„Na, weil das Wort von dem Portugiesen Correia zu uns kam. Deswegen heisst diese sämige Pampe mit Reis: Correi und nicht Curry.“
Manuela konnte nicht ganz folgen. Als sie das Essen für Antonia und sich zubereitet hatte, hatte sie ja nicht gewusst, was das für eine Diskussion auslösen würde. Dabei hatte sie ihr doch nur eine Freude machen wollen. Sie überraschen, der Tag war sicher lang gewesen und bis sie endlich zu Hause gewesen war, da hatte sie gedacht, sie könnte ihr damit glücklich machen. Stattdessen fühlte sie sich immer unwohler.
Genau genommen heute nicht zum ersten Mal. Das war schon seit Tagen so. Dabei konnte sie den Finger einfach nicht drauf legen was nicht stimmte. Oder ob es nur ein Gefühl war, welches sie aus irgendeinem Albtraum mit herausgenommen hatte und seitdem nicht mehr abschütteln konnte.
Sie wusste nicht wann genau es angefangen hatte, ob es einen Auslöser gegeben hatte. Nur, dass sich alles falsch herum anfühlte. Fast so, als wenn jemand alle Links mit Rechts vertauscht hätte, es aber niemandem auffiel, weil alle dachten, es wäre schon immer so gewesen. Beinah so wie die beiden Haushälften von den Nachbarn und ihrem Haus. Manuela konnte schwören, sie sei es eher gewohnt gewesen alles genau anders herum zu machen. Nein, nicht die Handschrift, sie war schon immer Rechtshänderin gewesen (oder?). Nur eben zum Beispiel, wenn man aus dem Wohnzimmer kam und zur Toilette wollte, dass man dann links abbog und zur Gästetoilette schneller war, als die Treppe hochzusteigen (rechts herum) und nach oben in das große Bad zu gehen. Jedes Mal wollte sie in das kleine WC und jedes Mal wunderte sie sich, dass sie vor den Stufen stand. Als hätte jemand in ihrem Kopf einfach zwei Kabel vertauscht.
Und das waren nicht alle seltsamen Vorkommnisse. Es war auch Antonia. Wenn sie sich liebten und sie sich streichelten, dann war Manuela fest davon überzeugt, dass das was sie tat genau den Spot traf, den ihre Frau am liebsten hatte. Aber jedes Mal drückte sie ihre Hand oder ihren Mund von dort fort und seufzte: ‚Du weisst doch wo ich es am liebsten habe.‘ Ja, wusste sie, sie waren doch schon so lange zusammen. Eine kleine Ewigkeit. Sie kannte ihre Frau genau. Das bewiesen all die Fotos und Postkarten an der Wand.
Es war doch alles wie immer. Antonia ging jede Woche zur Arbeit, zu Fuß oder mit dem Roller und auf dem Rückweg hielt sie an dem kleinen Unverpacktladen und brachte ein paar Kleinigkeiten mit, die sie im Rucksack transportieren konnte. Und Manuela arbeitete daheim in der Garage und dem großen Hinterzimmer, der ihr als Werkstatt diente. Sie reparierte Sachen, das konnte sie am besten. Sie war eine kleine Dr. Who und wenn sie einen Schraubenzieher hatte, konnte sie einfach alles im Universum wieder ganz machen. So war es nun seit Jahren schon.
Nur diese Winzigkeiten, diese Details neuerdings, war sie ihrer Frau etwa inzwischen überdrüssig geworden? Nein, auf gar keinen Fall. Sie spürte tief in sich im Bauch noch immer jenes sehnende Geflatter des exorbitanten Schmetterlings, welcher hinaus wollte und zu Antonias Schmetterling. Auf ihrer Hochzeit hatte auch alles unter dem Motto Schmetterlinge gestanden. Sie beide mochten diese Wesen so sehr. Sie mochten beide die kleine Raupe Nimmersatt und die Metamorphose fanden sie beide gleich interessant und sie liebten beide den Atlasspinner, weil er so unglaublich majestätisch war. Außerdem schleckten sie beide mit Vorliebe an gewissen ‚Buttertöpfen‘. Und deswegen hatten sie auch alles mit Schmetterlingsfreundlichen Büschen und Blumen zugepflanzt. Und deswegen war es umso merkwürdiger, dass Manuela ständig das Gefühl hatte, dass der Flieder letztes Jahr lila geblüht hatte und nicht weiss. Die ganze Zeit schon wunderte sie sich, jeden Morgen, wenn sie in die Werkstatt ging, konnte sie schwören, dass das eine Verwechslung war.
