In dem Moment als er auf dem Boden aufschlug, Kinn voran und sich seine Zähne schmerzhaft in seine Unterlippe bohrten, wusste er, dass sich die Vorhersage erfüllte. ‚In dem Dreck der Gosse in der du auf die Welt gekommen bist, wie das Stück Abfall das du bist, da wirst du auch krepieren.‘ Manche Leute sagten ihren Kindern scherzhaft, während sie sie Huckepack auf den Schultern hopsen ließen: ‚Dich hat der Esel ja im Galopp verloren.‘ Bei Kanarell war es anders. Seine Mutter hatte ihn in irgendeiner Seitengasse zwischen Mülltonnen und Unrat und vielleicht der abgewrackten Behausung eines Penners geboren. Einfach so, ohne viel Aufhebens. Danach war sie verschwunden, wahrscheinlich mit einer Blutspur, die bis in die nächsten zwielichtigen Ecken führte und wo sie sich irgendetwas gegen die Schmerzen geben ließ. Sein Vater, ha, wahrscheinlich einer jener Typen, denen sie sich hingab, um an das Geld für ihr Zeug zu kommen.
Und als er nun so daran dachte, dass es schon immer so gewesen war, dass er das ausgetretene Pflaster der Straße und die stinkenden dunklen Ecken besser kannte als ein Bett, eine Dusche und einen verdammten Barbier, da kam ihm die Erkenntnis, dass das Leben und die Leere es stets gut mit ihm gemeint hatten. Niemand scherte sich um ihn und er scherte sich um niemanden. Das war einfach und das war zufriedenstellend. Und seit er Kief kannte, war alles noch einfacher geworden. Kief hatte ihm einen Sinn gegeben. Er hatte ihn von dem trüben Schicksal als Straßenköter zu einem wehrhaften und äußerst effektiven Wolf gemacht. Klar, er war immer noch total verwahrlost, verlottert und ein Hurensohn, ein Bastard und ein verfluchtes Arschloch, aber - und da legte er Wert drauf - eins mit Anstand und einem ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn. Von wem er den wohl hatte?
Genau dieser achte Sinn hatte ihn überhaupt erst in diese Lage gebracht. Kief erledigte gewisse Aufträge. Allein, mit Partnern und mit ihm. Er verschaffte ihm diese Aufgaben, nannte ihm ein Ziel, hielt ihm einen Fetzen hin und ließ ihn die ganze Welt auf den Kopf stellen, bis er das Ziel fand. Sei es ein Ding oder ein Hintern. Und er besorgte es. Diesmal war es um irgendeinen Stein gegangen, Kan hatte nicht gefragt. Er hatte weder Ahnung von gewichtigen Folianten, noch von wertvollen Steinen. Aber er war gestohlen worden und dem Besitzer war er so kostbar, dass er Kief darauf ansetzen konnte und wenn Kief ein solches Geschäft aushandelte, dann sprang dabei eine dicke Börse bei rum. Also hatte Kan gegrinst, sein Zeug gepackt und war losgezogen. Solche Sachen erledigte er allein, es war besser, wenn man sich um niemanden kümmern musste, außer um sich selbst. Deswegen übertrug Kief ihm nie entführte Leute zu finden. Er war nicht gut darin, diese „unversehrt“ wieder zu bringen.
Er war in anderen Dingen gut. Jetzt stützte er sich auf die Unterarme in einen Pseudo-Liegestütz. Er schmeckte Blut und Dreck. Bastarde, er würde sie alle kriegen. Seine Zunge glitt über seine Zähne, alle noch da wo sie sein sollten, das war nicht immer der Fall. Gut, dass sie in schöner Regelmäßigkeit nachwuchsen. Gesegnet sei der verfluchte Körper, der aus ihm in den Augen der normalen Menschen ein Monster machte. Unter seinesgleichen ein verdammt berüchtigtes. Keiner der anderen Meuten würde sich freiwillig mit ihm anlegen. Ha, sie riefen ja gerade ihn, wenn sie sich mit jemandem anlegen wollten, dem sie selbst nicht gewachsen waren. Was auch immer seine Mutter genommen hatte, es musste echt krasse Auswirkungen auf seine Verwandlung gehabt haben.
Aus dem Dreck erhob er sich dennoch mühsam. Die Prügel forderten Tribut, wenn sie auf einen losgingen mit allem was sie hatten, dann musste man damit rechnen, auch mal zu Boden zu gehen. Er spuckte aus, kein Grund auch dort liegen zu bleiben.
Die Schlägergruppe drehte sich um, sahen aus wie ein Rudel ziemlich abgewrackter Hyänen. Er schüttelte sich, spürte wie seine Knochen sich zurechtrückten. Spürte das Biest in sich knurren und knackte mit den Nackenwirbeln, als er sich lockerte: „Gut, jetzt bin ich dran.“ Die anderen hatten aufgehört zu lachen, sie hatten ihn liegen gelassen, kannten ihn wohl noch nicht, in der Hoffnung, dass er hier krepierte. Das würde er sicher auch irgendwann. Aber nicht heute. Er hatte Kief versprochen diesen Stein zu holen und er hing noch immer um den Hals dieser dreisten Hyäne. Nicht mehr lange. Er grinste noch immer, als seine Fingernägel sich zu Krallen wandelten und seine Gelenke knackten. Seine Haut sich mit Fell überzog und aus seinem Kiefer Reißzähne hervorbrachen.
