31 – Lüge und Erwartung
Die miese Laune des Vormittages hielt an. Dafür hatte Sandros verschissenes Grinsen gesorgt, das Erik den ganzen Tag begleitet hatte. Zusammen mit ein paar Sprüchen, die seine ohnehin brüchige Selbstbeherrschung stetig auf die Probe gestellt hatten. Im Gegensatz zum Deutschunterricht hatte er sich diesmal aber beherrschen können. Warum es ausgerechnet vor Berger mit ihm hatte durchgehen müssen, war Erik nicht klar.
Es fachte seine Wut jedoch zusätzlich an. Noch immer konnte er Bergers Hand an seiner Brust spüren. Und der verdammte Blick aus den grünen Augen war ihm nicht so scheißegal, wie Erik es sich wünschte.
Entsprechend laut fiel die Wohnungstür am Nachmittag ins Schloss. Die Schuhe flogen durch den Flur. Die Jacke schaffte es immerhin an den Haken der Garderobe. Mehr ‚Benehmen‘ war aber augenscheinlich gerade nicht drinnen. Denn Erik stürmte direkt in sein Zimmer, wo der Rucksack mit den Schulsachen, in der Ecke neben dem Schreibtisch landete.
„Scheiße!“, fluchte Erik lautstark. Seine Hand knallte mit einem unüberhörbaren Klatschen wenige Sekunden später an die Wand.
„Erik?“, quietschte seine Mutter geschockt und sah ihn entsetzt an.
Aber nicht einmal das konnte Erik aus der Wut holen und so drehte er sich nur halb um und fauchte ihr ein „Was ist?!“, entgegen.
Ängstlich trat sie zwei Schritte zurück. Das schimmern in ihren Augen schaffte das, was weder ihre Stimme, noch der Schlag gegen die Wand oder das Herumschmeißen des Rucksackes gebracht hatten. Erik fuhr, erschrocken vor sich selbst, zusammen und wich seinerseits einen Schritt von ihr zurück.
‚Genau wie dein Vater.‘
„Es tut mir leid, Ma“, keuchte Erik. Zur Sicherheit trat er weiter nach hinten, nur um prompt gegen den Schreibtisch zu stoßen. „Ich wollte dich nicht anschreien.“
Ihre ängstlichen Augen zuckten über Eriks Gesicht. So sollte sie ihn nicht ansehen! Ein Schlag von Sandro in die Magengrube könnte nicht mehr wehtun als dieser Anblick. Klauen, die sich in Eriks Eingeweide trieben, daran rissen und zerrten, als wollten sie ihn in Stücke zerfetzen.
„Was ist los, Erik?“, fragte sie erneut, mit vor der Brust verschränkten Armen.
Die abwehrende Haltung kannte er zu gut und sie verstärkte den Schmerz weiter. Für einen Moment erwägte Erik ernsthaft, ihr alles zu erzählen. Noch während er versuchte, die Worte im Kopf zu sortieren, schreckte Erik allerdings davor zurück. Wenn sie von dem Ausraster im Deutschunterricht erfuhr, würde sie erst recht Angst haben, dass er wie sein verdammter Erzeuger war.
Ändern würde es sowieso nichts. Am Ende kam seine Mutter auf die total bescheuerte Idee, zum Direktor zu rennen, um die Sache zu klären. Dann würde womöglich sogar herauskommen, was für einen Mist Erik Berger in den ganzen Aufsätzen geschrieben hatte.
„Hab mich nur mit jemandem gestritten“, gab Erik schließlich zu. Diesen winzigen Teil der Wahrheit war er ihn wohl schuldig. Allerdings führte der dazu, dass sie ihn umso misstrauischer ansah.
„Was ist passiert?“, hakte sie vorsichtig nach.
Da er den Blick seiner Mutter nicht mehr ertragen konnte, wandte Erik sich ab und ließ sich stattdessen auf den Stuhl neben dem Schreibtisch fallen. „Es war ... nur eine Meinungsverschiedenheit in der Schule“, murmelte Erik verhalten.
