Pechmarie war vom Pech verfolgt. Sie gab ja gern zu, dass es Fehler in ihrem Leben gegeben hatte, die sie vielleicht auch zum Teil selbst zu verschulden gehabt hatte. Andererseits hatte man ihr eben auch beigebracht, dass man nicht zu Fremden in die Kutsche stieg, nur weil die mit Süßigkeiten oder Welpen lockten. Also warum hätte sie bitte an jemandes Ofen oder Obst gehen sollen? Und überhaupt das Theater mit den Kissen ausschütteln? Hatte mal irgendjemand der alten Schnepfe Holle gesteckt, dass das alles andere als „voll klärchen“ war eine Minderjährige im Haushalt schuften zu lassen? Und was hatte ihre Stiefschwester jetzt davon? Eine Goldallergie, jawohl.
Die Alte war echt nicht mehr ganz dicht. Und sie selbst? Es war sauschwer gewesen das blöde Pech vom Körper zu kriegen. Hatte Wochen gedauert, bis alles weg gewesen war, ohne dass sie gleich in Terpentin badete. Aber davon hatte man ihr strikt abgeraten. Das Haar hatten sie ihr gleich ganz abrasiert, zusammen mit den Augenbrauen. Mit einem Wort: Sie sah nun aus wie ein Waldschrat, bloß gut, dass sie - anders als Goldmarie - nichts darum gab, wie sie aussah. Das ‚arme‘ Goldmariechen, ja ja genau immer bekam sie alle Herzen und Pechmarie gar nichts, außer Dreck nachgeworfen. Dass sie hier auch ein Opfer der Zeit, der Umstände und einer wirklich fragwürdigen Erziehung war, das interessierte niemanden. Niemand schrieb für eine Nebenfigur, die obendrein als Pendant zur Protagonistin herhalten sollte, ein Happy End. Hatte sie sich je beschwert, dass sie diese Rolle zugelost bekommen hatte, weil es eben einfach in Mode war blond zu sein?
Und jetzt das.
Da kam einer daher und hörte wie die Mutter schimpfte und sah wie die Mutter sie mit dem Teppichklopfer verfolgte und fragte dumm was los sei. Und ihre Mutter sagte vor Sarkasmus triefend: „Sieht man doch, meine fleißige Marie spinnt von morgens bis abends“ und schwupp - landete man Kilometer entfernt in einem Arbeitslager voller anderer ‚fleißiger‘ Frauen, die alle von früh bis spät Flachs spinnen mussten. Alter was ein Scheiß.
Dabei konnte Pechmarie nicht mal ihrer Mutter böse sein, sie zankten sich oft, hatten sich aber auch lieb. Und das war ja nur so dahin gesagt, konnte ja keiner ahnen, dass der Kerl sie dann einfach mitnehmen würde. Ihre arme Mutter wusste sicher nicht einmal wo sie war. Außerdem guckte der selbst ernannte Flachsprinz immerzu so komisch, als wolle er die ganzen jungen Frauen der Reihe nach zu sich ins Kämmerlein holen. Das war echt widerlich, wie der guckte. Es kamen auch immer wieder neue Frauen herbei und jeder zeigte er seinen Hof mit denselben Worten.
„Schau, das sind die Flachsvorräte, du darfst die einen Haufen aussuchen.“
Es war jedes Mal eine Falle, denn gesponnen werden musste eh alle. Und er machte ihnen auch schnell klar wie das hier, seiner Meinung nach, zu laufen hatte. Alle die hierher kamen waren die ‚vergessenen‘ Nebencharaktere, die eh keiner leiden konnte. Also sollten sie froh sein, dass sie so noch nützlich waren und Geld für ihre Familien beisammen tragen konnten.
So langsam glaubte Pechmarie wirklich sie war im falschen Märchen gelandet. Kaum etwas hasste sie so sehr wie das blöde Spinnen von Hemden mit dusseligen Sprüchen drauf.
Immer wenn der Flachsprinz kam und ihr Avancen machte, suchte sie nach Ausreden. Das klappte eine ganze Weile recht gut. „Ah, heute ist ganz schlecht, hab grad meine Mens“, „Aye, seht Ihr den Haufen, ich habe wirklich noch viel zu spinnen“, „Habt Ihr das auch gehört? Mein Magen, Entschuldigung Diarrhoe, ja ganz schlimm, geht grad echt voll um hier“ und der Joker: „Ah Filzläuse.“
Doch sie wusste, ewig konnte sie das Spiel nicht mehr mitmachen.
Eines Tages beschloss ihre Bettnachbarin Prinzessin Kröte: „Ich will das nicht mehr, morgen hau ich ab.“ Doch bei dem Versuch davonzulaufen, waren schon etliche „verschwunden“ und Pechmarie riet auch ihrer Nachbarin: „Tu das nicht, wir überlegen uns was anderes, alle zusammen. Wir sind viel mehr und wenn wir uns nur etwas einfallen lassen, dann werden wir das schon schaffen.“
Am nächsten Abend kehrte Kröte nicht zurück zum Bett. Da beschloss Pechmarie sie suchen zu gehen, sie wusste in etwa wo die Mädchen alle als letztes gesehen worden waren.
Am Pavillon.
Sie dachte schon, ihr letztes Stündlein schlug, als ein Mann sie dort überraschte. Sie hielt ihn für eine der Wachen und zog ihm eins mit ihrem Schuh über. Leider war es mehr ein Schlappen und die Sohle schon sehr durchgelaufen, weshalb es ihm wohl nicht sehr weh tat.
Der finstere Kerl wehrte auch nach zwei Schlägen den Schlappen ab und entriss ihn ihr, warf ihn ihr vor die Füße und schimpfte: „Lass das.“
Seine düstere Stimme ließ Pechmarie schaudern. Sie machte sich bereit ihn mit bloßen Fingernägeln zu zerkratzen, als er sich in einen Busch zurückzog. Sie stutzte, das würde keine der Wachen machen. „Was wird das, wenn’s fertig ist?“
„Ich darf hier nicht entdeckt werden, kommst du?“
Wieso sollte sie? „Sicher nicht, oder glaubst du, du kommst mir so leicht unter den Rock?“
Das von schwerer pubertärer Akne völlig vernarbte Gesicht, kam wieder aus dem Busch: „Was bei den drei Haaren des Teufels soll ich unter deinem Rock?“ Er schüttelte die langen, ungepflegt wirkenden Strähnen: „Du bist doch hier, um zu fliehen, oder nicht? Komm, ich habe hier einen geheimen Tunnel.“
Pechmarie ahnte die Finte und wich zurück: „Mich legst du nicht herein, du … du …“
Er half ihr aus, in dem er seine schwarze Wollmütze hob und wieder senkte: „Ricdin Ricdon.“
„Ach nee, der Bruder von Rumpelstilzchen? Du glaubst allen Ernstes ich geh mit dir? Der äußerst zweifelhafte Ruf deiner Familie rennt euch in sieben Meilen voraus, Freundchen.“
„Hey, so wie ich das sehe, sollten Prinzessinnen mit goldenen Kugeln nicht auf gläserne Tanzschuhe werfen.“
Sie stutzte und verschränkte die Arme, da hatte er schon nicht ganz Unrecht. Sie hatte auch so einen lästigen Ruf.
An ihr klebte das Pech ihr Lebtag lang. Was blühte ihr, wenn sie blieb, was erwartete sie, wenn sie mit ihm ging? Sollte sie das Risiko eingehen?
() ja () nein
Das Ergebnis war sehr eindeutig.
Hier geht es also weiter:
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