Vollständiger Klappentext
Nur ein Fehler, ein paar Drinks zu viel am Lagerfeuer und ein Geständnis, das alles veränderte. Erik ist achtzehn und hat vor drei Wochen sein letztes Schuljahr begonnen. Nachdem Schulrowdy Sandro erfahren hat, dass er schwul ist, gönnt der ihm jedoch keine ruhige Minute mehr. Der dämliche neue Deutschlehrer macht die Schule auch nicht gerade erträglicher. Aber dann trifft Erik den Studenten Tom und mit diesem keimt die Hoffnung, endlich herauszufinden, wohin die Zukunft gehen kann. So scheint es bald, als ob Erik in seinem letzten Jahr wohl tatsächlich einmal nicht nur für die Schule, sondern für das Leben lernt.
Vorbemerkung
Diese Story habe ich 2020 geschrieben und 2022 noch einmal überarbeitet. Die hier veröffentlichte Version ist die aktuellste.
(beendet, fertig hochgeladen)
Wie immer würde ich mich sehr über Feedback jeder Art freuen und wünsche viel Spaß beim Lesen.
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1 – Jugend und Wut
Lautes Krachen hallte durch die Stille der kleinen Drei-Zimmer-Wohnung, als ein Rucksack in die Ecke flog. Kurz darauf das Knallen einer Zimmertür. Wäre außer dem Verursacher des Lärms selbst noch jemand anwesend, hätte er – in diesem konkreten Fall genau genommen ‚sie‘ – sich vermutlich gewundert, was schon wieder los war. Da dem allerdings nicht so war, konnte sein Ausbruch dem groß gewachsenen Jungen, der ihn verursacht hatte, schlicht nicht die Genugtuung verschaffen, die er gebraucht hätte.
„Verdammte Scheiße!“, fluchte Erik und trat noch einmal nach dem bereits reichlich malträtierten Rucksack.
Wenn man ihn anbrüllte, konnte er abblocken. Schimpfte jemand mit ihm, konnte er ihn ignorieren. Aber so lange ihn niemand wahrnahm, war Erik quasi unsichtbar – und in gewisser Weise hilflos. Ein Gefühl, das er in seinen bisherigen achtzehn Jahren nie zugelassen hatte. Weder für seine Wut, noch für ihn selbst schien sich aber irgendjemand zu interessieren.
‚Nein, das stimmt so nicht‘, dachte Erik.
Er fuhr sich durch die stoppeligen, kurzen blonden Haare. Es war nicht so, dass man ihn nicht bemerkte. Im Gegenteil. Da waren viel zu viele Leute, die ihn mit einem Mal wahrnahmen. Er war ihnen nur trotzdem scheißegal. Der Dreck unter ihren Schuhen war den Idioten mehr wert.
Genau das war der Grund, warum Eriks Blut gerade kochte. Dieses Arschloch von Deutschlehrer hatte ihn schon wieder wie einen Idiot behandelt! Was bildete der sich eigentlich ein? Der Mistkerl war gerade mal drei Wochen an der Schule. Genauso lange wie dieses beschissene Schuljahr lief. Dazu kam, dass der Kerl kaum älter aussah als einige seine Schüler. Und so ein Milchgesicht erlaubte sich, Erik permanent wegen ‚nichts‘ zurechtzuweisen.
‚Was weiß der schon?!‘
Nur weil er die beschissenen Hausaufgaben diesmal nicht rechtzeitig fertig bekommen hatte. Das war schließlich kein Weltuntergang! Wen scherte denn bitte Deutsch? Einen anständigen Roman hatte Erik ja schon immer gern zur Hand genommen. Aber sicherlich nicht den Scheiß, aus dem Deutschunterricht. Konnte schließlich nicht jeder gelangweilt in der Sonne liegen und irgendwelche Gedichte lesen. Erik schnaubte. Sah er aus wie ein verdammtes Mädchen, das tagträumend rumlag und sich Poesie reinzog wie andere Leute Netflix?