Gelogen war es ja nicht. Er hätte Sandro gern eine reingehauen für den beschissenen Spruch. Und der hatte den restlichen Tag über oft genug versucht, Erik weiter zu provozieren. Selbst nach dem Unterricht hatte er mit Oliver und Luca vor der Schule gestanden und Erik den gleichen Spruch sinngemäß ein weiteres Mal reingedrückt.
Erik vermied den Blick zu seiner Mutter, wollte die Enttäuschung nicht sehen. Genauso wenig wie die Sorge. Und dass die da sein würde, daran hatte er keinen Zweifel. Nicht zwingend die Angst vor Erik, sondern davor, dass er genauso ein Arschloch war wie sein Vater. Und folglich irgendwann ebenso enden würde. Dieser Blick verfolgte Erik schließlich schon seit über sechs Jahren.
„Mach dir keine Sorgen“, meinte er mit einem erzwungenen Lächeln, als sie nach gefühlten zehn Minuten weiterhin in seinem Zimmer stand ohne etwas zu sagen. „Es ist geklärt.“
Eine Lüge, wie so viele in letzter Zeit. Mit jeder Weiteren schienen sie Erik leichter über die Lippen zu kommen. Nur zum Besten für seine Mutter. Wenn sie nichts davon wusste, machte sie sich keine Sorgen und war am Ende glücklicher. Bestimmt. Sandro würde sich ohnehin nicht mehr bis zum Sommer ändern. Und danach wäre Erik ihn für immer los.
Seine Stimme klang selbst für Erik überraschend emotionslos, als er fortfuhr: „Ich hab Hausaufgaben zu machen, Ma.“
Sie zögerte, bevor sie antwortete: „Es ist etwas zum Essen in der Küche.“ Erik nickte, sagte allerdings nichts. „Ich muss nachher auf Arbeit. Kommst du klar?“
Das verächtliche Schnauben konnte er nicht unterdrücken. „Ich komme schon lange alleine klar, Ma.“
Erst als er die Tür leise ins Schloss fallen hörte, wurde Erik bewusst, dass die Worte anklagender geklungen haben mussten, als er sie gemeint hatte. Betreten ließ er den Kopf auf den Schreibtisch fallen.
„Scheiße“, flüsterte Erik leise. Jetzt hatte er nicht nur den Streit mit Sandro und die beschissene Hausaufgabe von Berger am Hals, sondern auch noch ein schlechtes Gewissen, weil er sich wieder wie ein Vollidiot gegenüber seiner Mutter aufführte. Am Ende war er eben ein mieser Idiot, wie sein Vater. Wahrscheinlich war es nur eine Frage der Zeit, bis er genauso wie sein alter Herr endete. Der Gedanke brachte einen anderen, einen, den Erik nur zu gern weit von sich weggeschoben hätte.
Ein verfluchter Aufsatz, wo er sich in fünf Jahren sah. Was sollte er da bitte zu schreiben? Wenn Erik so weiter machte, saß er bis dahin im Knast. Direkt in der Zelle neben seinem Alten. Auch eine Art der Familienzusammenführung. Eine, die Erik eigentlich nicht eingeplant hatte.
Wobei er offensichtlich ja eben keinen Plan hatte, was er Sinnvolles mit seinem Leben anfangen konnte. Als Erik in der Unterstufe gewesen war, sagten alle, dass er, wenn es denn dann irgendwann aufs Abi zuging, schon wissen würde, was er danach machen wollte. Also hatte Erik gewartet, auf diese verfluchte Erkenntnis, die nie gekommen war. Jetzt saß er nach zig Jahren Schule weiterhin hier und hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte.
Beziehungstechnisch sah es ja offenbar nicht besser aus. Wollte er in fünf Jahren mit Tom zusammen sein? Allmählich war Erik sich da nicht mehr sicher. Nachdenklich fuhr er sich durch die Haare.
‚Beziehung ja. Aber ist Tom wirklich der Mann, mit dem das möglich ist?‘, fragte Erik sich nicht zum ersten Mal in den letzten Tagen. Etwas in ihm schrie danach, dass er sich nur genug anstrengen musste, und dann würde es funktionieren. ‚Er kann es sein‘, versuchte Erik sich einzureden.
