Als Marius am Samstagmorgen bereits früh erwachte, hatte er das Gefühl, als hätte sein Schädel die Größe einer Wassermelone und seine Nase war so verstopft, dass er keine Luft mehr bekam. Leise stöhnend, weil ihm alles wehtat, quälte er sich aus dem Bett und musste sich abrupt an seiner Schrankwand festhalten, weil sein Kopf mit ihm Karussell fuhr.
»Gott, ich sagte, ich will sterben! Aber doch nicht so«, nuschelte er kratzig. Auch seine Stimme schien von der über Nacht ausgebrochenen Erkältung betroffen zu sein.
Langsam wie ein Greis tapste er in den Flur, der seines und das Schlafzimmer seiner Eltern voneinander trennte, aus dem durch die Tür leises Atmen und Schnarchen zu hören war. Sie schliefen natürlich noch, denn dem Licht vor dem Fenster nach zu urteilen, war es kaum sechs Uhr.
Marius musste dringend auf die Toilette, aber schnell voran kam er nicht. Immer wieder musste er innehalten und die Augen schließen, weil der Schwindel ihn erfasste. Sein Kopf dröhnte und der Geschmack in seinem Mund verursachte ihm Übelkeit.
Das also hatte man davon, wenn man bei seinem etwas entarteten Abendgebet Gott darum bat, sterben zu können. Den Tod bekam man nicht, aber immerhin eine wirksame Ablenkung. Denn durch den sehr echten Schmerz in seinem Kopf und Hals hatte Marius kaum die Möglichkeit, die Schwere seines Herzens zu fühlen.
Nachdem er sich beinahe in die Hose gemacht hatte, war er umso froher, als er schließlich das Badezimmer erreichte und sich erleichtern konnte.
Er schrubbte sich die Zähne, um den Geschmack eines verendeten Tieres in seinem Mund loszuwerden, und wusch sich anschließend mit lauwarmem Wasser das Gesicht. Weniger Erfolg hatte er bei dem Versuch, sich die Nase zu putzen. Mehr als Druck auf den Ohren erzielte er damit nicht.
Das war wieder so eine typische Situation in Marius’ Leben. Er war robust und wurde so gut wie niemals krank. Und wenn doch, dann am Wochenende. Warum auch mal einen Schultag verpassen, wenn ein Samstag dafür doch viel praktischer war.
Der Jugendliche seufzte und schlurfte in die Küche auf der Suche nach den Hustenbonbons gegen den kratzenden und trockenen Schmerz in seinem Hals.
Offenbar war es keine gute Idee von ihm gewesen, so lange verschwitzt herumzulaufen, mit regenfeuchtem T-Shirt und klatschnassen Schuhen. Er hatte zwar nicht gefroren, weil es eigentlich warm gewesen war, doch sein Körper sah das offensichtlich etwas anders.
Halb niesend, halb hustend machte Marius sich einen Tee und schlich anschließend leise wieder auf sein Zimmer. Er würde sich hinlegen und erst aufstehen, wenn sich der Kopf nicht mehr so angeschwollen anfühlte.
Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis er wieder eingeschlafen war. Seinen Schmerzen und der verstopften Nase zum Trotz verlangte sein Körper nach dieser Auszeit und so erwachte er erst Stunden später wieder, als er seinen Vater wüst poltern hören konnte.
Stöhnend setzte Marius sich auf und rieb sich die Augen, während er versuchte, herauszuhören, was seinen Alten denn nun wieder auf die Palme gebracht hatte.
Der Jugendliche seufzte, als er auf die Uhr sah und bemerkte, dass es bereits nach Mittag war. Er wusste, warum sein Vater sich aufregte, auch wenn er kein Wort verstehen konnte.
Es war Marius und die Tatsache, dass der noch im Bett lag, anstatt zum Essen zu kommen. Dass er den Tag über faulenzte.
Heinrich würde nicht einmal dann anders denken, wenn er wüsste, dass sein Sohn nur deswegen noch nicht auf war, weil er über Nacht krank geworden war.
Der Jugendliche streckte sich und leerte den Rest des lange erkalteten Tees, bevor er aufstand. Noch immer mit Kopfschmerzen und einem leichten Schwindelgefühl, wechselte er die Schlafsachen gegen eine Trainingshose und ein Shirt und trottete die Treppe hinunter, direkt in die Arme seines pöbelnden Vaters.
»Ach, bequemen wir uns auch mal aus dem Bett, du Faulpelz?!«
»Dir auch ein herzliches Hallo«, murmelte der Junge und verzog das Gesicht, da die Lautstärke seines Alten wie eine Nadel in seinen Kopf stach.