„Sicher nicht!“
Außerdem hatte Erik im Gegensatz zu den meisten seiner Mitschüler einen Job nebenbei zu erledigen, um wenigstens annähernd über die Runden zu kommen. Da seine Mutter ihm kein Taschengeld zahlen konnte, waren die paar Kröten, die Erik mindestens zweimal die Woche am Nachmittag bei Herrn Ceylan im Laden verdiente, derzeit seine einzige Einkommensquelle.
Aber interessierte das jemanden? Nein. Selbstverständlich nicht. Warum auch?
Ständig nur Hausaufgaben, Kontrollen, noch mehr Aufgaben, Klausuren. Gab es denn nichts anderes? Schule war inzwischen echt zum Kotzen! Wenigstens hätte er es nach diesem letzten Schuljahr endlich hinter sich. Trotzdem fragte Erik sich manchmal, wozu er sich abmühte. Damit er später weiter die Schulbank drückte, nur das die sich dann an der Universität befand? Dafür anstrengen? Echt jetzt? Wäre hilfreich, wenn Erik wenigstens einen Plan hätte, was er denn studieren könnte.
Und die Alternative? Trotzdem Schule. Irgendeine dämliche Ausbildung, die Erik vermutlich hassen würde wie die Pest. Nur um sich am Ende mit viel Glück in einem abgekackten Bürojob zu langweilen? Bei Eriks seit letztem Frühjahr stetig deutlicher absackenden Noten wäre es ohnehin ein Wunder, wenn er überhaupt irgendetwas in dieser verfluchten Stadt fand.
Die Realität war schlicht und ergreifend, dass das letzte Schuljahr angebrochen war und Erik noch immer keine Ahnung hatte, was er nach dem Abschluss mit seinem Leben anfangen wollte.
„Und dieser Arsch von Lehrer macht alles nur noch schlimmer!“, schrie Erik in die Stille des Zimmers.
Wütend setzte er sich auf das Bett und starrte ins Leere. Sein Magen knurrte, aber er ignorierte es. Erik war zu geladen, als dass er jetzt an etwas Profanes wie Essen denken wollte.
Wieso hatten eigentlich ausgerechnet sein Kurs den Neuen bekommen? Herr Mayer, ihr alter Lehrer, war gerade einmal etwas über sechzig gewesen. Der hätte das letzte Jahr locker durchgehalten. Aber nein! Stattdessen bekamen sie den Anfänger, der – wie man hörte – erst letzten Sommer das Referendariat hinter sich gebracht hatte. Wer kam überhaupt auf die bescheuerte Idee, so jemanden in einem Abschlussjahrgang einzusetzen?!
‚Boah, der Arsch war vermutlich dafür an der Grundschule! In der Oberstufe hat das Babygesicht jedenfalls nichts zu suchen!‘
Grummelnd erhob Erik sich irgendwann, als sich das Knurren seines Magens nicht mehr ignorieren ließ. Die schlechte Laune verschwand allerdings auch nicht, nachdem er sich das Tiefkühlessen aus der Mikrowelle einverleibt hatte.
Vielleicht würde ihn etwas Fernsehen endlich ablenken. Das Zappen durch die Kanäle führte jedoch ausschließlich dazu, dass Eriks schlechte Laune von Langeweile abgelöst wurde.
Auf Hausaufgaben hatte Erik keine Lust und Herr Ceylan, hatte ihm vom Vortag bereits gesagt, dass er für heute Nachmittag niemanden brauchen würde. Plötzlich hörte Erik den Schlüssel in der Wohnungstür. Kurz darauf stand seine Mutter im Wohnzimmer.
„Glotzt du schon wieder nur auf die die Mattscheibe, Erik?“
Mit einer Mischung aus Langeweile und ‚angekotzt von allem‘ sah er zu ihr auf. Bei ihrem verständnislosen Blick durchzuckte ihn jedoch erneut die Wut und Erik funkelte sie mit zusammengepressten Lippen an.