Der Gedanke, dass es an ihm lag und folglich nur aufgrund der eigenen Unzulänglichkeit scheitern würde, war noch beschissener, also schob Erik ihn schnell von sich. Jeder Versuch etwas an der Situation zu ändern schien fehlzuschlagen. Was sollte er denn machen? Und über was in dieser blöden Hausaufgabe schreiben?
Die klassische Familie stand außer Frage. Hobbys hatte Erik, nachdem er das Ringen aufgegeben hatte, lediglich eines: Lesen. Und selbst das hatte er in den letzten Monaten nur noch vernachlässigt. Außerdem war das kaum etwas, worüber er schreiben sollte. Jedenfalls wüsste Erik kein Ziel, das er in dieser Hinsicht erreichen wollte.
‚Wäre aber zur Abwechslung unverfänglich‘, meinte eine überraschend vernünftige Stimme in Eriks Kopf.
Er verzog das Gesicht. Nachdenklich rieb er sich über die Brust. Das war alles Sandros schuld. Wenn der diesen beschissenen Kommentar nicht gemacht hätte, würde Erik nicht hier sitzen und über diesen Mist nachdenken müssen. Berger und seine verfluchten Aufgaben! Wenigstens den würde Erik in fünf Jahren nicht mehr am Hals haben. Dann konnte der Blödmann andere mit dieser verdammten Pornopoesie und dämlichen Strafarbeiten quälen.
Diese Vorstellung gefiel Erik aber auch nicht. Versonnen zog er den Block aus dem Rucksack und nahm sich einen Stift vom Schreibtisch. Etwas zu Papier brachte er aber nicht. Stattdessen saß Erik gedankenverloren da und klopfte mit dem Stiftende auf den Block.
Ob Berger tatsächlich in fünf Jahren diese Pornopoesie im Unterrichtsstoff haben würde? Im Lehrplan stand der Mist garantiert nicht. Der Gedanke, dass da ein anderer Kerl genauso notgeil wie Erik im Klassenraum sitzen würde um auf diesen perfekten kleinen Hintern zu starren, zog ihm die Eingeweide zusammen.
Dass der Blödmann von Lehrer in fünf Jahren unterrichten würde, stand außer Frage. Und Erik? Wo würde er sein? Offensichtlich nicht in Bergers Klassenzimmer, um den Anblick zu genießen. Warum ging ihm das nicht mehr einfach am Arsch vorbei?
Erneut rieb Erik sich über das Brustbein. Genau dort hatte Bergers Hand ihn gepackt. Es fühlte sich an, als könnte Erik sie noch immer spüren. Dummweise war das nicht so unangenehm, wie es sein sollte.
Erik seufzte und versuchte, erneut nicht daran zu denken. Leider half das nicht. Denn prompt war es dieser ganz bestimmte Po, der sich vor sein geistiges Auge schob. In letzter Zeit war dieses Bild wieder regelmäßiger aufgetaucht. Tatsächlich würde es Erik nicht wundern, wenn Berger ihm in den vergangenen Wochen häufiger zu einem Ständer verholfen hatte als der viel zu beschäftigte Tom. Genervt ließ Erik den Kopf auf den Schreibtisch fallen.
„Nicht gerade ein Kompliment“, murmelte er verhalten.
Und trotzdem bekam Erik dieses verdammte Bild von Berger nicht aus dem Kopf. Im Gegenteil. Nur dass der verführerische Popo anstatt vor der Tafel herum zu wackeln, Selbiges vor einer Küchenzeile tat. Er trug auch nicht die derartig maßgeschneiderten Jeans, sondern lediglich eine Unterhose. Eine eng sitzende Pant, die der Fantasie nichts überlassen würden – weder von der Rück- noch von der Vorderseite.
Erik stöhnte, konnte aber nicht verhindern, dass sich mit den Bildern ebenso Worte in seinen Geist drängen. Eine Fortsetzung des Aufsatzes aus dem September, die aus ihm herausbrechen wollte.
