Das Antlitz zeigte Shanakdakheto, in ihrer ganzen Pracht. Sie war eine schlanke, große Frau mit kleinen Brüsten. Anders als eine Fruchtbarkeitsgöttin der Wilden des Festlandes, die alle mit dicken wohlgenährten Bäuchen, prallen Brüsten und ausladenden Hüften dargestellt wurden. Shana wirkte streng und biegsam, sehr erhaben. Und doch hatte sich der Künstler die Freiheit herausgenommen und ihr ein winziges Grübchen in die Wange geschnitzt, die Andeutung eines amüsierten Lächelns. Sie strahlte dadurch Gutmütigkeit aus und war ein wenig neckisch, vor allem in Verbindung mit ihrer Kleidung. Im Laufe der Jahre hatte sie in der darstellenden Kunst Röcke oder Umhänge getragen. Aber die ursprünglichste Form war die nackte Reinheit, die sie als einzige Zierde benötigte.
In dieser Version hatte man ihr Abbild mit einem Collier behängt. Es war gefertigt aus nicht weniger als dreitausend Tränen der Götter. In den ursprünglichsten Bildern hatte sie keinen Schmuck getragen, aber mit der Zeit dachte man, es würde sich mehr ziemen, der Dame die Blöße zu bedecken.
Bans Hand strich über das Holz. „Wundervoll. Nicht wahr?“, raunte er ehrfürchtig. Deniz neben ihm sah zum Kopf der Statue. Im Gegensatz zum Collier waren die Augen der Figur nicht aus Bernsteinen. Sie antwortete Ban nicht, außerdem nahm sie an, er höre sie ohnehin gerade nicht.
„Sie ist zu groß“, schloss Ban, während seine Hand über die Zehen der Dame strich.
„Zu groß?“, fragte Deniz nach und sah sich die in Lebensgröße geschnitzte, sitzende Frau auf ihrem Podest an.
Ban wandte ihr den Kopf zu und sie sah ihn ehrlich lächeln: „Ich kann sie nicht mitnehmen!“ Er nickte zum Sockel.
„Mitnehmen?“ Das Entsetzen war deutlich heraus zu hören.
Ban lachte nur: „Ja! Sie gehört hier nicht hin. Tief verborgen in diesen Höhlen, voller Fledermäuse, so allein, so weit fort von ihrem Volk!“
Deniz blinzelte: „Ihrem Volk?“ Sie kniff ein Auge zu: „Es ist eine ehemalige Adelige, oder nicht?“
Völlig verstört wandte sich Ban von der Figur ab und sein Unterkiefer klappe hinab. „Äh!“, machte er und kam erst dann darauf, dass die junge Frau vor ihm, ja natürlich keine Ahnung haben konnte. Ab und zu vergaß er, dass er es mit einer unterbelichteten Wilden zu tun hatte. „Das ist eine Göttin“, erklärte er, „keine popelige Adelige, irgendeiner eurer Regenten!“
Jetzt lachte Deniz auf: „Ach, so ein Unfug.“ Sie wedelte mit der Hand. „Alle Götter sind tot!“
„Das ist nicht wahr!“, schützend schob er sich zwischen die Statue und die Jugendliche. „Shana lebt! Shana wacht über ihr Volk! Während eure barbarischen Götter sich gegenseitig zerfleischt haben! Da blieb sie standhaft und treu! So wie es sich gehört für eine Mutter! Und sie wird uns niemals im Stich lassen, so wie ihr verlassen worden seid. Abgelegt und allein gelassen! Führungslos, dazu verdammt euch gegenseitig an die Kehle zu gehen!“ Er ereiferte sich so sehr, dass er das kleine Grinsen in dem zerkratzten Gesicht seiner Gegenüber nicht bemerkte.
Deniz zuckte die Schulter: „Na wenn das so ist!“
Ban streckte beide Arme zu den Seiten aus. Deniz wandte sich ab und dem mickrigen Lagerfeuer zu, welches sie hier aufgeschichtet hatte. Sie setzte sich auf ein verdrecktes altes Schafsfell und kehrte ihm den Rücken zu. Draußen tobte das Sommergewitter weiter und wehte den unverkennbaren Geruch in die Höhle.
Erst als sie Steinchen klappern hörte, wagte sie einen Blick über die Schulter zurück. Im flackernden Schein des Feuers suchte sie den Bereich um die Figur ab. Aber Ban war nicht zu sehen. Sie machte eine Bewegung aus. Ihr klappte der Mund auf: „Was bei allem…?“ Sie konnte gerade noch einen deftigen Fluch unterdrücken und sprang auf: „Was tust du da oben? Komm sofort runter!“ Sie räusperte sich: „Du brichst dir noch den Hals.“ Aber der Mann kraxelte an den Armen der Figur hinauf, schlang seine Beine um den Körper und verhakte sie vorn unter den Brüsten. Sie sah seine Hand, die sich um den schlanken Hals schob, den Arm wie zum Würgen darum herum. Wahnsinniger Narr! Wie konnte er denn mit dem Bildnis seiner angeblichen - doch so verehrten - Göttin umspringen? Ban fingerte mit der freien Hand an dem Collier. Sie riss die Augen weit auf, als sie erahnte, was er da vor hatte. „Lass das! Ist so was nicht ziemlich schändlich? Du kannst doch deiner Göttin nicht den Schmuck klauen!“
Ban schnaubte von oben: „Reg’ dich ab! Das ist nur eine Statue. Und das hier sind Bernsteine!“ Er maß ihrer Entrüstung keinerlei Bedeutung bei. Erst als er das schwere Ding über den Kopf der Statue gezogen hatte, fragte er sich, wie er es in einem Stück hinunter befördern sollte. „Deniz! Hilf mir!“, befahl er und ließ die Kette hinab sinken, auf Hüfthöhe der Figur.