Am liebsten hätte er ihr direkt ins Gesicht gesagt, dass er kein Kind mehr war. Wenn er hier vor dem Fernseher hängen wollte, war das verdammt noch mal seine Sache! Aber Erik schwieg und wandte sich stattdessen wieder ab. Egal, was er sagte, es würde die Situation nur verschlimmern. Sie verstand von seinen Problemen ohnehin nichts.
‚Genau wie der dämliche Lehrer.‘
Seine Mutter schüttelte resignierend den Kopf, bevor sie sich umdrehte. Erik hörte das Rascheln von Plastiktüten, als sie vermutlich die Einkäufe in die Küche schaffte. Er ignorierte sie – sowohl die Geräusche als auch seine Mutter. Für solche nachpubertären Launen hatte sie schon lange keine Nerven mehr, das wusste Erik nur zu gut. Außerdem hatte sie sowieso nie Zeit. War ja aber auch nicht so, dass es ihn sonderlich danach drängte, ihr von seinen Problemen zu erzählen. Dann müsste er ihr schließlich ebenso gewisse andere Dinge auf die Nase binden.
‚Schweigen ist Gold’, dachte Erik bei sich und sank tiefer in den Sessel.
Wahrscheinlich war das hier für seine Mutter inzwischen ohnehin alles, was Erik noch auf die Reihe brachte: vor dem Fernseher zu hocken, ihren Kühlschrank leer zu essen, während er sie anschwieg. Na ja, abgesehen von den paar Stunden Ladenaushilfe und den verkackten Hausaufgaben, lag sie da derzeit sogar richtig mit.
Das vergangene Jahr, insbesondere der letzte Sommer hatte zu viel umgeworfen, hatte Erik zu sehr verändert. Zwischen ihnen beiden war Schweigen und aus ‚dem Weg gehen‘ schon immer eine akzeptable Lösung für alle möglichen Probleme gewesen. Seine Mutter hatte keine Zeit und Erik ließ sie in Ruhe. Eine Übereinkunft, mit der beide gut zurechtkamen. Zumindest in den letzten Jahren.
Früher war das anders gewesen. Zu einer Zeit, als sein Vater noch hier gewohnt hatte. Ein cholerisches Arschloch sondersgleichen. Trotzdem hatte Erik als Kind dem Kerl stets am Hosenbein gehangen. Aber der war ja vor sechs Jahren endgültig spurlos verschwunden. Wohin auch immer.
Irgendwie war Erik danach mit seiner Mutter ausgekommen und am Anfang hatte es Zeiten gegeben, da hatten sie über alles reden können. Fast alles. Die letzten Wochen und Monate hatten Erik gezeigt, dass er so einiges ertragen konnte. Ihr enttäuschter Blick gehört nicht dazu.
‚Nicht darüber nachdenken‘, sagte Erik sich und zappte einen Kanal weiter. ‚Sie wird es nicht erfahren. Zumindest nicht in absehbarer Zeit.‘
Wenn die Mistkerle in seiner Klasse Erik fertigmachen wollten und der Arsch von Deutschlehrer da mitmachte, war das eine Sache. Aber garantiert würde Erik nicht riskieren, dass seine eigene Mutter ihn genauso ansah wie diese Vollidioten in der Schule.
So erbärmlich das klang, aber sie war trotz allem die Einzige, die Erik etwas bedeutete. Der Rest der Menschheit ging ihm am Allerwertesten vorbei. Die konnten von ihm halten, was sie wollten. Der Gedanke, den gleichen Spott oder gar Abscheu in ihren Augen zu sehen, schnitt Erik jedoch tief in den Magen.
‚Nein. Sie wird es nicht erfahren.‘
„Ich will nachher auch Fernsehen“, rief seine Mutter lapidar, als sie wieder am Wohnzimmer vorbeikam, um zum Bad zu schlurfen und sich frisch zu machen.