Der kleine, feste Hintern stand inklusive daran befindlichem drahtigem Körper in der Küche. Vermutlich machte er sich gerade einen Kaffee. Ganz sicher war Erik sich nicht, aber es war ohnehin unerheblich. Denn bevor die Gestalt dazu kommen würde, tatsächlich etwas Produktives zu tun, legten sich zwei deutlich kräftigere Arme um ihn. Finger, die über nackte, straffe Haut geführt wurden. Muskeln, die sich instinktiv anspannten, um den Händen mehr Widerstand zu bieten. Diese würden auf Brust wie auch Bauchmuskeln treffen. Beide nicht übermäßig definiert, aber dennoch klar spürbar unter der straffen Haut.
Lippen, die an schwarzen Haaren vorbei gegen eine Halsbeuge gelegt wurden. Leise geflüsterte Worte, die einen Schauer nach dem anderen den schlanken Körper entlang laufen ließen. Dabei feststellten, dass dieser verführerische Hintern eigentlich ohne Unterhosen hier herumstehen sollte. Frei verfügbar. Jederzeit. Weil dieser perfekte kleine Po genau wusste, was er wollte – von wem. Und dass er zu jemand gehörte – den Lippen, den Fingern, den Händen, die weiter über den dazugehörigen Körper zu fliegen schienen. Sich in die Unterhose schoben und zunächst schlaffes, aber zunehmend straffer werdendes Fleisch erkundeten.
Ein Stöhnen, von dem niemand so recht hätte sagen können, wer es ausgestoßen hatte. Dennoch bäumte sich der Po einem Ziel entgegen, presste nach hinten und traf mit dem willigen Schritt auf genau denjenigen, zu dem er gehören wollte. Schweigend verlangte diese perfekte Rundung nach mehr als ein paar Hände oder Fingern. Aufmerksamkeit. Beachtung. Nur für ihn. Weil er hier war. Dieser verführerische Po, samt dazugehörigem Mann.
Keuchen, weiteres Stöhnen und irgendwie würde sich der schlanke Körper auf dem Küchentisch wiederfinden. Der Kaffee vergessen, das Frühstück halbherzig beiseitegeschoben. Gerade weit genug weg, damit kein Porzellan zu Bruch ging. Die Unterhose war längst verschwunden. Auf dem Boden. Vielleicht. Womöglich auch woanders. Interessierte gerade niemanden mehr.
Lippen, über den flachen Bauch hinauf geführt. Erhitzte Haut, die auf einen nicht minder willigen Körper traf. Der Geruch von Schweiß, wie er sich mit dem von frisch gemahlenen Kaffee mischte. Eine herbe Note, nicht weich, nicht verweichlicht. Keine Sanftheit, stattdessen drängende Hände, die sich nahmen, was ihnen gehörte. Fest zupackten, Spuren hinterließen – nicht zum ersten Mal. Und dafür mit einem zufriedenen Stöhnen belohnt wurden. Eines, das am Ende zu einem Knurren wurde, weil das hier alles zu langsam war, zu friedlich.
Deshalb bäumte der Körper auf dem Tisch sich auf, stemmte sich gegen seinen Gegenpart. Nicht, um sich zu befreien, sondern um zu provozieren. Wie er immer provoziert hatte. Ein Verlangen so tief, so falsch und dennoch so gewollt. Ein stumm in die Welt geschrienes ‚Nimm dir alles, was du willst‘, das niemand hören durfte, weil es nicht ‚anständig‘ wäre. Und doch wollte er genommen werden, dieser kleine, feste Po. Schob sich tastenden Fingern entgegen, bevor sein Besitzer erneut forderte, die Zurückhaltung endlich fallen zu lassen. Zusammen mit einer falschen Moral, die zwischen ihnen stets fehl am Platz gewesen war.
