehrten, befragte Kat ihre Nachbarn. Den Elfen musste es äußerst peinlich sein, wie aufgelöst Kat war, doch die meisten antworteten kühl und distanziert. Nein, niemand habe ein kleines Mädchen gesehen. Auch keine Achtjährige. Wirklich nicht.
Niedergeschlagen kehrte Kat in ihr Zelt zurück. War Aoi weggelaufen? Aber in dem Fall hätte sie die Wölfe hören müssen, die heulend die Verfolgung aufnahmen. Überhaupt, jemand hätte Aoi sehen müssen. Außer, sie wollten nichts sehen oder waren am Ende mit beteiligt gewesen.
Nein, es gab nur eine mögliche Antwort: Azmaek hatte Aoi entführt, um Kaithryn zu zwingen, ihm zu helfen. Hoffentlich war es noch nicht zu spät, das Mädchen zu retten!