Nachdem er auf allen Vieren stand, das Fell bedrohlich aufgerichtet und die Ohren angelegt, das Knurren tief in der Kehle saß und Geifer von seinen Lefzen tropfte, überwand seine Beute endlich ihre Schockstarre und machte sich bereit sich dem einsamen Wolf zu stellen. Er erledigte den ersten kurz und schmerzlos durch einen Biss in die Kehle, sehr zielsicher. Als er sich auf eine weitere Person stürzen wollte, rutschte er ab und bohrte seine Zähne stattdessen in die Schulter. Dann traf ihn etwas zwischen die Schultern, was ihn Aufjaulen ließ, er musste seine Kiefersperre brechen, um loszulassen und sich der neuen Bedrohung zu widmen. Um die Stange herumzuwirbeln, war nicht das Problem, er verbiss sich in einen wenig schmackhaften Unterarm und riss an seiner Beute, damit sie zu Boden ging und er leichteres Spiel hatte. Er war ein Hybrid, Wolf war eindeutig, Straßenköter nannten es die anderen. Das traf sicher zu, erklärte aber nicht die Krallen, die er katzenhaft einziehen und ausfahren konnte. Was er genau jetzt tat, weil seine Beute nicht spurte. Er ließ los, seine orangenen Augen flackerten, dann sprang er an dem Mann hoch, schlug ihn mit aller Kraft mit der linken Pratze und riss tiefe Furchen in das hässliche Gesicht. Die Stange fiel klappernd zu Boden.
Und das war es mit seinem Überraschungsmoment, seiner Überlegenheit und vielleicht auch ein wenig mit seiner Tollwut. Der konzentrierten Gegenwehr konnte er nichts entgegensetzen, als sie gemeinsam über ihn herfielen. Als er diesmal den Dreck küsste, biss er sich auf die lange Zunge im Maul. Und als er dann hechelnd Staub aufwirbelte unter seiner Nase und spüren konnte, wie ihm das Auge zuschwoll, dachte er wieder daran: ‚In der Gosse geboren, in der Gosse krepiert‘, würde einen guten Grabsteinspruch abgeben.
Schreckliche Sekunden lang geschah dann gar nichts. Bis er endlich den Kopf hob und aufsah. Die Hälfte des Rudels kniete am Boden, zwei waren noch im Begriff gerade zu fallen. Lautlos und ohne ein Wort zu Boden gegangen. Wie hatte er das nicht mitbekommen können? Er verwandelte sich zurück und drehte sich um, setzte sich und hob leicht seine Hände an. Den einen Arm weiter als den anderen. Ein Raubtier wusste, wann es sich zurückhalten sollte. Wenn es einem noch gefährlicherem Wesen gegenüberstand.
„Jetzt bin ich dran“, imitierte eine Stimme seinen Spruch und er knurrte unwillkürlich. Seine Augen funkelten. Ihre aber nicht minder. Sie war nicht sehr hübsch, nicht klassisch hellenistisch. Sie war eher eine eingebildete, eitle Hexe. Lang und dürr, mit spinnengliedrigen Fingern und viel zu langen Fingernägeln. Auch ihre Frisur war eigenwillig, weißblondes kurzes Haar, in einer Welle halb über der einen Seite der Stirn gelegt, als käme sie gerade von ihrer Einkaufsrunde. Ihre schmalen Lippen und die ebenfalls zu schmalen Schlitzen zusammengekniffenen Augen ließen auf ihren angewiderten Eindruck schließen.
„Ein gewisser Kief hat mich kontaktiert“, ließ sie ihn wissen und die Hyänen sanken einer nach der anderen um sie herum, wie sterbende Fliegen zu Boden. Es interessierte sie nicht einmal. Sie bewegte ihre Finger und hob sie in ihr Sichtfeld. Fasziniert beobachtete sie das rot funkelnde Blut an den spitzen Stilettos. Dann drehte sie sich um: „Er meinte du wärest im Begriff in eine Falle zu tappen und könntest Hilfe gebrauchen. Gern geschehen, Promenadenmischung. Und jetzt räum das auf und verschwinde.“
Ihr Tonfall gefiel ihm. Das und das verräterische Zucken um ihren Mundwinkel. Kan leckte sich über seine blutigen Lippen. Die Wunden heilten schon, dennoch blieb er sitzen. „Für wen hältst du dich, Täubchen?“
Sie sah sich beinah schon arrogant über die Schulter zu ihm um: „Für etwas, dem du noch nicht gewachsen bist.“ Sie lächelte und hob das Kinn: „Meld dich bei mir, wenn du es bist.“ Sie ging ein paar Schritte und ignorierte weiterhin die Hyänen am Boden. Er konnte nur mutmaßen was sie getan hatte: Gift? War seine Beute bereits am sterben oder nur gelähmt? Er suchte die mit dem dicken Klunker um den Hals. Als er den funkelnden Stein hatte und sich umsah, war sie verschwunden, genauso lautlos wie sie aufgetaucht war, um ihm den Arsch zu retten. Verdammt, wenn er etwas nicht leiden konnte, dann jemandem etwas schuldig zu sein. Dann fiel ihm ein, dass er nicht mal nach ihrem Namen gefragt hatte. Er schnüffelte in der Luft. Gut, dann auf die altmodische Art. Da war ein Hauch von Tabak und Wein.
Anmerkungen:
*Stilettos: hier sind gemeint sehr spitze, lange, künstliche Fingernägel
*Gestaltwandler: Weil ich grad Aikens "Lions: Long Island Witches" lese und der Prompt daher wie die Fasut aufs Auge als verkappte FF passt.
*Kanarell und Inavin sind zwei Figuren aus meinem Höllenprojekt, welches ich zusammen mit meiner Liebsten schreibe. Dort hat Kan einen Wolfsdämon und Ina einen Vogeldämon (na ja, oder einen Bärenklau - so weit waren wir mit den beiden Figuren noch nicht.)