Der Flieder ihrer Kindheit war weiss gewesen. Das wusste sie genau, denn es gab da diese Anekdote, dass ihre Lehrerin sie bat ihren Garten zu malen und sie ein weißes Blatt abgab mit dem Kommentar: ‚Das ist unser Flieder, er blüht weiß.‘ Sie hatte eine schlechte Note bekommen, aber ihre Mutter hatte ihr dafür ein High-Five und ein Eis spendiert. Deswegen war sie sich hundertprozentig sicher, dass hier ein lilaner Flieder stehen müsste. Weil sie insgeheim den weißen Flieder nie so gemocht hatte. Und auch Antonia mochte weiß nicht. Weder am Busch noch im Haus. Grau? Ja Grau war in Ordnung, aber bloß kein Weiß. Sie hatten auch nicht in Weiß geheiratet. Verdammt und wieso zeigte ihr Hochzeitsfoto dann ein typisches weißes Brautkleid? Manuela konnte sich gut an den Tag erinnern, weil sie sich so gefreut hatte einen Ausstatter zu finden, der ihre Schmetterlingsfarben umzusetzen gewillt war. Sie hatte kein Weiß getragen.
„Manu?“ Ihre Frau blinzelte und hörte auf mit ihrer Besserwisserei. Auf der Arbeit hatte sie eine Kaffeetasse. ‚Klugscheißer kann keiner leiden, ich weiß es aber wirklich besser.‘ Und es war mit ein Grund, weshalb Manuela Antonia so sehr liebte. Sie hatte einen ganzen Kopf voller unnützem Wissen, so wie das über die Wortherkunft des Abendessens. Aber sie irrte sich.
„Ich bin mir sicher, dass das ein scharfes Curry ist.“
Antonia starrte sie weiterhin über den Tisch hinweg an und der halbvolle Löffel hing in der Luft vor ihren schön geschwungenen Lippen. „Meine kleine Schwärmerin, was geht denn heute nur in deinem Köpfchen vor?“ Sie legte den Löffel mit Reis und Fleisch zurück an den Tellerrand. „Ist dir nicht gut? Ist dieses ‚Curry‘ ein neues Superfood, oder so was?“
Manuela stand wütend auf: „Nein. Ein Curry, ein stinknormales asiatisches Curry.“ Sie holte ihr Smartphone aus der Hosentasche. Normalerweise hatten sie ein striktes Telefon-beim-Essen-Verbot. Genauso wie im Schlafzimmer. Allerdings nicht wegen des Elektro-Smogs oder schwurbeliger 5G-Aluhut-Träume. Sondern einfach damit es Inseln in ihrem Leben gab, die nur ihnen beiden gehörten und keinem Social Media Gekrähe. Aber heute machte Manuela eine Ausnahme und interessiert schwieg Antonia und ließ ihre Frau in Ruhe die Suchmaschine durchscrollen.
„Ich zeig dir, dass ich Recht habe, ob du es glaubst oder nicht, du weisst manchmal auch nicht alles. Ha, so da ist es: einfaches scharfes Chicken-Correi mit Kokosmilch.“ - Während sie vorlas, wunderte Manuela sich.
Antonia hob belustigt eine Augenbraue, sagte aber nichts, man musste ja nicht noch in der Wunde stochern.
Manuela las weiter: „Schnelles Thai-Correi mit Paprika.“ Sie blinzelte. Sie sah ein Stück höher: Sie hatte in die Suchleiste eindeutig Curry eingegeben, aber in Ermangelung von Ergebnissen hatte der Automatismus ihr eine Änderung vorgeschlagen, in der Annahme zu wissen, was sie wirklich suchte, aber sich nur verschrieben hatte.
