Ihr habt entschieden:
Pechmarie sollte das Risiko eingehen und mit dem zwielichtigen Ricdin Ricdon mitgehen.
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Rumpelstielzchens Bruder Ric war ein absolut toller Reisegefährte und Schmuggler. Er war ein unglaublich talentierter inDeckunggeher und Buschschleicher, sowie äußerst organisierter Krimineller.
Aber aus Pechmaries Sicht hätte ihr nichts besseres passieren können. Seit sie durch den Tunnel, den ein paar Gnome gegraben hatten und der seitdem streng geheim immer wieder benutzt wurde von den Rabatten hinter dem Pavillon aus bis in den Schwarzewald hinein gekrochen war. Es war eng gewesen und sie hatten einen Moment lang geglaubt in der völligen Dunkelheit, umgeben nur von Würmern und dem Wissen lebendig begraben werden zu können, einen klaustrophobischen Anfall zu erleiden. Ric hatte ihre Hand mit seinem schlichten Halstuch an seinen Fuß gebunden, damit sie ihm folgen konnte und eben genau nicht anfing zu überdrehen. Und sie hatte bis zu diesem Moment nicht gewusst, dass sie solche Angst verspüren konnte. Sie erkannte auch kein Licht am Ende des Ganges, es war schließlich immer noch Nacht.
„Komm.“ Er reichte ihr die dreckige Hand und sein Gesicht war auch etwas Matschverschmiert.
Im Schein des Mondes und der Sterne erschien ihr die Lichtung wie das Paradies und sein verhärmtes Antlitz wie das eines Engels. Sie ließ sich von ihm das letzte Stück herausziehen und hing noch immer an seinem Fuß. Als er das Tuch losgebunden hatte, sprang sie ihn an und umarmte ihn. Es war spontan, sie war nur so glücklich und erleichtert. Ihr Herz raste immer noch, vor abgefallener Spannung.
Sanft löste er ihre Hände aus seinem staubigen Hemd und der Weste und wühlte herum, bis er einen Rucksack fand, den er wohl dort schon platziert hatte. Er reichte ihr die Wasserflasche. „Da haben wir ja bisher wirklich Glück gehabt“, ließ er sie wissen. „Niemand hat uns entdeckt und der Tunnel ist auch nicht zusammengebrochen.“
Sie verschluckte sich und bekam prompt Schluckauf. „Beschrei es doch nicht noch.“
Ric strubbelte ihr kameradschaftlich über das kurze, stoppelige Haar. „Ich scherz doch nur. Außerdem, Schätzchen, einem wie mir kann ja gar nicht noch mehr Pech widerfahren, als ich eh schon an Generationenflüchen mit mir herumschleppe.“
Er brachte sie damit sacht zum Lächeln.
Hauptsache der Flachsprinz sah sie nie wieder. Sie wollte nie wieder in ihrem Leben ein Spinnrad sehen, geschweige denn Stroh. Aber zu ihrer Mutter konnte sie auch nicht zurück, dort würde der miese Kerl sicher gleich als Erstes nachsehen. Was sollte sie jetzt bloß tun? Gerettet werden war nur die eine Seite der Medaille. Wo hatte Ric wohl all die anderen Frauen hingebracht, die er hier heraus geschleust hatte?
Als sie ihn gerade fragen wollte: „Wo-?“, küsste er sie unerwartet. Direkt auf den Mund, mitsamt ein wenig Erde, die vom Wasser angeweicht war. Pechmarie war zu überrascht. Und anders als bei allen Blicken des Flachsprinzen, fühlte sie sich von Rics Lippen nicht angewidert. Wahrscheinlich dem Moment geschuldet. Sie hielt die Luft an und blinzelte. Es fühlte sich sogar sehr gut an. Seine Lippen waren unerwartet weich und der Kuss ließ sie spüren, wie ihr die Röte bis in die Ohren anstieg wie das Quecksilber im Fieberthermometer. Und nach oben durch die Decke schoss, als er sich zurückzog.
