„Ich habe gehört Sie können machen, dass ich gut schlafen kann.“
Überfallartig trampelt die Frau mit den Stöckelschuhen herein, einfach über meinen Teppich im Flur und bleibt dort unschlüssig stehen. Sie sieht sich um. Meine bescheidenen Verhältnisse behagen nich jedem. Viele finden es hier ungemütlich, nicht wohnlich genug. Ich mag aber einfach keine schreiend bunten Bilder, keine ungeordneten Kleinode auf der Fensterbank. Auch Blumen, die in jede Richtung wachsen sind mir suspekt. Aber ein Ordnungsfanatiker bin ich auch nicht und auch nicht in ein anderes Spektrum hineinzustecken. Ich habe es nur einfach nicht mit Kinkerlitzchen, Kleinkram, Zeug und Dingen. Ich kann prima leben nach der Methode: Ich brauche nur drei Hosen und drei Shirts. Überhaupt komme ich im Alltag ganz normal zurecht, gehe arbeiten, habe Hobbys, treffe Freunde. Und wenn ich bei denen zu Hause bin, fühle ich mich da ja auch wohl, weil es ihre Wohnung ist. Aber das hier ist meine und es ist meine Wohlfühlzone nicht ständig gereizt zu werden.
„Wer sagt denn so was?“, hakte ich mal nach und überlege währenddessen, wie ich die Frau wieder hinauskomplimentieren kann.
„Rudi.“
Ich kenne keinen Rudi. „Haben Sie sich vielleicht in der Hausnummer geirrt?“ Aber irgendwie interessiert es mich schon, was sie mit ‚gut schlafen‘ meint.
„Rudi sagte, Sie kennen da eine Methode, mit dem Haare kämmen, das macht andere Leute ganz … ruhig.“ Sie wird rot.
Ich lege den Kopf schief und jetzt werde ich auch ein wenig rot. Ich habe mit dem Frisörhandwerk nichts zu tun. Ich habe als Kind nicht mal gerne meine eigenen Locke gekämmt. Aber ich liebe es anderen Leuten durch die Haare zu bürsten. Ich mag es mir anzusehen, wir Haare gekämmt werden. Ich liebe mit dem Schlagwort „mesmerizing“ versehene Videos. Wenn jemand intelligenten Sand schneidet, oder eine ganze Tüte Toffee-Bonbons auspackt, jedes einzeln.
Vorsichtig weise ich darauf hin und senke meine Stimme zu einem Flüstern: „Das ist keine wissenschaftliche Methode, das ist Ihnen klar, oder?“
„Ich bezahle Sie, ich kann nicht mehr, ich klammere mich an jede Hoffnung.“ Sie dreht sich um, erst jetzt fallen mir Details auf. Ihr nur ganz leicht ausgeprägter Tic mit der Schuhspitze zu wippen. Das Reiben des Zeigefingers am Riemchen ihrer Umhängetasche, der fahrige Lidstrich und das unebene MakeUp auf den Wangen und unter den Augen. Sie kann es zweifellos, aber sie ist nicht gründlich. Ihr Blick flackert voll Unruhe und bleibt auf mir haften. Was sieht sie an mir? Normale Kleidung für zu Hause, mein ungeschminktes Ich, ganz normal, aber im Gegensatz zu ihr: ganz in mir ruhend.
Nein, sich irgendwelche Videos ansehen in denen Leute beruhigend Flüstern ist keine Wissenschaft und kein geheimer Trick. Das wäre zu einfach. Es ist nur ein Teil eines großen Ganzen.
„Bezahlen?“, hake ich nach, „ich hoffe Ihnen ist klar, dass ich keine käuflichen Dienste im Bett anbiete?“
„Liebe Güte, ich habe genug Sex. Der entspannt aber nicht mehr.“
Dann sollte sie vielleicht zu einem Arzt gehen, statt zu mir zu kommen.
„Bitte“, sagt sie dann, „helfen Sie mir.“
Na gut, ich hebe einladend die Hand zum Wohn- und Schlafraum. Dort bleibt sie wieder unschlüssig stehen. Ich habe keinen Sessel und keine Couch. Mir reicht ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl. Ich bin nicht arm, ich brauche nur nicht viel. Sie nimmt dann den Stuhl.
„Was hat ‚Rudi‘ Ihnen denn erzählt über mich?“, möchte ich jetzt wissen.
„Sie können machen, dass man gut schlafen kann, Sie legen die Hände auf und dann machen Sie etwas mit dem Kopf.“
Ich blinzele und so langsam dämmert es mir. Rudi… der Freund einer Bekannten, der mal da war als ich bei ihr war und über Kopfschmerzen klagte. Und bei dem ich einfach nur ganz leichte Berührungen eingesetzt habe. Ich trete hinter sie an den Stuhl und bewege meine Finger über ihr Haar, bevor ich ihren Zopf ganz langsam auflöse und mit den bloßen Fingern leicht kämme. Ihre Haare sind gewaschen und ganz glatt, sie benutzt ein duftendes Shampoo und einen Conditioner. Es gibt keine Knötchen oder Spliss.
„Das?“, flüstere ich.
Sie ist sich nicht sicher, aber ihre Schultern sinken ein wenig hinab.
Ich raune weiter: „Es fängt im Hinterkopf an, es ist nicht wie eine Gänsehaut, es ist anhaltender, die Herzfrequenz sinkt, wenn ich mit meinen Fingern durch die Haare fahre und Ihre Kopfhaut berühre. Das Kribbeln sollte jetzt in Ihren Nacken hinuntergehen und über die Schultern wandern.“
Sie seufzt leise auf, entspannt sich unter meinen Fingern noch mehr.
„Spüren Sie das elektrische Gefühl, wie es ihre Wirbelsäule hinab kitzelt?“
Nach einigen Minuten beende ich meine ‚Magie‘ und löse meine Finger aus ihrem Haar. Meine Fingerspitzen kribbeln, ich muss mich regelrecht zusammenreissen, um sie nicht direkt wieder in ihrem Schopf zu versenken. Es hat nichts sexuelles an sich. ich habe keinen Haarfetisch, ich liebe nur einfach den Reiz der Haare.
Meine fremde Besucherin sieht sich zu mir um: „Das …“
Ich versuche ihr auszuhelfen: „Tat unerwartet gut?“
Sie nickt, reibt sich mit einer Hand die Schulter, lächelt mich scheu an. Dann steht sie auf. „Darf ich Sie wieder aufsuchen?“
Ich blinzele: „Hören Sie, ich bin keine Therapeutin, oder Heilpraktikerin.“
Sie nimmt meine noch immer kribbelnden Finger in ihre Hand: „Sie haben eine Gabe. Sie haben Wunderhände.“
Das ist wirklich nett von ihr und ich fühle mich sogar geschmeichelt. Während ich noch überlege was ich ihr antworten soll, ist sie schon an der Tür. Ihr Gang ist nicht mehr so hart, wie mir auffällt, sie tappt mit den Schuhen nicht mehr so energisch auf und lächelt. Vielleicht bildet sie sich das nur ein, aber wenn es ihr geholfen hat, na dann Glückwunsch. Sollte sie wirklich noch mal wieder kommen, kann ich ihr ja vielleicht ein paar Links geben.
Autonomous Sensory Meridian Response (ASMR)