Denn nach ihr fragte keiner, sie war unerheblich. Weil das hier nicht ihrem Urteil zu unterliegen hatte. Zwei Menschen, die nur einander gehörten. Mit jeder Faser ihrer Körper. Hier fand Sprache stumm statt. Wurde ohne Worte gesprochen und gleichfalls verstanden. Von Interesse war lediglich, was geschah, nicht was es hieß, versprach oder meinte. Ein Tanz am Abgrund, jederzeit bereit zu fallen. Und fallen würden sie – gemeinsam. Lautstark, obgleich weiterhin ohne Worte – nur Stöhnen, Ächzen, Keuchen. Heißer Atem, der über noch immer deutlich zu erhitzte Haut strich und das Feuer am Leben erhielt.
Für eine Weile, denn irgendwann brannte es nieder. Kein Verlöschen – niemals. Eine Glut blieb stets, schwelte weiter, bereit den nächsten Flächenbrand auszulösen. Während Hände erneut über den schlanken Körper glitten, langsamer, liebevoller. Das drängende Verlangen verschwunden, suchten sie nur Halt. Das Wissen, dass es nicht falsch war zu wollen – und zu nehmen. Zumindest nicht zwischen ihnen beiden. Nicht hier, nicht jetzt und nicht in weiteren verdammten fünf Jahren.
Das Wimmern, das Erik entkam, war kaum hörbar. Hastig ließ er den Stift fallen und starrte auf das Papier vor ihm. Er hatte nicht einmal darüber nachgedacht. Irgendwo zwischen dem ersten Bild und diesem Moment jetzt hatten sich die Worte aufs Papier geschlichen. Starrten Erik entgegen, als wollten sie ihn verhöhnen. Weil er es wieder getan hatte.
‚Schreib etwas Neues!‘
Aber Eriks Kopf war leer. Da war kein Funken einer anderen Idee, wie ein Tag in seinem Leben in fünf Jahren ablaufen könnte. Schlimmer. Je länger er versuchte, sich vorzustellen, wie dieser verfluchte Tag aussehen könnte, desto klarer wurde ihm: Dieser Text beschrieb genau das, was Erik wollte.
‚Das kannst du nicht abgeben!‘, ermahnte er sich ein weiteres Mal. Trotzdem blieb der Stift liegen.
Erst das Klingeln des Handys rief ihn aus diesen Gedanken. Zum ersten Mal fiel Erik auf, wie oft das zu passieren schien. Ständig versank er in diesen verfluchten Fantasien, die niemand je erfahren durfte. Und trotzdem knallte er sie Berger stetig vor den Latz.
‚Weil der Blödmann nie darauf reagierte‘, hörte Erik das Wispern. ‚Und das wird er auch diesmal nicht tun. Es ist sinnlos!‘
Schmerzhaft zog sich Eriks Magen zusammen, als er versuchte, den Gedanken zu verdrängen. Berger würde ihn sicher nicht wegen diesem Scheiß melden, weil Erik ihm den gar nicht erst geben würde. Es wäre hirnrissig, todesmutig, nicht zu vergessen strunz dämlich, dieses Risiko einzugehen.
‚Sag es noch ein paar Mal, dann glaubst du es vielleicht.‘
„Scheiße“, fluchte Erik verhalten und griff stattdessen zum Handy. Ablenkung. Er brauchte irgendetwas, was ihn von diesem Mist fernhielt, bevor er völlig durchdrehte.
Schon an der Pushnachricht konnte Erik sehen, dass er eben diese Ablenkung in Kürze bekommen würde. Tom wollte ins Kino und fragte, ob er mitkommen würde. Hastig stopfte Erik die Schulsachen in den Rucksack und zerrte Unterwäsche und einen frischen Pullover aus dem Kleiderschrank.
‚Nichts wie weg hier‘, sagte er sich immer wieder. Denn so lange Erik sein krankes Hirn beschäftigt hielt, kamen die Bilder von Berger nicht hoch – und erst Recht nicht, was diese verfluchte Hausaufgabe wieder mit ihm gemacht hatte.
Ein kurzes Stöhnen, dann richtete Erik seinen Schritt einigermaßen zurecht. Mit der anderen Hand tippte er eine Antwort an Tom. Sein Magen knurrte. Sie sollten vorher irgendwo was essen. Hauptsache, er kam erst einmal von hier weg. Und mit dem Verdienst von Alex hatte Erik inzwischen genug zusammen, um sich diesen einen Abend ausgehen leisten zu können.
