Das ist Federrick. Er ist mein Schutzengel. Ich bin mit ihm per du, seit ich in der 4. Klasse den Fahrradunfall hatte. Auf der großen Kreuzung, auf der ich Links abbiegen musste, um nach Hause zu kommen. Und mich ein LKW überholen wollte. Der mein Bike zu einer 8 gedreht hat und meinen über alles geliebten Haarreifen zerbrochen. Ich kann mich daran erinnern, dass der Fahrer ausstieg, um den Laster herumlief und „Oh mein Gott, wo ist das Kind?!“ suchte. Während ich mucksmäuschenstill auf dem Bürgersteig stand und meine Klingel anstarrte, die losgelöst vom Lenker in den Rinnstein gekullert war.
Federrick rennt seitdem neben mir her. Immer auf der rechten Seite. Wenn ich im Auto sitze, sehe ich ihn manchmal neben der Fahrbahn galoppieren. Denn er ist ein Pegasus. Na ja, sagen wir unsere Vorstellung eines geflügelten Pferdes kommt seiner Beschreibung am nächsten.
Wenn ihr es genau wissen wollt, er sieht so aus:
Seine Flügel sind Novembernebel, seine Mähne grün-gelb-rot-braunes Oktoberlaub, seine Hufe donnern wie Septemberregen, sein Herz ist ein Augustsonnenstrahl und sein Horn besteht aus dem ersten Dezemberraureif. Seine Augen sind der Kosmos und sein Leib ist bedeckt mit einem Fell, so weich wie ein Pilz. Er ist nicht Tier, nicht Pflanze, nicht Flechte und nicht greifbar für mich.
Nur ein einziges Mal spürte ich wirklich wie er mich packte. In vollem Lauf hechtete er über die Straße und rammte mich aus dem Sattel, schleuderte mich zum Fahrbahnrand und ummantelte mich in Blättern. Als ich wieder auf meinen Beinen stand, war er verschwunden, nur das feuchte Laub klebte an meiner Hose und meiner Jacke. Ich fand noch später zu Hause, als ich die Jacke aufhängte ein Blatt in der Kapuze. Doch es verschwand, wie alles andere beweisbare an diesem Tag. Federrick sehe nur ich, und auch nur wenn die Sonne so steht, dass sein Horn kurz blitzt und ich flüchtig im Augenwinkel das kräftige Muskelspiel seiner Flanken sehen kann. Versuche ich genauer hinzusehen, entzieht sich mir die Wahrnehmung immer stärker. Dann bleibt nur das sichere Gefühl, dass er da ist und auf mich Acht gibt. So lange bis meine Zeit gekommen ist und entweder er zu spät herbeieilt oder es womöglich gar nicht mehr verhindern soll. Wenn eines Tages der Augenblick kommt, an dem er mir die Chrysanthemen schenkt.
Dann darf ich ihn fassen, streicheln, umarmen und mich auf seinen Rücken setzen. Er wird mich mitnehmen. Dorthin wo auch immer er herkommt. Damit ich auch irgendwann ein Schutzengel für jemanden werden kann und ich bin schon sehr gespannt darauf, was ich dann werde.
inspiriert von:
https://web.archive.org/web/20120401130649/http://www.rabenseiten.de/blumiges/bsprache.htm
Chrysantheme - mein Herz ist frei