Unter dem Immergrau lebten die Menschen nicht schlechter oder besser. Sie lebten anders. Sie lebten nicht wie im Gestern und nicht wie im Morgen. Mia strich sich über seine Arme und hob den Blick zum Himmel, er war an diesem Morgen hinausgetreten und suchte seine Wahlfamilie. Aber alle waren verschwunden, das Feuer aus, kein Frühstück, die Kissen kalt. Normalerweise ließen sie ihn nicht allein - R’lan schon gar nicht. Die gesamte Gruppendynamik zu beschreiben, fiel dem „wandelnden Buch“ schwerer mit jedem Tag. Als würde er immer mehr vergessen, statt zu lernen seit er bei den Stämmen hier draußen in den Plains lebte.
In der Metropole hatte er ein eigenes Haus gehabt mit Innenhof und Brunnen. Mit zwei Sklaven und vielen Vergünstigungen, weichen Schuhsohlen und einer Matratze. Er musste sich sein Essen nicht teilen, jedenfalls nicht aus einer Schüssel. Alles was er dazu geben musste, war dem Volk, dem Statthalter seinen Körper. Jedes Jahr erneuerten sie die Kurzschrift in seiner Haut, damit sie dunkel hervorstach. Nicht jedes Kind war dazu geeignet, nur wenige überlebten das Gift, welches durch die Haut in den Körper gelangte. Er war resistent gewesen und trug seitdem die gesamte Geschichte der Menschheit auf seinem Körper. Und er rezitierte jede Geschichte, wenn sie nachgestochen wurde. Doch sie wurde nicht mehr erneuert. Er war geflohen aus der Stadt, in jenem schicksalshaften Jahr, als R’lan ihn über den Haufen gerannt hatte. Der flüchtende Sklave, der ungebrochene Rohling. All die Stunden, die er danach mit dem Wilden verbracht hatte, die der Wilde in seinem Bett gelegen hatte, um zu genesen. Von den Prügeln, den Misshandlungen, den beinah Verstümmelungen. Dem Immergrau sei Dank, dass er Schlimmeres hatte verhindern können und R’lan zu sich genommen hatte. Und jetzt waren sie alle hier. Oder eben nicht hier im Zelt.
Die ganze Zeltstadt aus hastig errichteten Nomadenzelten schien heute still zu sein. War denn niemand mehr hier? Wieso hatten sie ihn vergessen? Das hatten sie noch nie getan, seit R’lan Mia und die beiden Sklaven, die nun zu seiner Familie gehörten, hierher geführt hatte. Tirl und Ibu waren aufgeblüht, sie fühlten sich noch immer verantwortlich für Mia, schließlich war er stets nur ein besserer Sklave als sie gewesen, das verstand Mia durchaus. Wäre er eines Tages einfach umgefallen beim Rezitieren und Nachstechen, dann hätte der Statthalter einen neuen Jungen kommen lassen. So hatte R’Lan sein Leben gerettet, nun, verlängert. Um die restliche Zeit mit ihm, diesem wilden, ungezähmten Mann zu verbringen. Und seiner Familie.
Da war Kes, der wunderbare, feurige, der stets lachte. Da war Nhym, die die Mutter des kleinen Eik war. Der Vater konnte durchaus R’Lan sein, aber Mia hatte schon begriffen, dass das hier nicht sonderlich von Belang war. Und nun waren da Tirl und Ibu und so langsam rundete sich Tirls Bauch. Es war wundervoll, mit ansehen zu können, dass sich ihr Wunsch erfüllte. Nächstes Jahr, beim Treffen der Stämme am „singenden Kreis“, wie man das hier nannte, wenn alle Zelte in den Plains aufgeschlagen wurden, dann würden sich die Familien neue Mitglieder wählen. Kes hatte versucht, es zu erklären, in dem er die fragilen Strukturen mit dem Bau eines Miniatur-Tempels aus gepufften Maiskörnern nachzustellen versuchte. Die meisten Familien bestanden aus vier Erwachsenen. Egal welchen Geschlechtes. Sie bildeten die Ecken. Und darauf aufbauend konnte man eine Pyramide stapeln. Kes’ Konstruktion scheiterte an Eik, der sich die Süßigkeiten geschnappt und in einem Haps verschlungen hatte.