Erik nickte, zappte trotzdem desinteressiert weiter durch die Programme. Es kam ohnehin nichts. Jede Woche die gleichen blöden Serien. Ab und an ein Spielfilm, den er schon zwanzig Mal gesehen hatte. Als Eriks Mutter mit frisch gewaschenen Haaren in der Wohnzimmertür auftauchte, schaltete er demonstrativ den Fernseher ab und stand auf.
„Wieso gehst du nicht mal aus, Erik? Du bist achtzehn. Triff dich mit deinen Freunden oder so“, meinte sie leise.
Er konnte die Traurigkeit in ihrer Stimme hören. Vielleicht war es auch schlichtweg Enttäuschung darüber, dass Erik hier ihrer Meinung nach seine Jugend verschwendete. Aber sie bekam trotzdem lediglich ein lapidares „Kein Bock“, zur Antwort.
Erneut schüttelte seine Mutter voller Unverständnis den Kopf und ließ sich auf die Couch fallen. Erik sah sich von der Wohnzimmertür aus zu ihr um. Für einen Moment war er versucht ihr zu gestehen, dass er keine Freunde mehr hatte und dass ihm das nicht so sehr am Arsch vorbeiging, wie er es sich wünschte.
‚Es wird nichts ändern.‘
Schweigend ging Erik in sein Zimmer. Dort ließ er sich rückwärts auf das Bett fallen. Die Arme von sich gestreckt, starrte er an die Zimmerdecke. Ausgehen – wenn das so einfach wäre. Freunde hatte er nach diesem beschissenen Sommer keine mehr.
‚Nicht seit ...‘
Erik seufzte und schloss die Augen. Egal wie oft er sich einredete, dass er diesen ganzen Scheiß nicht brauchte, das unangenehme Stechen im Bauch sagte etwas anderes. Gerade einmal zwei Monate war es her, dass sein Leben im Dreck gelandet war. Und dennoch kam es Erik wie eine Ewigkeit vor.
Dabei war er in den letzten Jahren, so oft es finanziell drinnen gewesen war, ausgegangen – egal ob mit oder ohne Begleitung. Nur dafür hatte Erik den Job bei Herrn Ceylan ursprünglich angenommen. Um genug Geld zu haben und sich wenigstens einmal die Woche ein paar Drinks oder einen Kinobesuch leisten zu können. Aber das war vorbei. So unkompliziert wie früher war ‚Weggehen‘ für ihn nicht mehr – zumindest nicht dorthin wo Erik mit seinen Kumpels verkehrt hatte.
‚Das würde alles nur schlimmer machen.‘
Nachdem Erik fast eine Stunde herumgelegen und an die Decke gestarrt hatte, richtete er sich wieder auf. Er ließ seine Augen zu dem achtlos herumgeworfenen Rucksack hinüberwandern. Für Deutsch musste er noch immer diesen dämlichen Hausaufsatz schreiben. Wieder stieg die Wut vom Nachmittag in Erik auf.
Warum hatte der Idiot von Lehrer eigentlich nur ihm eine Strafe aufgedrückt? Er war nicht einmal schuld gewesen. Sandro hatte schließlich angefangen, ihn wie ein beschissener Grundschüler mit nassen Papierkügelchen zu beschießen, bis Erik ihn angebrüllt hatte, den Scheiß endlich zu lassen.
Und was passierte?
Natürlich hatte Erik die Standpauke kassiert, weil er angeblich den Unterricht gestört hatte. Als ob es seine Schuld war, wenn Sandro sich wie ein verfluchter Siebenjähriger aufgeführt hatte.
‚Dieses Arschloch von Lehrer!‘
Der Mistkerl hatte Erik geradewegs zusammengestaucht und nach der Stunde auch noch eine Strafarbeit aufgebrummt. In Eriks Brust zog und zerrte etwas, das nach draußen brechen wollte. Ein zunächst sanftes Feuer, das je stärker er versuchte, es zu ignorieren, immer heller brannte. So lange bis Erik es nicht mehr aushielt.