»Ich geb dir gleich herzlich! Es ist halb Eins!«
»Ich weiß. Und Samstag. Ich hab eh keinen Hunger ...«
Heinrich, der im Flur sämtlichen Platz vereinnahmte und so verhinderte, dass Marius sowohl das Wohnzimmer als auch die Küche betreten konnte, schnaubte verächtlich. »Wer essen will, muss arbeiten. Meinst du, du würdest jetzt noch was bekommen, selbst wenn du wolltest?! Dir werde ich Beine machen, du Nichtsnutz. Du ziehst dich an, der Rasen muss gemäht werden! Und wehe, ich höre ein Widerwort, dann fängst du dir eine!«
Der Jugendliche seufzte. Na ganz toll. Das hatte seinem Brummschädel gerade noch gefehlt.
Angelika, die den Zwist ihrer beiden Männer aus dem Wohnzimmer mitangehört hatte, kam leise dazu und sah von einem zum anderen. Im Gegensatz zu Heinrich schien ihr aufzufallen, dass Marius angeschlagen war und sie legte ihrem Gatten die Hand auf den Arm.
»Aber Heinrich, schau doch. Findest du nicht, dass er krank aussieht? Ganz blass und verschwitzt. Ich finde, er sollte lieber im Bett bleiben. Um den Garten kann ich mich kümmern ...«
Der grobschlächtige Mann funkelte nur mit einem Seitenblick auf seine Frau herunter und schüttelte ihre Hand ab. »Nichts da! Kein Wunder, dass er so ein Weichling geworden ist, wenn du ihm wegen jeder Kleinigkeit den Arsch puderst. Er macht das. Du bist doch viel zu blöd, mit dem Rasentrecker umzugehen!«
»Hör auf, sie so anzumachen, Mann! Ich mach deinen scheiß Rasen. Kein Grund, uns gleich wieder anzuficken!« Marius starrte seinem Vater entgegen, ihrer beider Augen lagen inzwischen beinahe auf einer Höhe. Es war Angelika nie zuvor aufgefallen, wie groß ihr kleiner Junge geworden war.
»Wie redest du mit mir?«, Heinrich polterte und man bekam regelrecht das Gefühl, dass die Wände zu wackeln begannen.
»So, wie du es verdienst. Sie hat dir nichts getan, also lass’ sie in Ruhe.«
Ein lautes Klatschen, gefolgt von dröhnendem Schmerz ließ den Jugendlichen verstummen, während Angelika einen erschrockenen Ausruf ausstieß. Marius hatte bereits damit gerechnet, dass sein Vater ihn schlagen würde. Der Alte hasste es, wenn man Kritik daran übte, wie er mit seiner Frau umging.
Der Junge spuckte ein Tröpfchen Blut aus, das sich auf seiner Zunge gebildet hatte und verzog keine Miene. Er würde seinem Vater nicht die Genugtuung verschaffen, die Pein nach außen zu zeigen, obwohl sein Schädel sich inzwischen so anfühlte, als würde er platzen. Ihm stieg die Galle hoch und Übelkeit machte sich in ihm breit. Ein kleiner, fieser Teil seines Ichs wünschte sich fast, seinem Gegenüber auf die Schuhe zu kotzen.
Stattdessen neigte er nur ein Stück seinen Kopf. »Herzlichen Dank. Ich werde mich dann anziehen gehen, wenn es Recht ist!«
»Du kleiner ...«, setzte Heinrich an, doch Marius wandte sich einfach ab und begab sich wieder auf sein Zimmer, um sich eine robustere Hose anzuziehen. Er lehnte sich an die Innenseite seiner geschlossenen Tür und stöhnte, während er sich den Kiefer rieb und die Tränen aus den Augenwinkeln wischte, die die Kopfschmerzen verursacht hatten.
»Elender, verkommener Dreckspenner«, fluchte Marius ungehalten und zog sich um.
Wenn sein Alter schon von ihm verlangte, zu arbeiten anstatt sich auszuruhen, würde der Junge seine Großmutter um eine ihrer Tabletten bitten, damit das Kopfweh verschwand.
Wäre er mal nur in seinem Zimmer geblieben ... Es war nicht die Tätigkeit selbst, die Marius nervte. Er mähte eigentlich gern den Rasen, er mochte den Duft und das Summen der Hummeln und Bienen und hatte Spaß daran, den Trecker zu fahren.
Doch seine Nase erlaubte ihm nur begrenzt das Luftholen, sein Hals brannte und er musste ständig husten. Er war kein wehleidiger Typ, der so tat, als würde er an der berüchtigten ‚Männergrippe’ sterben. Aber wohl fühlte er sich trotzdem nicht.
»Beweg’ deinen Arsch oder ich komme rauf und schleif’ dich nach draußen!«, hörte er Heinrich von unten brüllen.
»Ja, Papa. Ganz wie du wünschst, Papa«, knurrte Marius, schlüpfte in seine Boots, die er meistens trug, wenn er draußen zu tun hatte, und warf seine Tür hinter sich ins Schloss.
