Die Linde war schon alt, als sie hier niedergelassen hatten. Sie stand unweit des Dorfes auf der Anhöhe und unter ihren ausladenden Ästen und dem mehrfach gespaltenen Stamm hatten sie sich mit Steinen einen Platz geschaffen und ihn umhaselt. Es war ihnen eine heilige Stätte geworden und sie nannten den Platz und den Tag, an dem sie hier zusammenkamen: „Versammlungszeit“. Dort verhandelten sie die anstehenden Dinge in einem gerechten Mal. Angeführt wurde das Mal vom Dorfoberhaupt. Zu ihrer Linken saß ‚weise Gedanken‘ Tanka. Zu ihrer Rechten saß ihr ‚Ratgeber‘ Ragin. Hinter ihr stand ihr ‚Schwert und Schild‘ Linda. Neben dem Ratgeber kniete am Boden seine Nachfolgerin Rinelda und neben dem Baum standen Wächter mit ihren Waffen. Ein Geran mit Speer und eine Hildegard mit großem, stacheligen Kampfschild. Weitere Dörfler saßen und standen beisammen. Doch diese Handvoll bildete das Herz ihrer Gemeinschaft.
In ihrer Mitte am heutigen ersten Thing-Tag stand Win. Er war jung, trug noch keinen zweigliedrigen Namen und musste ihn sich erst bei der Weihe verdienen. Er hieß bislang ‚Freund‘, denn bei seinem Namenstag, als er ein Kleinkind gewesen war, hatte er ein sehr freundliches und sanftes Wesen vermuten lassen. Im Gegensatz zu seinem starken Bruder Wil, der inzwischen ein sehr guter Hüter geworden war und stolz den Namen Wilhelm trug. Und als sein älterer Bruder, übernahm er auch für das Kind das Sprechen, statt der Eltern. Win stand im Mal mit erhobenem Kopf, warf flehende Blicke zu seinen Freunden, ein paar von ihnen standen mit im Kreis. Sie hatten ihm im Haupthaus festgehalten, bevor sie ihn hier her geführt hatten. Ihm und seinem Bruder gegenüber stand die fast gleichaltrige Svea, die immer der Sonne zulächelte. Für sie, da sie auch noch als Kind der Sippe, als Kunna galt, sprach ihre Mutter Odarike, die Reiche.
Das Thing heute war von sehr brenzliger Natur und keinem hier war wohl bei der Sache. Denn die Kinder konnten nicht bestraft werden, das war nicht richtig in ihrer Tradition. Und doch musste die Sache verhandelt werden und beide Seiten gehört.
Es kam zuweilen vor, dass sehr junge Verliebte sich vor ihrer Weihe schon einander hingaben und sich die kühnsten Schwüre im Angesicht der Götter versprachen. Manchmal heirateten sie dann später auch, hier im Steinkreis, bei einem freudigen Thing. Manchmal lösten sie sich voneinander, wenn sie erwachsen wurden und vergaßen einander nie. Doch niemals durfte ein Kind einem anderen solch Leid zufügen, wie es Svea Win vorwarf.
Dafür waren sie heute hier zum ersten Mal, um sich die beiden anzuhören, die sich zugewandt standen und sich dabei in die Augen sahen. Svea weinte, während Odarike eine sehr gefühlsbetonte Anschuldigung vorbrachte. Vorgestern soll es gewesen sein, vormittags beim Pilze pflücken im Wald. Da Win Svea verfolgt, aufgelauert und niedergerungen habe, um ihr schreckliches, unaussprechliches Leid anzutun. Sie sei blutend heimgekehrt, berichtete die Mutter und sie habe sofort nach Tanka geschickt. Die weise Älteste hatte sich Svea angesehen und anschließend den Heilkundigen zu ihr geschickt, damit er ihr einen Sud aufgoss. Heute schien das Mädchen schon wesentlich ruhiger und nicht mehr so hysterisch, wusste Tanka hinzuzufügen und auch Helmund bestätigte den Eindruck: Aufgelöst sei sie gewesen, ganz neben sich.