Er sprang auf und schnappte sich den Rucksack. Mit einem lauten Klatschen schlug der Block für Deutsch auf dem Schreibtisch auf. Der dämliche Arsch Berger wollte einen Aufsatz? Sollte er kriegen! Der Mistkerl würde es noch bereuen, dass er ihn so behandelt hatte.
—✑
Als Erik am nächsten Morgen in die Schule kam, blieb ihm jedoch keine Gelegenheit sich an besagtem Lehrer zu rächen. Kurz nachdem er das Klassenzimmer betreten hatte, fielen bereits drei Jungs aus seinem Deutschkurs über ihn her – Sandro allen voran.
Es begann mit einem verdammten Schubsen, noch während Erik den Raum betrat. Offenbar war er nicht ‚schnell‘ genug gewesen – so zumindest die Ausrede. Natürlich hatte Erik Sandro angeblafft, was der Scheiß sollte. Aber der hatte nur gegrinst. Mit seinen Kumpels Oliver und Luca im Schlepptau fühlte der Affenarsch sich ja immer überlegen. Zu dritt waren sie das dummerweise auch. Zwar würde Erik sich garantiert nicht als Schwächling bezeichnen und jedem einzelnen dieser Idioten wäre er in einem fairen Kampf haushoch überlegen. Gegen drei Gegner hatte aber auch er kaum eine Chance.
Und der Rest des bereits anwesenden Kurses hatte wie immer geschwiegen. Aus dem simplen Grund, weil sie sich selbst nicht mit Sandro anlegen wollten.
Entsprechend hatte Erik sich ein paar Sekunden später am Boden wiedergefunden, Pummelchen Oliver auf seinem Rücken, während Sandro den Rucksack durchwühlte. Die Mistkerle wussten genau, was sie suchten. Schließlich hatte jeder mitbekommen, wie Berger Erik am Vortag die beschissene Zusatzaufgabe verpasst hatte.
Ebendiese zog Sandro auch kurz darauf zielgerichtet heraus. Erik hatte gewütet, dass die Idioten den Scheiß lassen sollten. Aber jedes Wort, das aus seinem Mund kam, wirkte wie weiteres Öl ins Feuer. Da war dieses beschissene, triumphierende Grinsen auf Sandros hässlicher Fresse, während der die Zettel von Eriks Hausarbeit zerfetzte.
Erst als die Papierschnipsel um Erik herum ein Ende des ungleichen Kampfes markierten, ließen sie ihn los. Der Rest des Kurses schwieg weiterhin. So wie sie immer ihre Klappe hielten. Alle, selbst diejenigen, die Erik einst Freunde genannt hatte. Zumindest seit dem Sommer.
Aus dem Augenwinkel sah er in die Runde. Die meisten sahen nicht einmal her. Da waren ein paar Mädchen, auf deren mitleidige Blicke er getrost verzichten konnte. Nur ein Junge sah zu ihm. Als ihre Augen sich trafen, sah er aber schnell weg.
‚War ja klar‘, sagte Erik sich selbst und schluckte Enttäuschung, Wut und Scham hinunter.
Nicht zum ersten Mal in den letzten Wochen, fragte Erik sich, wie sein Leben derartig beschissen hatte werden können. Er war nie ein Rowdy gewesen, kein Schläger oder von den anderen verhasst. Wobei Erik zugegeben ebenso nie sonderlich beliebt gewesen war. Aber das hatte ihn auch nie interessiert. Im Gegenteil. Erik war zufrieden damit, als Mittelmaß zu gelten – unauffällig bis unsichtbar.
‚Und das alles nur wegen ein paar Drinks zu viel.‘
Wann hörte das endlich wieder auf? Bis in die Nacht hinein hatte Erik an diesem dämlichen Aufsatz geschrieben, damit er auch ja bösartig genug sein würde. Um wenigstens Berger auf diese Weise eins auswischen zu können. Die ganze verdammte Arbeit umsonst. In dem Moment kam natürlich auch noch eben jenes Arschloch von Lehrer herein. Langsam rappelte Erik sich auf, um zu seinem Platz zu gehen, bevor es klingelte. Auf dem Boden lagen die Schnipsel des Aufsatzes. Mit zusammengekniffenen Augen sah Herr Berger sich in der Klasse um.