Es war kompliziert, auch ohne diese weißen, unförmigen Bällchen. Unter dem Immergrau war jeder Tag gleich anstrengend und mühsam. Und meistens dankte man allen Mächten, die zuhörten, dass man lebte. Wozu also so unglaublich komplizierte Familienverzweigungen erschaffen? Zumal vor R’lans Sklaverei seine Familie wohl auch nicht groß gewesen war, wenn Mia das richtig verstanden hatte. Und jetzt war die Frage, ob Nhym mit Eik womöglich eine neue Familie suchen würde. Wer entschied das überhaupt? In der Metropole war immer alles so reibungslos gewesen. Ein Mann nahm sich eine Frau und sie zeugten Kinder, wie es ihnen von jeher bestimmt war. Hier jedoch gab es eine wochenlang dauernde Zeremonie und so viel Essen und Alkohol, dass danach alle vollkommen benebelt waren, wer konnte denn da noch klar denken und gute Entscheidungen treffen? Es war eine Sache gewesen, damals, von den wilden Stämmen und ihren sonderlichen Riten nur zu hören. Aber nun mitten unter ihnen zu leben, war nicht nur für Mias Füße anstrengend. Auch das Fehlen des Giftes in der Farbe unter seiner Haut, setzte ihm zu. Er war schon so daran gewöhnt, dass er nun, da die Zeichen zu verblassen begannen, spürte, dass er mehr und mehr verlor. Sein „Ich“ verlor. Und das obwohl er zum ersten Mal in seinem Leben ein „Wir“ gefunden hatte. Und ja, er liebte es mit ganzem Herzen, jedes einzelne seiner Familienmitglieder. Nhym durfte nicht gehen, Mia wusste, wenn auch nur einer gehen würde, es würde ihm das Herz zerreißen. Aber er hatte er hier ein Mitspracherecht?
Langsam setzte er sich in Bewegung. Er wusste, wandte er sich nach Sonnenaufgang, von ihrem Zelteingang aus gesehen, würde er das Lager verlassen. Also ging er in die entgegengesetzte Richtung. Hin zu den Steinkreisen und Megalithen, die in verschiedenen Anordnungen einen Kreis bildeten. Den „singenden Kreis“, in dem gesungen wurde, meditiert und getanzt. Jeden Tag, jede Nacht. Es war nicht still dort. „Lärmender Kreis“ hätte vielleicht besser gepasst. Als er sich dorthin wandte und ein paar Zeltleinen und Gegenständen auf der ausgetretenen Steppe auswich, spürte er die Trommeln, bevor er sie hörte. Der Talkessel, in dem diese Steine platziert waren, verstärkte das dumpfe Dröhnen, bevor der Ton auch nur an die Ohren gelangen konnte. Weshalb es die Nomaden vorzogen, so früh wie möglich einzutreffen, und so weit wie möglich am Rand ihre Lager aufzuschlagen.
Als Mia nun zu den ausgetretenen Stufen gelangte, die hinabführten, erkannte er, dass womöglich sämtliche Angehörigen der Stämme hier versammelt sein mussten. Sie standen, saßen und hockten dicht gedrängt auf den natürlichen Steinrängen, die sich in den Kessel geformt hatten durch Erosion und das Betreten tausender Füße über all die Jahre. Aber wieso hatten sie ihn nicht hinzu geholt? War er nicht eingeladen? Mia wollte schon umdrehen, aber zu groß war die Sehnsucht, dazugehören zu wollen. Er ging hinunter, hielt sich an dem dicken, gedrehten Tierhaarseilen fest, die als Steighilfe dienten und passierte die ersten abseits sitzenden Zuschauer. Stillende Mütter, Kinder die schliefen, ein paar Jugendliche, denen der Kopf dröhnte, Alte, die in Ruhe rauchten. Dann wurde es dichter, enger und lauter. Die Trommeln lockten ihn zu kommen. Bald hatte ihn die Menge verschluckt und er musste sich seinen Weg mit den Händen und Ellenbogen bahnen. Auch das kannte er aus seinem alten Leben nicht. Dort hatten sie ihm den Weg stets frei gemacht, eine seiner Privilegien, als „Unberührbarer“.
Sein Herz klopfte heftig, bis er sich endlich bis fast ins Zentrum geschoben hatte zu den Tänzern, den Rauchschüsseln, dem gewaltigen Opferfeuer in der Mitte. Und dort saßen auch die Trommler rund um die Steine. Mia erkannte Kes und R’lan auf Anhieb, wie sie gefesselt an den Steinen hingen.