✑
„Pizzabude und dann noch ein Film. Womit habe ich denn so viel deiner Zeit verdient?“
Verwundert sah Erik auf und runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“
Tom zuckte mit den Schultern, während er weiter in Richtung Bushaltestelle trabte. „Na ja, du bist in letzter Zeit ständig am Schuften oder mit der Schule beschäftigt.“
„Du weißt doch, warum ich bei Alex arbeite“, murmelte Erik verlegen. War ja nicht so, dass er sich extra rar gemacht hatte. Und wenn sie sich trafen, ging es Tom doch eh meistens drum, wie schnell sie ins Bett kommen konnten. „Hast jetzt auch nicht gerade oft gefragt, ob wir weggehen“, gab Erik entsprechend unwirsch zurück, weil es ihn einmal mehr daran erinnerte, dass er in Sachen ‚Beziehung‘ zwischen ihnen beiden seit Neujahr nicht wirklich weiter gekommen war.
Tom blieb stehen und sah Erik stirnrunzelnd an. „Was soll das denn heißen?“
Etwas in Erik schreckte zurück, aber er konnte sich beherrschen, das nicht nach außen zu zeigen. Hoffte er zumindest. Sicher war er sich nicht, denn Toms Stirnrunzeln hielt an. Zurücknehmen konnte und wollte Erik die Worte jedoch nicht. Ja, er versuchte Zeit mit Tom zu verbringen – und zwar nicht nur im Bett. Allerdings hatte Erik nicht das Gefühl, als würde das auf Gegenliebe stoßen. Diese Unsicherheit zerrte stetig stärker an ihm.
Was hieß das denn andernfalls für diesen beschissenen Fünf-Jahres-Plan, den Berger von ihm haben wollte? Was bedeutete es für die Frage, ob der Scheiß, der vorhin aus Eriks Hirn gekrochen war, jemals mit Tom Realität werden konnte?
„Wir könnten schließlich auch mal was anderes machen, als Kino, Rush-Inn und Ficken“, presste Erik heraus, ging aber zeitgleich weiter in Richtung Bushaltestelle.
„Hast du ein Problem mit unserer Vereinbarung?“, fragte Tom emotionslos zurück. Der fehlende Ausdruck in der Stimme des Mannes, den Erik gern als ‚seinen Freund‘ bezeichnet hätte, schnitt ihm ein weiteres Mal in die Eingeweide.
„Hast du eins?“, gab Erik langsam, statt einer eigentlichen Antwort zurück. Ein kurzes Grinsen huschte über Toms Lippen, aber es war so schnell verschwunden, dass Erik sich nicht sicher war, ob er es sich nur eingebildet hatte.
„Wenn wir uns weiterhin einig sind, was ist dann das Problem, Erik?“
Bevor er über die Frage ernsthaft nachgedacht hatte, rutschte ihm heraus: „Ist das alles?“
„Wie, alles? Was erwartest du denn? Du bist doch eh ständig am Arbeiten“, gab Tom schulterzuckend zurück.
„Ich brauch das Geld für die Abschlussfahrt, das hab ich dir schon zig gesagt“, zischte Erik allmählich gereizt.
In dem Moment kam der Bus, der sie zu Toms WG bringen würde. Für einen Augenblick war Erik versucht nicht einzusteigen, aber das hätte zum Einen bedeutet alleine nach Hause gehen zu müssen, zum anderen hatten sie dieses Gespräch noch nicht beendet. Mal davon abgesehen, das weglaufen reichlich kindisch wäre. Deshalb stieg Erik mit Tom gemeinsam ein und setzte sich in die hinterste Reihe. Hier waren sie ungestört und somit sicher vor fremden Ohren und Augen.
„Wie viel willst du da denn ausgeben?“, murmelte Tom und schüttelte den Kopf. „Mein Gott, das bisschen Taschengeld müsstest du doch allmählich mal zusammen haben.“ Erik presste die Lippen zusammen. „Kannst du nicht deine Eltern um einen Vorschuss bitten?“
„Nein“, erwiderte Erik nur knapp, sah Tom allerdings nicht an.