Der Mistkerl musste nicht mal etwas sagen. Es war ihm anzusehen, wie sehr ihn das kindische Gehabe des Kurses auf die Nerven ging. Wäre am Ende nicht stets Erik derjenige, der diesen Frust auszubaden schien, würde er Berger sogar zustimmen. Dafür, dass sie in ihrem letzten Schuljahr waren, benahmen sie sich alle miteinander oft genug reichlich kindisch.
„Herr Hoffmann! Ist das Ihr Müll?“
Erik blieb stehen, drehte sich aber nicht um. Einen Moment lang war er versucht, zurück zu fauchen, dass es Bergers ‚Müll‘ war. Der hatte ja den Aufsatz haben wollen. Trotzdem schwieg Erik – so wie er es immer tat. Denn niemand, nicht einmal Sandro, widersprach Herrn Berger.
„Machen Sie den Dreck weg, bevor Sie sich setzen.“
Ruckartig drehte Erik sich um und funkelte Berger, der eben seinen Rucksack auf den Lehrertisch stellte, wütend an.
‚Es ist nicht deine Schuld!‘, flüsterte etwas trotzig in Eriks Kopf. ‚Warum sollst du den Scheiß ausbaden?!‘
Aber anstatt Berger das direkt vor den Latz zu knallen, schwieg Erik weiter. Wenn er hier schon als Generalverdächtiger ständig an allem schuld war, wollte er sich nicht auch noch wie ein trotziges Kleinkind aufführen. Trotzdem tobte die Wut weiter in ihm. Berger wusste garantiert, dass Erik die Zettel nicht zerfetzt hatte. Es war doch offensichtlich, dass er hier das Opfer war. Also warum unternahm der dämliche Lehrer nicht endlich etwas?
„Sie sind erwachsen“, hörte Erik in seiner Erinnerung die Stimme von Berger, wie der dem Kurs vor drei Wochen, an seinem ersten Tag, die Leviten gelesen hatte. „Ich erwarte von Ihnen ein für angehende Abiturienten angemessenes Verhalten. Wenn Sie mit dem Stoff oder irgendetwas anderem Probleme haben, können Sie um Hilfe bitten. Aber ich werde Ihnen nicht hinterherrennen wie einem Kleinkind.“
Erik biss die Zähne zusammen und beugte sich hinunter, um die Zettel aufzusammeln. Er war ganz sicher kein Kleinkind und der Arsch von Lehrer konnte ihm gestohlen bleiben. Von dem brauchte er keine Hilfe. Wenn der Mistkerl Erik einfach ignorieren würde, wäre das vollkommen ausreichend.
Nachdem die Reste seines Aufsatzes im Papierkorb gelandet waren, setzte Erik sich schließlich auf seinen Platz. Von dort aus starrte er Berger finster an, während der mit dem eigentlichen Unterricht anfing. Das Brennen in ihm hielt aber an – die ganze Stunde lang. Sein Aufsatz war hinüber, das würde Ärger geben.
‚Soll das Babyface doch kommen‘, sagte Erik sich selbst, während er auf seinem Stuhl in sich zusammensank.
Verstohlen sah er zu Herrn Berger hinüber, der vor der Tafel stand und irgendetwas schrieb. Der Kerl war jung – Mitte zwanzig oder älter. Wobei Erik das einzig und allein an der Tatsache festmachte, dass der Blödmann bereits das Referendariat hinter sich hatte. Berger war garantiert mindestens fünfundzwanzig mit dem Lebenslauf. Und ja, Erik hatte nachgelesen, als das Babygesicht zum ersten Mal in ihrem Kurs aufgetaucht war. Denn zu dem Zeitpunkt war ihm Berger durch ganz andere Attribute aufgefallen.