Verwirrt hob sie den Blick und steckte das Gerät weg. „Aber, es heisst Curry, ich bin mir ganz sicher. Ich weiss das doch. Es hieß schon immer so.“ Genauso wie sie nicht in Weiß geheiratet hatte und der Flieder nicht weiß war und das Gäste-WC links. Wieso waren all diese Kleinigkeiten verkehrt in ihrem Kopf.
Antonia erhob sich: „Geht es dir gut? Du bist ganz blass. Willst du dich lieber hinlegen?“
Manuela schüttelte den Kopf: „Ich will mich nicht hinlegen, ich will wissen, was hier los ist, wieso ist alles falsch?“
„Wie bitte?“, keuchte ihre Frau entsetzt: „Was meinst du mit‚ alles ist falsch‘?“
Manuela stürmte an ihrer Frau vorbei aus dem Esszimmer ins Wohnzimmer, sie riss die Postkartengirlanden von der Wand: „Das hier.“ Ein gerahmtes Foto folgte: „Das auch.“ Sie fegte mit dem Arm Kinkerlitzchen von der Anrichte im Flur: „Das alles hier.“ Sie war sich sicher: „Es heisst Curry.“ Correi, also echt, so ein Unfug. Im Wohnzimmer tobte sie weiter. Sie riss den Vorhang mitsamt Gardinenstange herunter. Dann hielt sie das Hochzeitsfoto in der Hand: „Das hier ist falsch.“
Antonia weinte, sie stand in der Tür und war unfähig etwas zu sagen.
Das Foto krachte gegen die Fensterscheibe, die war aber stabil und ließ nicht zu, dass es bis auf einen derben Knall Scherben gab.
„Alles hier stimmt nicht.“ Manuela fing an sich gegen den Kopf zu schlagen: „Mach das wieder richtig.“
Im Hintergrund weinte Antonia hilflos weiter.
… - … - … - … - …
„Patientin reagiert ungewöhnlich heftig.“
„Ich sehe es, Doktor.“ Die Ärztin spritzte ein Sedativa direkt in den Zugang an der Hand.
Augenblicklich beruhigten sich die Messskalen. Das sonore Piepen schwoll ab. Die Lichter blinkten nicht mehr hektisch im Flimmern.
Dennoch behielten sie alle die Ausschläge im Blick.
„Was mochte das bewirkt haben?“, fragte der Oberarzt.
Seine Kollegin konnte auch nur vermuten: „Ist mir ebenso ein Rätsel, es könnte ein Geräusch oder ein Wort getriggert haben.“
Hm, beide sahen sich um. In Ermangelung eines sich anbietenden Auslösers, riet die Ärztin, in dem sie an ihrem Kollegen schnupperte: „Oder ihr Mittagessen.“
Er versuchte an sich selber zu riechen: „Ich bin Schuld?“
„Nein, nur der Geruch ihres Essens. Olfaktorische Reize, Erinnerungen an Gerüche sind sehr tief im Gehirn gespeichert, vielleicht haben Sie damit unabsichtlich eine Erinnerung ausgelöst.“
Der Doktor schien mit der Antwort sehr zufrieden: „Das ist ein enormer Fortschritt.“
Die Ärztin lächelte: „Ja, in der Tat.“
Sie zogen sich zurück und überließen dem Pflege- und medizinischen Assistenzpersonal die weiterhin im ‚künstlichen Tiefschlaf‘ gehaltene Patientin Manuela Francos. Die sich fort träumte in eine andere, eine bessere Welt, ein Alternativuniversum voller Erinnerungen und Möglichkeiten. Und wer weiß, vielleicht lebte sie ja wirklich in einem Alternativuniversum und nicht mehr in diesem Fleischhaufen, den man kaum mehr Körper nennen konnte und vielleicht war der Ausschlag in ihrem Gehirn nur ein Echo gewesen.