So hörten sie sich das Geschehene an, das Oberhaupt, die Ratgeber und alle anderen Dörfler, die dabei sein wollten. Manche blieben außerhalb der Haselnussäste, da sie nichts zu der Sache beizutragen hatten. Schließlich war Wilhelm an der Reihe, der für Win sprach. Der Jüngling hatte einen hochroten Kopf. Vor Wut? Vor Scham? Vor Schuld? Wer wusste es zu deuten? Es lag an dem Oberhaupt, das Urteil zu fällen. Doch erst hörte es sich die andere Partei an.
Wilhelm behauptete: „Mein Bruder war im Wald. Am Weiher seit dem frühen Morgen, bis zum Nachmittag.“
Ein Raunen kam von den Zuhörern.
„Das ist ja schon ein halbes Geständnis“, knurrte Odarike.
Das Oberhaupt schnappte bissig: „Ruhe. Ihr hattet eure Sprechzeit.“
Wilhelm fuhr dann mit einem Nicken fort: „Er war dort zum Angeln mit Ard und Ulf. Er brachte viele Fische heim, die unsere Eltern räucherten noch an dem Abend.“
Das Oberhaupt sah zu den benannten Eltern. Sie nickten zur Bestätigung, hielten sich im Arm und harrten der Dinge, die da kommen mochten. Und zu den genannten Jungen, Freunde des Angeklagten. Die Jungen stimmten ebenfalls zu.
Win wischte sich unwirsch über die Wange, eine Träne fort?
Ragin fragte deutlich: „Kam er dreckig heim?“
Wilhelm schüttelte den Kopf: „Nein, er kam mit nassen Haaren, frisch gebadet aus dem Weiher, noch Entengrütze im Haar.“ Sein Bruder schluckte.
Odarike zischte etwas, aber nicht so laut, dass man es verstehen konnte, sie wollte nicht erneut gerügt werden. Aber um seine Tat zu vertuschen, hatte der Junge - in ihren Augen - seinen Körper rein gewaschen.
Win sah auf und Svea an: „Ich war das nicht.“
Jetzt knurrte die gesamte Versammlung. Die Kinder sollten möglichst nicht selbst sprechen, da sie noch unmündig waren. Das Oberhaupt rieb sich die Stirn, aber wer wenn nicht die beiden sollte denn hier für Klarheit sorgen?
Es ging weiter. Es dauerte lang. Nachdem Win ausgiebig befragt worden war und das zu noch so kleinen Details. Und sogar ein paar der Umstehenden weitere Fragen einwarfen, die auch gehört und beantwortet wurden, wandte man sich erneut Svea zu. Tanka, die gütige Alte fragte das Mädchen rund heraus: „Lügst du uns auch nicht an, Kunna? War es wirklich Win?“ Der friedliche und sanfte Junge, der sich nie prügelte und dessen höchster Akt der Gewalt das Erschlagen eines Fisches zum Abendessen war?
Svea sah zu Boden, was nicht als Eingeständnis galt. Sie wusste nur einfach, dass ihre Mutter für sie sprach. „Sie lügt niemals.“
Das Oberhaupt erhob sich und rief, da der Tag sich dem Ende neigte:
„Heute haben wir die Gefühle gehört. Morgen werden wir uns erneut hier treffen und die ganze Sache von Anfang bis Ende anhören. Denn ein Mal ist noch kein Mal.“ Und erst nach dem dritten Mal konnten sie eine Entscheidung treffen. Denn dann würden sie hoffentlich erkannt haben, ob Win tief in seinem Herzen einen schwarzen Fleck trug und zu einer solchen Grausamkeit fähig war. Oder ob noch etwas anderes dahinter steckte und Svea zwar nicht log, doch auch nicht alles ihrer Mutter gesagt hatte. Es war schwer, aber nicht unmöglich. Und wenn sich nach diesem ersten Tag erst einmal die Gemüter der nüchternen Sache zuwenden konnten und die hochkochenden Gefühle nicht mehr überhandnahmen, würden sie bald wissen, was wahr war.
inspiriert von:
Geheimnisse hinter den Wörtern und Dingen -
Die Geheimnisse hinter unseren Redewendungen Thomas Hollweck
(korrigiert)