Die junge Frau weigerte sich und verschränkte die Arme: „Sicher nicht! Du bist ein Lügner, Betrüger, Grabräuber und nun Gotteslästerer und Figurinenschänder!“ Sie drehte sich demonstrativ fort: „Wie kannst du das nur tun?“
Er rollte mit den Augen: „Ich bin mir ziemlich sicher, dass irgendjemand Fremdes, mit wilden ungläubigen Fingern, sie früher oder später finden wird und es klauen wird! Bei mir ist es sicherer aufgehoben!“ Deniz schüttelte den Kopf: „So was tut man einfach nicht!“ Dann hörte sie, wie die Bernsteine klapperten, und drehte sich zackig um. Sie griff sichernd nach der Kette.
Mittlerweile hing Ban über der Schulter der Göttin und ließ das Collier langsam ab. Sie nahm es entgegen und zog das schwere Stück an ihren Körper. Ban folgte und sprang von der Statue zu Boden. „Das hier muss so etwas wie ein geheimer Tempel gewesen sein. Wahrscheinlich von irgendwelchen frühen Erkundungen meines Volkes. Damals waren sie sehr tüchtig und versuchten alles auf der Welt zu erkunden. Anscheinend hatten sie sich hier etwas länger aufgehalten. Was für ein Fund!“ Er nahm Deniz die Kette ab: „Dieses Stück wird sich hervorragend in meiner Sammlung machen!“
Ächzend schlug Deniz ihm gegen den Oberarm: „Sammlung?“ Sie war fassungslos und wütend: „Du… du… mir fällt wirklich kein Wort für dich ein!“
Ban grinste sie an: „Probier es mit Monster. Das hat sich bewährt.“
Die junge Frau drehte sich der Statue zu: „Du hast sie entehrt, wie schamlos du bist!“
Ban folgte dem Dreh ihres Kopfes und zuckte gelangweilt: „Nackt gefällt sie mir eh am besten!“
Noch fassungsloser hörte er Deniz scharf die Luft einsaugen: „Das kann nicht dein Ernst sein!“
Aber Ban trat hinüber zu seinem Bündel und setzt sich, um die Bernsteine genauer zu untersuchen. Reihe um Reihe war säuberlich durchbohrt und aufgefädelt. Er hatte so ein verfluchtes Glück! Die Schnüre waren schon so porös und ausgefasert, sie konnten jederzeit reißen. Dann hätte er jetzt hier im Halbdunkeln lange suchen können. Er nahm das gute Stück so intensiv in Augenschein, dass er nicht bemerkte, wie seine Begleiterin einen angedeuteten Knicks vor der Statue machte und eine Schutz Geste zur Abwehr böser Götterflüche in Richtung Shanas winkte.
Leise, wie zu sich selbst, sinnierte er zufrieden: „Das ist unglaublich!“ Die äußerste und längste Kette bestand aus vielen kleinen matten gelben Bernsteinen, durch die man nicht hindurchsehen konnte. Die danach war aus oval geschliffenen, länglichen, klaren Steinen. Dann kam wieder eine mit eckigen Milchigen. Dann wieder eine Reihe Ungetrübter. Und so weiter, in allen Abstufungen und Formen. Aber die Innersten waren mit Abstand die Spektakulärsten. Denn in ihnen waren pflanzliche Teile eingeschlossen. Er sah ein Blatt, den eingerollten Strang eines Farns und einen fedrigen Schirm. Eine Knospe und eine halbe Blüte. Keine Insekten, nur Pflanzenfasern. Aber das machte nichts. Der Fund war beinah mehr wert, als alle seine anderen Stücke, die in seinem Zimmer auf seinem Trimaran eingebaut waren. Er hatte seine Kajüte mit ganzen Glasblöcken ausgestattet, in denen wie in einer Vitrine seine Sammlung aufbewahrt war. Die ’Tränen der Götter’, wie sie genannt wurden. Für die Wilden nicht mehr als billiger Schmuck, angeblich keine echten Edelsteine. Für Ban und sein Volk das Heiligste, das man auf dieser Welt finden konnte. Und er war besessen davon. Und dieses Collier! Mit all seinen Einzelteilen, verbunden zu einem ausgesuchten Stück menschlicher Handwerkskunst - was für eine Entdeckung. Sobald er bei seinen Leuten war, würde er dafür sorgen, dass auch die Statue geborgen werden würde. Aber das hier konnte er nicht zurücklassen! Irgendein Bastard würde die Tränen ins Feuer werfen! Weil sie so herrlich gut und lange brannten! Das konnte er nicht zulassen! Shana hatte ihn zu Deniz geführt und es regnen lassen! Daran gab es keinen Zweifel. Shana wollte nicht, dass dieses wundervolle Stück von jemand anderem gefunden wurde. Sie vertraute es ihm an!