Namentlich ein viel zu geiler Po für einen derartig miesen Charakter, kurze schwarze Haare und beschissen strahlende Augen. Grün, wie Erik nach inzwischen mehreren direkten Konfrontationen irritierenderweise festgestellt hatte. Scheiße umschwärmt von den Mädels und – ja, Erik auch das konnte nicht leugnen – der Mistkerl sah tatsächlich verflucht gut aus. Zumindest wenn man auf höchstens einen Meter achtzig große, eher schlanke dafür sportliche Typen mit abgefuckter Persönlichkeit stand. Was Erik selbstredend nicht tat. Jedenfalls fand diesen Arsch definitiv nicht anziehend!
Okay, den ‚Arsch‘ per se schon, aber garantiert nicht den Kerl, der da dran klebte! Natürlich hatte man ausgerechnet Eriks Deutschkurs diese Pfeife zugeordnet. Als ob der Großteil dieses beschissenen Kurses nicht schon seit Jahren ohne Berger genug Probleme hatte. Aber alle außer Erik mochten den Mistkerl. Der Typ hatte zugegeben einen gewissen Charme. Das konnte man nicht abstreiten. Unglücklicherweise richtete sich dieser ausschließlich auf andere und nie auf Erik. Alles, was er abbekam, war die schlechte Laune, die Strafen – zusammen mit einer scheinbar gehörigen Portion Verachtung.
Erik stierte wütend den Rücken seines Lehrers an, als der sich erneut zur Tafel drehte, um irgendwas daran zu notieren. Zugegeben, unter anderen Umständen wäre Berger womöglich – aber auch wirklich nur vielleicht – sein Typ. Na gut, er war verflucht anziehend. Schlanke Statur, dennoch klar und gut definiert. ‚Klassisch‘ könnte man es wohl nennen. Kein Muskelprotz, aber die Schultern merklich breiter als die Taille. Ein gerades Kreuz und am Ende der Wirbelsäule ein fester Po, der so wirkte, als wäre die Jeans maßgeschneidert für ihn angefertigt worden. Davon, was Erik unter anderen Umständen mit so einem Hinterteil gern anstellen wollte, sollte er jetzt besser nicht auch noch nachdenken.
Die Kälte und Emotionslosigkeit machen das Optische allerdings schnell zunichte und deshalb war Berger für Erik nur noch eins: Zum Kotzen! Trotzdem huschte sein Blick in jeder weiteren Deutschstunde wieder über die anregende Rückansicht – immer dann, wenn Berger sich zur Tafel umdrehte. Selbst in der Zeit, in der Kerl sich dem Kurs zuwandte, wanderte Eriks Blick selten zu einem Punkt deutlich oberhalb der Gürtellinie. Zumal er in Deutsch natürlich in der ersten Reihe saß – wo auch sonst. Was wäre das Leben ohne die beinahe tägliche Folter? Vielleicht erträglich.
‚Nicht drüber nachdenken!‘, ermahnte Erik sich, als er merkte, wohin die Gedanken mal wieder abglitten. So waren die langweiligen Deutschstunden aber wenigstens einigermaßen durchzuhalten.
Nachdem die Stunde endlich vorbei war, stürmten Eriks Mitschüler sofort aus dem Klassenzimmer heraus. Er selbst packte seine Sachen betont langsam. Entkommen würde ja ohnehin nicht, ohne dass das Arschloch Berger ihn abfing. Wenn Erik sich genug Zeit ließ, würde zumindest der Rest der Klasse es nicht auch noch mitbekommen.
Kaum, dass Erik in Richtung Ausgang stapfte, rief ihm schon, die inzwischen verhasste Stimme seines Lehrers zu: „Herr Hoffmann? Ihr Aufsatz. Sie haben ihn mir noch nicht gegeben.“
Keine bloße Feststellung, wie man gemeinhin glauben würde. Es war eine implizite Aufforderung, das Ding herauszurücken. Und zwar umgehend.
