Bumm.
Da war Tilly wieder. Da war nur nicht hier. Sondern… nun, Tilly sah sich um und suchte Hinweise. Straßenschilder, Nummernschilder, etwas was ihr sagen konnte, wo sie war. Denn hier war es schön. Für diese Jahreszeit, wenn es denn diese Jahreszeit war. Vielleicht sollte sie nicht nur nach dem da fragen, sondern auch nach dem wann. Ihre Arme waren nackt, keine Uhr. Sie griff sich an die Hüfte und den Hintern, keine Taschen in den Shorts, kein Mobiltelefon. Wie immer tauchte sie einfach wieder auf. Sie sah weiter an sich herab, Stiefel? So richtige Cowboy - sie riss die Hand hoch und packte an den Kopf.
„Ach du Schreck, ein Hut.“
Wer hatte ihr den denn aufgesetzt. Sie trat ein paar Schritte vor und drehte sich um, damit sie sich das Haus ansehen konnte. Sie legte den Kopf schief, der Hut saß wie angepasst, war er vermutlich auch. Hübsches Haus: Veranda, extra breite Holzschaukel, Fliegengitter vor der richtigen Haustür. Und wenn sie sich recht entsann, dann ging es dahinter geradewegs ins Wohnzimmer. Wer machte so was? Was war so schön daran, direkt mit dem Einkauf in die Couch zu rennen? Aber das war jetzt nicht die dringlichste Frage. Wichtiger war: War sie diesmal alleine?
„Hallo?“
Keine Antwort. Oh, gut. Es war immer echt unangenehm, wenn sie mit jemandem Schluß machen musste. Sie musste aber zugeben, stemmte eine Hand in die Seite, das war ein schönes Haus. Sie hörte Pferdewiehern. Oh, sie liebte Pferde. Man nannte sie auch: große Hunde. Langsam trat sie zur Seite und um das Haus herum. Ein prächtiger, großer Stall kam in Sicht. Sie hob die Hände vor den Mund und trippelte auf der Stelle.
„Wie cool.“
Manchmal liebte sie sich dafür. Natürlich musste sie ihren Onkel dringend anrufen und Bescheid sagen, dass sie wieder Tilly war. Aber das konnte sicher noch ein zwei Stunden warten. Abgesehen davon, dass es womöglich eine erhebliche Zeitverschiebung geben würde. Denn wenn sie das richtig interpretierte befand sie sich in Amerika. Nicht ihr bevorzugtes Land, aber es verschlug sie seit über vierzig Jahren immer wieder hier her. Es war eben einfach lästig, wenn man via Schluckauf Teleportieren konnte.
Das war wie Katzenkotze. Neun - Acht - Sieben - Sechs - Fünf - nimm den Teppich lieber weg - Vier - Drei - Zwei - Achtung, letzte Chance - Auflös, Wegteleportier, Materialisier - Blackout. Sie beschrieb es so. Immer wenn sie Schluckauf bekam, diesen wirklich bösen Schluckauf, der weh tat und bei dem sie nicht mehr Atmen und Trinken konnte, verschwand sie einfach plötzlich. Meistens ohne eine Koffer zu packen. Manchmal hatte sie noch ihr Portemonnaie dabei. Und seit sie mit Sechzehn Jahren dann auch einen Brustbeutel und eine Gürteltasche bekommen hatte, nahm sie meistens auch noch mehr nützliche Dinge mit, weil sie diese einfach nie mehr wagte abzulegen. Außer zum Duschen und Schlafen. Tja, aber wenn sie sich so abklopfte, war da gar nichts, außer einem Schlüssel an einer Kette um den Hals. Ein kleiner Schlüssel, wie ein Koffer oder Schließfachschlüssel. Sie würde sich dem Mysterium später widmen. Erst einmal würde sie sich nun die Pferde anschauen gehen.
Aus der großen doppelflügligen Pforte, die weit offen standen, trottete ein Esel heraus, der sie keines Blickes würdigte. Sie sah ihm dafür neugierig nach, als er auf seinen dünnen Beinchen an ihm vorbei stakste. Dann roch sie Heu, Pferde und altes Holz. Schwalben und Spatzen flogen im Inneren herum. Es war, für so viele Boxen echt angenehm hier drin. Sie lächelte. Tiere beruhigten sie, gute Entscheidung hier her zu kommen. Die Wahl gefiel ihr, sie wusste nicht wer sie getroffen hatte, aber abgesehen von den Stiefeln, war es toll hier.
Einmal hinauf und hinunter bis zum Ende des Stalls, alle Türen angesehen, alle Namensschilder gelesen, es kam ihr alles unbekannt vor. Fliegen und Bremsen ärgerten sie an den nackten Beinen, sie versuchte es so weit es ging zu ignorieren. Lästiges Beiwerk. Dann wandte sie sich wieder dem Eingang zu und spazierte hinaus, zum Ranchhouse zurück und warf einen letzten Blick zurück. Braun-Rot-Orange-Gelb-Grüne Blätter an einem unendlichen Baumkronenmeer, zur Seite weite Wiesen und zertrampelte Wege von Hufen. Eine breite Auffahrt und unter dem Carport dicke SUVs. Der Esel streunte einmal um das Anwesen wie ein Wachhund. Sie musst ein Erfahrung bringen wie der hieß, damit sie das aufschreiben konnte. Sie vergaß so viel, sie wollte sich aber gern erinnern, wenn sie heim kam.
Wenn sie zurück in ihr normales Leben kehrte, zu ihrer Familie, ihrem Job und die Stadt auf der anderen Seite der Welt. Diesmal normal, via Jet. Sobald sie ihren Onkel erreicht hatte, Geld überwiesen war und ein Ticket gekauft. Sie würde so gut wie alles hier zurücklassen. Die Stiefel, den Hut, die Shorts, den Esel, nichts davon gehörte Tilly. Wenigstens war das hier so schön entspannend, dass sie wahrscheinlich eine ganze Weile keinen Schluckauf bekommen würde.
Dissoziativer Fluchtreflex= tatsächlich „Fugue (F44.1)“ genannt.