Der Unbekannte, der das Gesicht Izcun Javats genutzt hatte, um Yoddaelda Hwemmnur einige wichtige Informationen zu entlocken, hielt mit gleichmäßigem Flügelschlag auf seine Heimat zu, das zerfallene Schloss von Amrais. Die versammelten Vampire auf dem Dach machten mit flüsternden Bewegungen Platz, als er landete und auf das zerbrochene Fenster zumarschierte. Colum erwartete ihn bereits.
Im Gehen ließ der Namenlose seine Maske zerfließen wie ein Vorhang aus Regenwasser über einem Felsen. Darunter kam ein anderes Gesicht zum Vorschein. Die violette Haut des Neumondvampirs machte der bleichen Haut eines Vollmondvampirs Platz. Vollmondvampire, die als Könige unter den Untoten galten, hatten diese Fähigkeit zur Täuschung. Sie hatten die wahre Macht.
Die schwarze Kleidung Javats wich einer grünen, dunklen Uniform unter einer Rüstung aus wenigen, roten Platten, die Schultern und Brustbein bedeckten. Das rechte Auge, über das sich in zwei dünnen Linien eine alte Narbe zog, war blind. Das andere war nicht, wie bei Vollmondvampiren üblich, glühend rot, sondern von einem hypnotisierenden Lindgrün. Und auch die Haare waren grünlich, mit einem Schimmer von blau. Der Mann trug sie in einem hohen Zopf bis auf wenige kurze Strähnen, die ihm über die Schläfen fielen. Die feinen Augenbrauen, hohe Wangenknochen, schräge Augen, lange Ohren – das alles teilte er mit Nylian.
„Wir hatten einige herbe Rückschläge“, sagte Colum, als der vampirische Elf eintrat.
„Ich weiß“, antwortete Kiirion. „Aber das wird sich bald klären. Wir stehen kurz vor dem Sieg.“
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„Nylian!“, rief Kaithryn, als Azmaek den Elfen ohne sichtbaren Kraftaufwand mit einer Hand am Kragen in die Luft hob. Nylian umklammerte den ausgestreckten Arm des Magiers und zappelte hilflos mit den Füßen in der Luft, doch sein Widerstand war fast erloschen.
Ohne überhaupt nachdenken zu können, riss Kat das Schwert aus der Scheide und stürmte auf Azmaek zu. Der wirbelte im letzten Moment herum, die purpurnen Augen weit aufgerissen. Er wirkte ungläubig. Kat zielte direkt auf seinen Kopf mit den langen, blutroten Haaren. Das Schwert pfiff im Niedergleiten.
Azmaek riss die freie Hand hoch. Die Druckwelle warf Kat nach hinten und riss ihr das Schwert aus den Händen. Die Waffe schlitterte über den Stein davon. Kat rollte über Felsen und über die Kante eines Abhangs hinweg, an dem der Bergpfad entlangführte. Im letzten Moment bekam sie einen Steinvorsprung zu fassen. Ihre Füße baumelten im Nichts. Ihre Finger fanden keinen rechten Halt; wann immer sie sich hochziehen wollte, drohte sie, vollends zu fallen.
Hilflos konnte sie nur zu Azmaek aufsehen, der sie mit einem irritierten, verletzten Blick bedachte. Was hatte er eigentlich von ihr erwartet? Trotzig erwiderte Kat den Blick und suchte mit den Füßen nach Halt.
Seufzend wandte sich Azmaek wieder Nylian zu. „Ich habe dir doch gesagt, dass er unser Feind ist.“
Kat brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass Azmaek noch mit ihr sprach.
„Er ist … mein Freund!“, stieß sie mühsam hervor.
„Das glaubst du nur, denn er ist ein Meister der Täuschung. Er ist -“ Azmaek stockte. Er drehte ihr den Rücken zu, trotzdem konnte Kat den Ausdruck der Verwirrung auf den terrakottafarbenen Zügen erkennen. Azmaek zog die Augenbrauen zusammen und legte die freie Hand auf Nylians Stirn. „Nein! Das kann nicht sein!“
Nylian erschauderte. Seine Augen verdrehten sich nach hinten, sodass nur das Weiße zu sehen war. Der Elf zitterte, während Azmaek ihn offenbar bis auf den letzten Gedanken durchwühlte.
„Nylian!“, rief Kat verzweifelt und versuchte erneut, sich hochzuziehen. Sie rutschte fast ab, der Ruck ging ihr schmerzhaft durch die Arme.
Azmaek ließ den Elfen auf die Erde fallen. Er drehte sich zu Kat um und sein Gesicht war so fragend und verwirrt, dass er sie an Aoi erinnerte. Er sah sie an, als verlangte er eine Erklärung und breitete hilflos die Hände aus. „Eine zweite Aura – ich spüre sie deutlich! Als gäbe es die gleiche Person zweimal.“
Nylian stöhnte und robbte vorsichtig den Pfad nach unten. Er warf Kat einen Blick zu, die verzweifelt versuchte, nicht zu stürzen. Obwohl ihr Freund am Ende seiner Kräfte schien, erkannte Kat, dass er den Verletzten nur vorspielte, um Azmaek im richtigen Moment überwältigen zu können.
Der Magier sah noch immer verdattert vom einem zum anderen. „Seine Aura war der des Grafen so ähnlich!“
Kats Fuß traf auf festen Widerstand. Sie drückte sich hoch, ohne zu erkunden, was sie gefunden hatte – einen Felsvorsprung oder eine Wurzel. Mit zitternden Armen wälzte sie sich auf den Pfad und atmete die kühle Luft gierig ein.