Bisher hatte er das Thema der offensichtlichen finanziellen Unterschiede zwischen ihren Familien vermieden. Erik fühlte sich schon oft genug minderwertig. Da musste dieser Punkt nicht zusätzlich auf der Liste seiner Unzulänglichkeiten landen.
Tom seufzte und zuckte mit den Schultern. „Ist ja nicht so, als ob wir nie Zeit für einander finden würden. Hat doch bisher auch funktioniert. Aber du kannst nicht erwarten, dass ich springe, sobald du Zeit hast und ... was unternehmen willst. “
Der Tonfall, in dem Tom den zweiten Teil aussprach, gefiel Erik nicht. Zumindest bildete er sich ein, dass da irgendetwas mitschwang. Etwas Abfälliges, das so nicht geplant war. „Das erwarte ich doch gar nicht, Tom!“, versicherte Erik verhalten.
Wieder konnte er dieses unangenehme, flaue Gefühl im Magen spüren. Wenn er hier weiter argumentieren wollte, würde nicht nur der Abend negativ enden. Und da Erik die verfluchte Ablenkung heute wirklich gut gebrauchen konnte, war das definitiv nicht in seinem Interesse. Vorsichtig schielte er zu Tom hinüber, der mit genervtem Gesichtsausdruck seinerseits aus dem Fenster starrte.
„Tut mir leid“, murmelte Erik, als sie ihre Haltestelle erreicht und Tom weiterhin nichts gesagt hatte. Gemeinsam verließen sie den Bus – standen anschließend unschlüssig auf dem Gehweg.
Das Ziehen in Eriks Bauch blieb beständig, schien sich eher zu verstärken, als zu verschwinden. Im Grunde wusste er nicht einmal, wofür er sich entschuldigte. War es falsch, mehr von Tom zu wollen? Vielleicht. Allerdings hätte Erik dafür ja schlicht wissen müssen, was er überhaupt von dem Mann erwarten wollte. Konnte. Durfte. Aber die Frage stellte er wie immer nicht. Weil er die Antwort nicht hören wollte.
„Kommst du mit hoch?“
Erik zwang sich ein Lächeln ab und zuckte mit den Schultern. „Bist du sauer?“, fragte er vorsichtig – nicht sicher, welche Antwort er hören wollte.
Toms Lächeln wirkte ehrlich, als er leise lachend zurückgab. „So lange wir uns weiter einig sind ... Wegen so etwas garantiert nicht.“
Als sein Kopf sich nickend bewegte, wusste Erik nicht einmal wieso. Vielleicht wäre es vernünftiger gewesen, nach Hause zu gehen. Womöglich sollte er Tom einfach vergessen und von vorn anfangen. Aber der Gedanke versetzte Erik mehr Tiefschläge in den Magen, die er nicht gebrauchen konnte. Er wollte dieses beschissene Flattern zurück, das Gefühl, als wäre da zumindest eine Chance, dass er es schaffen könnte.
„Na los, ich hab bestimmt noch das eine oder andere Bier im Kühlschrank“, gab Tom weiterhin lachend zurück und legte einen Arm um Eriks Hüfte. Mit leichtem Druck schob er ihn in die Richtung von Toms Wohnung.
‚Wegen so etwas‘, hallte es in Erik wieder, während er sich widerstandslos vorwärtsschieben ließ.
Erst als er irgendwann in Toms Zimmer stand und den Rucksack an die übliche Stelle neben dem Schreibtisch fallen ließ, fing Erik an, sich zu beruhigen. Das Gefühl von ‚normal‘ kehrte allmählich zurück. Vermutlich nicht in dem Sinne, wie andere Menschen sich ‚normalerweise‘ fühlten. Eher dahingehend, als dass Erik endlich wieder wusste, was ihn erwartete. Tom kam breit grinsend herein und reichte ihm eine geöffnete Bierflasche.
