Er hatte den Waldrand beinahe erreicht.
Aidalos am Zügel führend hatte sich Nylian durch das Gebüsch geschlagen. Sein Elfenpferd hatte den Ernst der Lage erkannt und trat fast genauso geräuschlos auf wie Nylian selbst. Aidalos war leichtfüßig und geschickt, er hinterließ nur wenig Spuren. Den ganzen Tag hatten sie keine Verfolger gesehen, doch Nylian wusste nicht, ob sie einfach nur Glück hatten oder die Suche in andere Gebiete verlagert worden war. Noch war er nicht bereit, sich allein auf sein Geschick zu berufen.
Die Nacht brach an und in ihrem Schutz wollte Nylian endlich aus dem Wald ausbrechen. Ein kurzer Ritt über die Wiesen sollte ihn und Aidalos in die Berge führen, wo sie andere Verstecke finden konnten.
Der junge Elf war inzwischen verwildert. Blätter hingen in seinen kurzen, cyanblauen Haaren, seine einfache Waldläuferkleidung war mit Erde beschmiert. Nur seine Augen blickten ungewöhnlich hell aus der dunkel eingefärbten Haut des Gesichts heraus, wie leuchtende Sterne, die durch ein Loch in einer stürmischen Wolkendecke funkelten.
Aidalos sah nicht viel besser aus. Sein Fell war unordentlich und das einst helle Cremebraun zu Schlammbraun verdunkelt. Mit einem wehmütigen Seufzen zupfte Nylian einige Blätter aus der Mähne seines Hengstes.
Vor ihnen schimmerte das Wiesengras zwischen den dunklen Baumstämmen hindurch. Die Dunkelheit senkte sich schnell über das Tal.
„Warte noch“, flüsterte Nylian, als Aidalos ungeduldig am Zügel zog. „Wir reiten ja gleich, mein Großer!“
Der Hengst schnaubte und ließ den Kopf hängen.
Nylian warf die Zügel über einen waagerechten Ast auf Hüfthöhe und schlich geduckt nach vorne. Hinter ihm hatte Aidalos einen grünen Trieb entdeckt und knabberte daran.
Die Wiesen lagen totenstill im Schein der Monde, nichts rührte sich. Nylian zupfte nervös an seinem Ohrläppchen. Es schien sich niemand auf den Wiesen zu befinden, doch wenn er sie überquerte, wäre er auf Aidalos trotz der Dunkelheit noch gut zu sehen. Ein im Dickicht des Waldes verborgener Späher könnte ihn leicht entdecken.
Der Elf zögerte noch immer, das notwendige Risiko einzugehen, als sich hinter ihm ein bestialischer Lärm erhob. Nylian fuhr zusammen und rannte auf Aidalos zu. Der Hengst stand stocksteif und hatte die Ohren gespitzt.
Die Baumwipfel raschelten. Mit dem Wind kam ein gewaltiger Schwarm Krähen herangeflogen, deren lautes Krächzen Nylian in den Ohren schmerzte. Andere Vögel folgten, unzählige lösten sich aus den Baumkronen. Die Luft war erfüllt vom Schlagen ihrer Schwingen und ihren Schreien.
Er kam bei seinem Pferd an und sprang in den Sattel.
„Vorwärts, Aidalos!“
Doch der Hengst brauchte keine Aufforderung. Er stürmte vorwärts, kaum, dass Nylian im Sattel saß, und um ein Haar wäre der Elf von einem tiefliegenden Ast wieder herunter gefegt worden. Er konnte sich mit einiger Mühe auf dem Pferderücken halten.
Aidalos sprang mit weiten Sätzen auf die Wiesen hinaus, den Hals durchgestreckt. Seine Hufe wirbelten Gras aus dem Boden auf.
Im Reiten sah Nylian zurück und griff nach dem Bogen. Die Sehne war darauf gespannt, seit er hatte fliehen müssen. Nun legte er einen Pfeil ein und zielte nach hinten.
Doch keine Verfolger kamen aus dem Wald. Es gab keine Schreie und keine Angriffe, keine fliegenden Pfeile oder magischen Blitze, keine Rufe. Die Vögel kreisten über Nylian und flogen dann schimpfend weiter. Stille senkte sich über die Wiesen.
„Ruhig.“ Nylian zügelte Aidalos und sah zurück. Im Wald rührte sich nicht das Geringste.
Mit gerunzelter Stirn dachte der junge Elf zurück. Der Lärm der Vögel war von der Mitte des Waldes her gekommen, vielleicht waren die Krähen auch schon länger unterwegs. Möglicherweise waren sie von etwas erstreckt worden, das eine Meile oder noch weiter entfernt war – in der Zeltstadt vielleicht. Doch was hatte die Vögel aufgescheucht und war so bedrohlich gewesen, dass die Tiere durch den halben Wald geflohen waren?
„Yodda! Kaithryn!“, flüsterte Nylian.
Er zog am Zügel und wendete Aidalos.
„Zurück, mein Freund! Na los!“
Der Hengst zögerte, ehe er in den Galopp fiel und auf die Quelle der allgemeinen Angst zusteuerte.
~ ⁂ ~
Ein dunkler Schatten huschte über den Osthang, so schwarz, dass er in der Nacht kaum sichtbar war. Es mochte ein Mann sein, doch wirkte er unförmig. Er trug etwas über der Schulter, einen großen Sack vielleicht. Lautlos schlich er zwischen die Zelte, die hier für das Lager der Wissenschaftler errichtet worden waren.
