Traditionen.
Ein recht seltsames Wort für die Leute aus der Stadt. Immer, wenn sie in unser bescheidenes Dorf einkehren, um nach dem anstrengenden Aufstieg zur Ruhe zu kommen oder unsere Hütten und Gewohnheiten als Sehenswürdigkeit betrachten, glaube ich einen Funken Verwirrung in ihren Augen zu sehen.
Sie fragen mich, wie unsere Familie damit umgeht, dass wir kaum Strom oder fließend Wasser besitzen. Dass wir alles teilen, sei es unser Essen, unsere Kleidung oder unser Vieh. Und ich antworte einfach: "Es ist unsere Tradition."
Vielleicht bilde ich es mir nur ein, doch ich glaube, die Menschen aus der Stadt verstehen das nicht.
Sie bringen ihre eigenen Rucksäcke mit, trinken aus ihrer eigenen Wasserflasche und besitzen merkwürdige Apparaturen, die ich unter keinen Umständen selbst in der Hand haben wollen würde.
Sie fragen mich, warum ich selbst keinen Fernseher oder Radio besitze und ich antworte einfach: "Es ist unsere Tradition."
Ich merke, wie mich die Leute entgeistert anblicken, wie sie ihr eigenes Kind ängstlich an sich drücken, als befürchten sie, ich würde es ihnen stehlen wollen.
Stehlen.
Auch so ein Wort, das in meinen ungeübten Ohren seltsam klingt. Diebstahl gibt es bei uns hier nicht. Wie auch, wenn jedes Tier, jedes noch so kleine Stückchen Land uns allen gehört. Die Leute aus der Stadt erzählen uns davon, wie sie sich schützen vor Menschen mit Waffen und schlechten Gedanken. Sie fragen uns, warum unsere Haustür kein Schloss besitzt und ich antworte still: "Es ist unsere Tradition."
Ich spüre die ratlosen Blicke auf meiner Haut, wenn die Menschen aus der Stadt kommen und sehen, wie unsere Nachbarn das Haus betreten und gleich darauf mit Dingen verschwinden, die ursprünglich dem Onkel eines Freundes gehört hatten. Ich kann ihre Gedanken förmlich hören, wie sie sich wundern, dass ich nichts unternehme, nichts sage.
Ich kann ihre unausgesprochenen Worte sehen, wie sie im Raum schweben, wenn sie unsere Hütte sehen und unseren Alltag kennenlernen. Ich weiß, dass sie sich nach einem Wasserhahn und einer warmen Dusche umsehen und nichts anderes finden, als den eiskalten Bach hinter unserem Dorf, der uns stehts treue Dienste leistet. Sie sind überfordert und sehnen sich sichtlich zurück in das Auto, das sie einst hierher gebracht hatte, wenn sie nicht zu Fuß kamen.
Ich spüre, wie sich die Leute aus der Stadt zieren, unser Leben zu akzeptieren, ganz ohne Diebstahl, Radio und Besitz.
Denn es ist unsere eigene Tradition.