Irgendwann würde den Alten ein Blitz beim Scheißen treffen und er, Marius, wusste, dass er, Vater hin oder her, keine Träne vergießen würde, wenn dieser Tag gekommen war. Wie würde er um seinen alten Herrn trauern können, nachdem dieser ihn sein Leben lang wie Dreck behandelt hatte?
Ohne noch ein Wort an Heinrich zu richten, der breitbeinig in der Küche saß und an einer Bierflasche nuckelte, verließ Marius mit dem Schlüssel für den Rasentrecker das Haus und warf auch diese Tür geräuschvoll hinter sich zu. Er wusste, dass das seinen Vater aufregte.
Umso mehr genoss der Junge diese Form des Protestes. Und tatsächlich konnte er den Alten durch das geöffnete Küchenfenster fluchen hören.
Während Marius den feuerroten und recht schnittigen Rasenmäher aus der Garage fuhr, hatte seine Großmutter ihre Wohnung verlassen, um ihre Blumenkrüge in Ordnung zu bringen und etwas von der Junisonne zu genießen, die hell und warm auf sie hinunter schien.
»Hallo, mein Schatz«, rief sie dem Jungen zu, als dieser an ihr vorüberfuhr und abstieg, um das Tor der Garage anzulehnen. Schließen würde er es, wenn das Fahrzeug wieder drin stand.
»Hallo, Oma«, murmelte Marius und presste die Augen zusammen. Das Licht war zu hell, die Abgase des Treckers drehten ihm den Magen um.
»Oh weh, Marius«, Hannelore ging auf ihren Enkel zu, der zu taumeln begonnen hatte, und schob ihn zu der Bank neben ihrer Haustür »Du siehst gar nicht gut aus. Du hast ja Fieber. Warum bist du nicht im Bett?«
Der Junge lächelte schief. »Fragst du wirklich? Was meinst du?«
Die alte Dame ließ ihren scharfen Blick über die Züge ihres Enkels wandern und registrierte auch die noch immer leicht gerötete Wange. Marius hatte bereits die ersten Anzeichen eines leichten Veilchens. Also hatte Heinrich ihn mal wieder geschlagen und ließ ihn jetzt auch noch arbeiten, obwohl er unter die Decke gehörte.
»Nix da. Du kommst mit rein. Ich werde dir eine Grippetablette geben und etwas Suppe warm machen.«
»Oma ...«, wollte Marius protestieren, doch die resolute Rentnerin ließ keine Widerrede zu. Das hatte Heinrich von ihr geerbt. Nur dass Hannelore zur Durchsetzung ihres Willens keine Gewalt benötigte. Sie zog den Jugendlichen auf die Beine und schob ihn in die Tür.
»Mutter, was soll das werden, bitte? Der Bengel hat eine Aufgabe zu erledigen!«, polterte Heinrich plötzlich über den Hof. Er hatte sich aus dem Küchenfenster gehängt und mitangesehen, wie die alte Dame seinen Sohn hochgezogen hatte.
»Der Rasen kann auch noch bis heute Abend warten, Hein! Wenn ihr schon nicht bemerkt, dass Marius Fieber hat und sich ausruhen muss, dann sorge eben ich dafür, dass er es tut! Und jetzt sei still, um Himmels Willen.« Sie schloss ihre Haustür hinter sich und verfrachtete ihren Enkel auf die Couch in der Wohnstube, die eine gemütliche und kramige Atmosphäre hatte, mit Spitzendeckchen auf den Sofalehnen, Engelsfiguren in den Schrankfächern, rankenden Pflanzen und Heimatgemälden an der Wand.
Marius mochte dieses Zimmer, auch wenn es stereotypisch für das Spießbürgertum war.
»Brauchst du etwas Eis für das Auge?«, fragte sie ihn leise, als er sich lang gemacht hatte und leise stöhnte.
»Nein ... aber eine von deinen Schmerztabletten ... und vielleicht ... einen Eimer«, Marius schluckte schwer und hatte einen galligen Geschmack auf der Zunge. Hannelore sah, dass er auch noch das letzte Bisschen seiner Gesichtsfarbe verlor und reichte ihm gerade im letzten Moment einen blauen Plastikeimer, bevor Marius sich erbrach.
»Tut mir leid«, wisperte er, nachdem der Anfall vorbei war. Sein Hals brannte und er hustete leicht, doch zu seiner Erleichterung spürte er, dass es ihm besser ging.