„Was beim Immergrau soll das?“
Er rannte los, durchbrach den Kreis, quetschte sich zwischen den Musikanten hindurch und griff R’lans Gesicht mit beiden Händen.
„Was ist hier los?“
Den Blick vor Ayahuasca schwer und völlig in einer psychodelischen Trance gefangen, erkannte dieser ihn nicht. Mia roch den faulig-süßen Atem und erkannte an den Rückständen im Mundwinkel und an den Lippen, dass R’lan von diesem eigenartigem Gebräu zu sich genommen haben musste. Es ängstigte ihn, bei Kes würde er sicher dieselben Spuren finden.
„Wer kommt in den Kreis, um sich den Geistern der Ahnen zu stellen?“, forderte eine Stimme.
Mia erkannte erst, dass er gemeint war, als er schon zitternd von R’lan weggetreten war. Er sah sich nach dem Sprecher um, fand aber nur Schamanen und Priester, deren Masken alles verdeckten, was sie zu Menschen machten. Er wollte gehen. Doch etwas hielt ihn fest, als wären seine Füße von Wurzeln umschlungen. Er sah an sich herab, wann - beim Immergrau - hatte er seine Sandalen ausgezogen?
„Bist du hier, um dich einer Prüfung zu unterziehen oder eine Frage zu stellen?“, forderte nun die Stimme hinter der Maske und hob beide Hände, lud ihn ein.
„Ich?“ Mia zeigte auf sich.
Die Stimme war nun sanfter und freundlicher: „Dann tritt heran.“
Mia folgte, in diese Richtung bewegten seine Beine sich problemlos. Dicht vor den heißen Flammen, die den Kessel und den „singenden Kreis“ erhellten, wie es die Sonne schon lange nicht mehr getan hatte, hinter den dichten, schweren Wolken am Himmel, blieb er stehen. Jemand reichte ihm eine Schale mit einer braunen Flüssigkeit, der „Seelenranke“. Wie hypnotisiert trank er davon. Kurz darauf half man ihm aus seiner Tunika und er spürte schnell die Nebenwirkungen. Von dem einen Gift noch nicht entwöhnt, schüttete er das nächstes in sich hinein. Toll gemacht, Mia. So scholt er sich und starrte in die Glut. Schweiß brach ihm aus, teils vom Feuer, aber vor allem von den Drogen. Dann ging er zu Boden auf die Knie und erbrach sich. Er verlor die Kontrolle über sein Gleichgewicht, als sie ihn wieder auf die Füße stellten. Sie drehten ihn und er schwankte. Es erschien ihm unklug auf das Feuer zuzusteuern. Also suchte er sich andere Punkte, doch nichts blieb fixierbar an Ort und Stelle. Alles tanzte, die Steine sangen, R’lan und Kes lachten ebenso wie er, dann schrien sie alle, warum wusste Mia nicht.
Als er sich drehte, warfen die Schamanen goldene Körner in das Feuer. Und es dauerte nicht lange, da explodierten diese und schossen wie gepuffte Sterne in alle Richtungen davon. Mia wirbelte in so vielen Farben herum mit den explodierenden Körnern, dass er irgendwann zusammenbrach und erschöpft liegen blieb, zum Himmel starrte und sah, dass die Wolken aufbrachen, nur für ihn. Er durfte das „Darüber“ erblicken, die Sonne. Und merkte nicht mehr, wie sie ihn fesselten, damit er sich nicht selbst verletzte oder auf andere losging. Sein Blick war gänzlich entrückt.
Als er wieder klar sehen konnte und die eingeritzten Zeichen am Stein vor seiner Nase nicht mehr tanzten, da sah er seine Familie neben sich sitzen. Nhym reichte ihm Wasser, während Kes die Fesseln aufband.
„Willkommen Mia, in unserer Familie.“
Er sprudelte los: „Ich durfte die Sonne sehen.“
R’lan lächelte, seine Augen waren so Grau wie der Himmel. „Du bist gesegnet.“
Mia warf sich ihm in die Arme: „Warum habt ihr mich nicht mitgenommen?“
„Jeder muss selbst kommen, Mia, mein goldener Sonnenseher“, erklärte Kes grinsend und stolz.
Freiwillig, frei - Mia fühlte sich erschöpft. „Den Scheiß mach ich nicht noch mal.“
Die anderen sahen sich untereinander wissend an.
Tirl antwortete schelmisch: „Ich denke doch.“