„Sie haben mir doch gesagt, ich soll ihn aufsammeln. Er liegt im Papierkorb“, antwortete Erik betont bissig und sah Berger herausfordernd an.
Der aber blickte auf die eigenen Sachen, die er langsam zurück in den grauen Rucksack packte. Kostete es Berger überhaupt irgendwelche Überwindung, nicht direkt auszurasten? Erik war sich nicht sicher, was er sich wünschen würde. Einen Lehrer herauszufordern, war eine dämliche Idee, aber Berger an den Rand der Weißglut zu treiben hatte seinen ganz eigenen Reiz. Dieser strich sich jedoch betont ruhig mit seinem Daumen seiner linken Hand über die Augenbraue und atmete tief durch. Erik genoss diese Sekunden des vermeintlichen Triumphes, wusste er doch nur zu genau, dass sie ohnehin nicht lange anhalten würden.
„Ich weiß wirklich nicht, was ich mit Ihnen machen soll, Erik. Das ist Ihr letztes Schuljahr und Sie scheinen Ärger geradezu magisch anzuziehen.“
Ach ja? Es waren doch Vollpfosten wie Sandro und der Arsch, der jetzt vor ihm stand, die überhaupt erst Probleme machten! Wenn die nicht wären, könnte Erik weiterhin ein normales Leben führen, wie alle anderen Jungen in seinem Alter. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Trotzdem schwieg Erik hartnäckig, um Berger keine allzu offensichtlichen Gründe zu liefern, ihm irgendwelchen Mist aufzugeben.
„Ich erwarte, dass Sie mir bis morgen früh einen neuen Aufsatz abliefern.“
„Morgen ist Samstag,“ antwortete Erik betont lässig.
Er konnte das Grinsen über den Fehler kaum unterdrücken. Es war Freitagabend und somit vielleicht tatsächlich eine gute Idee, den Vorschlag seiner Mutter zu befolgen – und endlich mal wieder auszugehen. Den Kopf freibekommen. Sich ‚abreagieren‘. Bei dem Gedanken huschte Erik ein kurzes Grinsen über die Lippen. Wäre womöglich hilfreich, wenn er sich tatsächlich einmal einen netten Hintern suchte, an dem er sich ‚abreagieren‘ konnte. Druck ablassen würde sicherlich nicht schaden. Zumal es mit etwas Glück, diese absurden Vorstellungen über Berger aus Eriks Hirn vertreiben würde.
„Das ist mir egal“, entgegnete der mit ruhigem Ton und trat auf Erik zu. „Morgen hier oder Montag beim Direktor.“
Prompt sah Erik sich direkt mit diesen beschissen stechenden Augen gegenüber. Alles in ihm schrie sofort danach, wegzusehen. Er musste sich zwingen, den Blick zu halten. Mit jeder verstreichenden Sekunde schlug sein Herz jedoch heftiger in der Brust. Erik hasste es, Menschen ins Gesicht sehen zu müssen. Es löste eine Unruhe in ihm aus, die er kaum unter Kontrolle halten konnte. Ein Gefühl der Hilflosigkeit. Als müssten sie alle nur einmal genau hinsehen und wüssten sofort, was für eine Scheiße in seinem Kopf und auch in Eriks Leben ablief.
Berger schwieg und starrte ihn einfach weiterhin an. Mit einer gewissen Irritation stellte Erik dabei fest, dass die nicht ganz grün waren. Da zeigten sich kleine braune Sprenkel an den Rändern. Was ihn irritierte waren allerdings weniger deren Existenz, sondern die Tatsache, dass er den Scheiß überhaupt bemerkte. Und auch noch attraktiv fand.
‚Moment! Wie war das eben? Hat das Arschloch gesagt, es war ihm egal?‘
„Neun Uhr, hier im Klassenzimmer. Seien Sie pünktlich.“ Damit nahm Berger seinen Rucksack und ließ Erik entgeistert stehen.
‚Neun Uhr. In der Schule. An einem Samstag. Sonst noch was?! So ein Wichser!‘