Sein schelmisches Grinsen offenbarte deutlich seine koboldhafte Abstammung väterlicherseits. Und nicht einmal das fand sie abschreckend. „Ist der Hicks weg?“
„Der Hicks?“
„Dein Schluckauf.“ Er lächelte und nahm noch einen Schluck von seiner eigenen Wasserflasche, als wäre gar nichts passiert. „Ist nicht gut mit einem Schluckauf jetzt weiter zu rennen, dann bekommst du Seitenstiche und Krämpfe und wir müssen vor Tagesanbruch noch ein ziemlich weites Stück zurücklegen, zu Fuß.“
Ihr Quecksilber rauschte die Skala hinunter bis unter ihre durchgelaufen Schuhsohlen. „Oh.“ Und sie schluckte es einfach hinunter. Die bissige Bemerkung, ob er das mit allen Maiden tat, damit sie keine Seitenstiche bekamen. Oder ob er öfter diese Gelegenheit ausnutzte und die „Befreiten“ am Ende irgendeiner Hexe verkaufte, für den Ofen. Oder ob er einfach nur so ein Lurch war, der Frauen anküsste und dann mit einem Kübel Eiswasser übergoss. Stattdessen stand sie auf und streckte sich, dehnte ihre Schenkel und klopfte sich ihre Kleidung ab. So stolz sie konnte trank sie dann noch einen Schluck und mimte die Abgebrühte. Die, die schon hunderte Liebchen zu einem Stelldichein getroffen hatte und bei einem solchen Kuss gar nichts besonderes dabei war.
Ric erhob sich schließlich ebenfalls und schulterte den Rucksack: „Na, da komm. Bringen wir dich nach Legendia.“
Sie stratzte schon voller Eifer voran, da blieb sie wie vor den Turm gelaufen stehen. „Legendia? Bist du wahnsinnig?“ Sie war eine gebürtige Mære und wenn Legendianer eines nicht leiden konnten, dann Einwanderer die nicht aus dem Sagenland kamen.
Ric nahm ihre Hand und zog, „Stell dich nicht so an, da bist du in Sicherheit.“
„Ach ja?“
„Ja.“
Sie riss sich los. „Da würde ich eher in die vereinigten Staaten von Mythien oder auf die Fabel-Inseln auswandern.“ Wenn das ihre einzige Möglichkeit war.
„Das ist viel zu weit. Legendia liegt gleich hinter der großen Vokal.“ Der größte Fluß der Welt, welcher durch alle Länder floß und mit sämtlichen Seitenarmen jeden noch so entfernten Winkel streifte.
Pechmarie schüttelte heftig den Kopf, da konnte er sie ja auch gleich an Trolle verkaufen. „Ich werde da nicht Willkommen sein.“ Sicher vor den Gefahren hier: ja. Aber nicht sicher vor was auch immer sie dort erwarten würde. Ihr graute davor. Legendianer waren Snobs, das wusste doch jeder. Weil sie sich etwas viel darauf einbildeten ihre Stammbäume bis zu ihren namensgebenden Ursprungsahnen zurückverfolgen zu können. Und das traf auf die meisten Märchenfiguren nicht gerade zu. Ach was, das war noch untertrieben.
„Was willst du denn sonst tun?“
Pechmarie verschränkte die Arme vor der Brust: „Einen Widerstand organisieren und diesen Flachsprinz aus seinem Anwesen werfen? Oder noch besser: an seine bekloppten Spinnräder ketten und von morgens bis abends Stroh zu Gold spinnen lassen?“
Ricdin Ricdon legte den Kopf schief. „Weisst du, du bist nicht die Erste die sich so ein Unterfangen vorstellt, aber was du dir da in deinem hübschen Köpfchen ausmalst, ist nicht so einfach. Ich mach den Job schon eine Weile, du bist in Legendia sicher, kannst neu anfangen. Eine Ausbildung machen, vielleicht sogar ein Studium.“ Er schenkte ihr ein wärmendes Lächeln: „Oder willst du so enden wie ich und die anderen Gauner?“
Sie sah zum Tunnel zurück und blickte in den Wald, in den sie gehen würden, wenn sie zum Fluß wollten.
Was sollte sie tun? Hierbleiben und ihre halb gare Idee verfolgen oder die zweite Chance im entfernten Legendia ergreifen, trotz zu erwartenden Stolpersteinen?
() Widerstand () Neuanfang