Dann drehte sie sich herum und krabbelte zu Nylian. Gemeinsam halfen sie einander auf die Beine.
„Geht es dir gut?“, flüsterte Kat.
Nylian nickte. „Was ist mit dem Zauberer los?“
Azmaek hatte sich auf einen großen Findling gesetzt und hielt sich mit einer Hand haltsuchend an der Felswand fest, während er mit der anderen seine Stirn hielt. „Ich habe mich getäuscht!“ Er sah mit wildem Blick auf, fast, als hätte ein Dämon von ihm Besitz ergriffen. „Ich habe mich noch nie getäuscht! Aber er“, mit zitterndem Finger deutete Azmaek auf Nylian, „ist unschuldig!“
Kaithryn und Nylian starrten den Aurasichtigen entgeistert an.
„Ach“, brachte Nylian schließlich hervor.
„Es tut mir so leid!“, sagte Azmaek. „Ich war zu voreilig. Hätte ich deine Aura nur wenige Herzschläge länger analysiert, wäre mir der Unterschied aufgefallen!“
Kat und Nylian tauschten einen ratlosen Blick. Nylian spannte den Kiefer an. „Du hast mich nicht absichtlich verjagt?“, fragte er entgeistert.
„Schon absichtlich, aber aufgrund falscher Annahmen“, gab Azmaek zu. „Deine Aura ist der des Grafen zum Verwechseln ähnlich, doch gibt es Unterschiede. Hast du einen Zwilling? Einen Bruder oder eine Schwester? Das würde es erklären.“
„Ich hatte einen Bruder“, sagte Nylian tonlos. „Doch er ist tot.“
Azmaek schwieg. Dann sah er auf. „Wann ist er gestorben? Vor drei Jahren?“
Nylian öffnete den Mund und hielt inne. Dann nickte er lediglich.
Azmaek atmete tief durch. „Vor drei Jahren hat der Graf von Amrais sein Wirken begonnen.“
„Nein!“, schrie Nylian auf. „Das ist unmöglich! Kiirion ist tot, und überhaupt würde er so was niemals machen!“
„Es wäre eine mögliche Erklärung dafür, wie ich getäuscht wurde“, sagte Azmaek. „Fest steht, dass der Graf von Amrais jetzt im Schloss über uns ist.“
Er sprang auf, plötzlich von neuem Feuer erfüllt. „Wir haben keine Zeit, jetzt zu diskutieren! Wir brauchen ein sicheres Versteck, und dann brauchen wir einen Plan. Es scheint, die beiden, die ich hatte, sind gescheitert.“
Kat fuhr zusammen. „Dein erster Plan!“
„Was ist damit?“, knurrte Azmaek.
„Du brauchtest Amulette, um genug Macht zu haben, dich dem Grafen zu stellen“, erinnerte sich Kat.
„Ich bin stark, das kann ich bei aller Bescheidenheit sagen, doch nicht stark genug für den Grafen von Amrais. Was hast du, Kaithryn?“
Der besorgte Blick von Azmaek brachte Kat zum Kichern. Es war alles so verrückt! Sie griff in die verborgene Tasche ihres Wamses. Dann zog sie ein Amulett hervor, das die Gestalt eines kleinen, fliegenden Vogels hatte.
Azmaeks Augen weiteten sich. „Cirdrims Amulett! Woher hast du es?“
„Ich hatte es die ganze Zeit“, sagte Kat. „Er hat es mir vor seinem Tod gegeben. Ich musste versprechen, es nur an einen würdigen Nachfolger auszuhändigen.“
Azmaek schüttelte entgeistert den Kopf. „Ich habe dich danach gefragt!“
„Und du hattest meinen besten Freund als Lügner und wahnsinnigen Mörder bezeichnet“, ergänzte Kat und sah dem Magier in die hellen Augen. „Ich hielt dich für den Grafen von Amrais.“ Sie trat auf Azmaek zu und überreichte ihm das Amulett. Er nahm es so behutsam entgegen wie ein Vogelei. „Es scheint, als müsste ich mich ebenfalls entschuldigen.“
Kopfschüttelnd betrachtete Azmaek das Kleinod. „Du hieltest mich für – die ganze Zeit dachtest du – und trotzdem bist du bei mir geblieben?“
„Sie hat uns gewarnt, dass du auf dem Weg warst.“ Nylian fühlte sich offenbar bemüßigt, seinen Teil beizutragen. „So konnte ich dem Wahnsinn im Lager der Krieger entgehen, und Yodda dem Gemetzel im Lager der Wissenschaftler.“
„Das war nicht ich, das waren Dämonen des Grafen!“ Azmaek konnte den Blick noch nicht von dem Amulett lösen.
Nylian nickte. „Sie haben Besitz von dem Anführer der Krieger genommen, Barren Haitka. Er hat alle getötet und dabei geschrien, dass er der beste Krieger sein würde.“
„Ich habe es gesehen“, murmelte Azmaek. „Die Dämonen haben seinen Leib zerfetzt, als sie ihn verließen. Niemand hat überlebt.“ Dann sah er endlich auf und starrte Kaithryn an. „Und du hast gedacht, ich wäre dafür verantwortlich? Und nur für deine Freunde bist du trotzdem in meiner Nähe geblieben? Ich hatte Tapferkeit und Mut in deiner Seele erblickt und dachte, dass ich dir von allen im Tal vertrauen könnte. Doch wie es aussieht, habe ich deine Stärke sträflich unterschätzt!“
Kat wich seinem Blick aus.