Die alte Dame nahm ihm den Kübel ab und lächelte nur. »Alles raus, was keine Miete zahlt, hat Opa immer gesagt. Geht es wieder?«
»Etwas, ja.«
»Kein Wunder, dass es dir hochkommt. Bist schon krank und bekommst noch eine gescheuert. Manchmal ... wenn dein Großvater noch leben würde, würde der deinem Vater was erzählen!«
Marius streckte sich auf dem schildpattgemusterten Sofa aus und sah aus dem Fenster.
Heinrich war auch schon ein Tyrann gewesen, als Opa Erich noch am Leben war. Der Jugendliche kannte seinen Vater gar nicht anders. Als Marius sechs Jahre alt gewesen war, hatte sein Alter ihn das erste Mal geschlagen. Wegen einer lächerlichen Lappalie.
Der Junge hatte seiner Mutter damals unbedingt beim Abwasch helfen wollen und dabei einen Teller fallen lassen. Der war natürlich zerbrochen und Heinrich hatte ihm dafür so den Hintern versohlt, dass Marius einen Tag nicht schmerzfrei sitzen konnte. Als wäre es nicht natürlich, dass einem mal ein Missgeschick passierte und als könnte man so etwas durch Prügel verhindern.
Ironie, wenn man bedachte, wie viele Tassen und Gläser Heinrich im Suff bereits zerschlagen hatte.
»Meinst du? Es war damals auch nicht anders ... Opa hätte zwar was sagen können, aber geändert hätte sich doch nichts.«
Hannelore, die den Brecheimer im Bad ausgeleert hatte und ihrem Enkel nun Medizin und Wasser brachte, sah ihn nur bedauernd an.
Sie wusste, was der Junge und auch Angelika unter Heinrich zu erdulden hatten und sie schämte sich, dass ihr Sohn so ein Mann geworden war. Wo er doch so ein gutes Vorbild in seinem eigenen Vater gehabt hatte.
»Na, für jetzt hast du Ruhe. Hier, nimm das, damit das Fieber runtergeht. Möchtest du etwas essen?«
Wie auf Kommando war ein vernehmliches Magenknurren zu hören und Marius sah seine Großmutter überrascht an. »Oh, ich glaub schon. Ich hab kein Mittag bekommen. Paps sagte, weil ich bis Zwölf geschlafen hab, hätte ich keins verdient … mir war so schlecht, ich wollte gar nichts, aber ...«
»Ach, dieser Sturkopf. Gut, ich hab Suppe gemacht, gestern. Die ist heute erst richtig gut.«
»Ich schmecke nix. Ich riech’ auch nix. Alles zu.«
»Aber helfen wird sie trotzdem.« Vergnügt verschwand die alte Dame in ihrer kleinen Küche und Marius entspannte sich merklich.
Das Erbrechen hatte zumindest den Vorteil gehabt, dass das Kopfweh nachgelassen hatte. Auch wenn er sich noch immer schwach fühlte und Hals und Rachen schmerzten, war es nicht mehr so, als würde er jeden Moment das Bewusstsein verlieren.
Nachdem er die Medikamente genommen und eine Schüssel mit Suppe geleert hatte, ließ Hannelore ihn einige Zeit schlafen, damit die Arzneien sich entfalten konnten.
Es kümmerte sie nicht, ob Heinrich sich aufregte, weil sie über seinen Kopf hinweg entschieden hatte, Marius von der Aufgabe freizustellen. Ihr Enkel war wichtiger als die Wutausbrüche ihres Sohnes, der seinen eigenen selbst dann noch schikanierte, wenn dieser bereits am Boden lag. Es war niemandem damit gedient, wenn der Junge bewusstlos vom Mäher fiel, weil er sich überanstrengt hatte.
Nachdenklich betrachtete die alte Dame Marius, während dieser schlief.
Gestern war es ihm noch ausgezeichnet gegangen und über Nacht war er so krank geworden, dass er kaum aufrecht gehen konnte.
Sie fragte sich, was wohl geschehen war. Das Wetter war die ganze Zeit über mild gewesen, eigentlich zu warm, um sich eine Erkältung zu holen.
Vielleicht war auch etwas passiert, was ihn nachhaltig so bewegte, dass seine Abwehrkräfte geschwächt waren. Hannelore wusste sehr wohl, dass auch seelisches Leid physische Krankheiten hervorrufen konnte. Wer litt, der war nicht so immun gegen Viren und Erreger wie jemand, der vollkommen ausgeglichen war.
Ob es wohl etwas - oder jemanden - gab, mit dem Marius sich so eingehend beschäftigt hatte, dass die nervliche Belastung ihn krank gemacht hatte?
Sie wünschte sich eigentlich schon gern eine süße Freundin für ihren Enkel. Jemanden, mit dem er glücklich war und Spaß hatte, ganz unabhängig von seinen Kindheitsfreunden.
Doch zuallererst musste er diese massive Erkältung loswerden. Alles andere würde schon noch kommen, wenn er dazu bereit und die Zeit reif dafür war.