Dann lud der Fremde seine Last behutsam ab und bettete, was auch immer er getragen hatte, in das hohe Gras. Und ging so lautlos, wie er gekommen war.
~ ⁂ ~
Natürlich vergaß Nylian seine Vorsicht nicht. Er hielt sich am Waldrand und lauschte auf jedes Geräusch. Die Wildtiere schwiegen. Nylian musste sich allein auf seine Sinne und Aidalos verlassen.
Niemand begegnete ihnen, bis sie endlich die Zeltstadt erreichten. Der Anblick war selbst in der Dunkelheit furchtbar.
Die Zelte waren zusammengebrochen, nur einige wenige standen noch. Zerfetzte Zeltwände flatterten im Wind, Rauch stieg von vielen kleinen Brandherden auf, die gekrümmten Säulen reckten sich wie hilfesuchende Arme in den Himmel. Die Zeltstadt war kalt und schwarz, der Wind trieb Asche vor sich her.
Nylian saß ab und lief in die Stadt hinein. Das große Holztor war zu Boden gefallen, ein junger, dürrer Mensch lag unter dem großen Querbalken begraben. Seine Haut war bereits kalt und starr.
„Kaithryn! Yodda!“, rief Nylian, ohne sich noch Sorgen um Verfolger zu machen. „Colum!“ Er erhielt nicht einmal ein Echo.
Die ehemaligen Wege waren unter Zeltstoffen begraben. Nylian konnte nicht mehr genau bestimmen, wo ihr gemeinsames Zelt gestanden hatte. Als er den ungefähren Ort erreicht hatte, sahen alle gleich aus. In einem der Zelte lag ein Toter, doch es war ein Elf mit blutroten Haaren, niemand, den Nylian kannte. Die anderen Zelte waren leer.
„Wo können sie nur sein?“, murmelte Nylian halblaut. Er hoffte, dass Yodda und Kaithryn dem Blutbad entkommen waren. Trotzdem schlug er den Weg dorthin ein, wo laut seiner Erinnerung die Stallungen gewesen waren. Tatsächlich fand er die Überreste des einfachen Holzverschlags zwischen Zeltplanen und weiteren Leichen. Ihm fiel auf, dass keine Krieger oder Magier unter den Toten waren, jedenfalls trug niemand Waffen oder Roben. Die meisten waren junge Bedienstete oder Händler.
Die Pferde lagen erschlagen im Stall. Wieder einmal, jedoch aus einem neuen Grund, war Nylian dankbar, dass Aidalos durch irgendein Wunder den Weg zu ihm gefunden hatte.
Er beugte sich über die Leichen der Tiere. Viele waren von Holzbalken erschlagen oder vom Feuer verbrannt, doch Nylian stellte fest, dass jemand allen Tieren die Kehlen durchgeschnitten hatte. Ebenso einem dunkelhaarigen Elfen und einem jungen Menschen mit rötlichen Haaren, die ausgeblutet mitten zwischen den Tieren lagen.
„Es muss schnell und leise gegangen sein“, murmelte Nylian vor sich hin, während er mit der Hand durch die Asche fuhr und die Spuren zu deuten versuchte. Es gab Fußspuren ohne Ende, doch er konnte beim besten Willen nicht sagen, ob sie zu den Angreifern gehörten. Er vermutete dennoch, dass der Angriff hier begonnen hatte. Wer auch immer verantwortlich war – der Graf von Amrais vermutlich – hatte zuerst die Pferde töten lassen, um den Wettkämpfern jede Fluchtmöglichkeit zu nehmen. Und möglicherweise auch, damit die Tiere keinen Alarm schlugen.
Mit einem Schauer stand Nylian auf. Der Wind war scharf und kalt und roch nach Regen. Gerade wollte er sich abwenden und die zerstörte Zeltstadt hinter sich lassen, als sein Blick auf vier Paar Hufe fiel, die unter einem schweren Balken herausragten.
Für ein Pferd waren die Hufe etwas zu klein, außerdem waren sie zweigeteilt.
Nylian japste nach Luft: „Colum!“
Er rannte zu dem Balken und versuchte, ihn anzuheben, doch das Holzstück – ein grob entrindeter Baumstamm – war viel zu schwer.
„Colum! Colum, sag etwas!“
Der größte Teil des Zentauren war unter dem Balken begraben und in einem großen Trümmerhaufen verschwunden. Getrocknetes Blut verklebte das, was Nylian von dem braunen Fell sehen konnte. Er zerrte ein letztes Mal mit zitternden Armen an dem Balken, dann ließ er sich aufseufzend in den Schlamm fallen.
„Colum … es tut mir so leid.“ Der Zentaur gab keine Antwort. Offenbar war er, als der brennende Balken des Stalls umgekippt war, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.
Nylian schloss die Augen und atmete tief durch. Die Angst drohte, ihn zu übermannen. Natürlich hatte er immer gewusst, dass er seine Freunde eines Tages würde begraben müssen. Menschen hatten nur eine geringe Lebenserwartung, Zwerge sogar noch weniger. Doch er hatte so sehr gehofft, dass ihnen noch Zeit blieb. Nun wusste er nicht, wo seine Freundinnen waren und ob sie überhaupt noch lebten.
Um die aufkeimende Verzweiflung zu bekämpfen, stand Nylian auf, wischte sich mit einem trotzigen Schniefen die Tränen aus den Augen und stapfte los, zurück dorthin, wo Aidalos auf ihn wartete. Wenn es eine Spur von Yodda und Kaithryn gab, so würde er sie finden.