‚Zumindest weißt du, was man von dir erwartet.‘
Erik nahm einen Schluck, um die wieder einsetzende Unsicherheit zurückzudrängen. Die Erwartungen zu erfüllen, die an Erik in diesem Zimmer gestellt wurden, war einfach. Sonderlich hoch waren sie ja nicht. Um genau zu sein, würde es reichen, wenn Erik einen hochbekam und danach scheintot auf dem Bett lag. Als er aus dem Augenwinkel zu Tom schielte, machte der es sich gerade gegen das Kopfteil gelehnt gemütlich. Auch Tom hatte eine Bierflasche in der Hand und sah herausfordernd zu Erik herüber.
‚Er will gevögelt werden‘, bemerkte die arschige Stimme in seinem Kopf unnötigerweise.
Dass dem so war, konnte vermutlich jeder Vollidiot sehen. Zwar konnte Erik sich nicht mit einem sonderlich großen Menschenverständnis rühmen, diese Tatsache konnte allerdings nicht einmal ihm entgehen.
„Willst du da den ganzen Abend stehen?“, fragte Tom mit einem Mal. Das dreckige Grinsen auf den Lippen, die unter anderen Umständen ausgesprochen freundlich zu Erik gewesen waren, ließ ihn für einen Sekundenbruchteil zweifeln.
‚Was erwartest du?‘, fragte die Stimme in seinem Kopf erneut. Und wieder schwieg Erik. Gab weder dem beschissenen Flüstern noch Tom eine Antwort. Denn die einzige, die Erik geben konnte, war eine, die er immer weniger aussprechen wollte. Oder denken.
„Was ist es dir wert, dass ich rüberkomme, anstatt hier zu stehen?“, rutschte es Erik raus, bevor er sich beherrschen konnte. Um die erneut einsetzende Unsicherheit zu überspielen, nahm er einen weiteren Schluck aus der Flasche.
Offenbar hatte er den richtigen Ton getroffen. Toms Grinsen wurde breiter – genau wie der Abstand zwischen seinen Knien. „Ich weiß nicht. Was würde es mich denn kosten?“
Da fielen Erik einige Dinge ein. Allen voran die Tatsache, dass er zur Abwechslung gern nicht dumm rumliegen wollte – jedenfalls nicht unten. Aber wie Tom dazu stand, hatte Erik ja schon vor Monaten herausfinden dürfen. Wenn er den Sex vermeiden wollte, bräuchte Erik nur die Flasche abstellen und verschwinden. Hätte am Ende des Tages den gleichen Effekt.
‚Es wäre besser, stattdessen auf diesen beschissenen Gefühlsduselkram zu verzichten und den Typ einfach zu vögeln.‘
Das Ziehen wurde kurzzeitig schlimmer. Ein weiterer Schluck half jedoch, es erneut zurückzudrängen.
‚Das ist es, was du wolltest, als du das erste Mal mit Tom mitgegangen bist.‘
Sein Blick verfinsterte sich, während er auf die Hand starrte, mit der Tom sich unter das Shirt und über den Bauch fuhr. Erik war hergekommen, weil er auf andere Gedanken kommen wollte – und Tom die richtige Rückseite für diese Art von Ablenkung zu bieten hatte. Sex ohne Verpflichtung. Exklusivität ohne Gefühle. War das alles, was es für ihn gab?
‚Nimm, was du bekommen kannst‘, sagte Erik sich und nahm einen weiteren Schluck. ‚Mehr wird es sowieso nie werden.‘
Nein! Es brauchte einfach nur Zeit. Erik könnte sich irgendein Fach an der Uni aussuchen und studieren. Sich ein Zimmer nehmen, während er bei Alex was nebenbei verdiente.
Noch ein Schluck. Die verdammte Flasche war fast leer. Wenigstens saß Tom inzwischen ohne Oberteil auf dem Bett.
Wenn Erik studierte, wäre er auf dem gleichen Level wie Tom, oder nicht? Vielleicht würde der ihn dann anders sehen. Es waren doch nicht einmal zwei beschissene Lebensjahre, die der Kerl Erik voraushatte.
‚Abgesehen von den offensichtlichen finanziellen und familiären Unterschieden.‘
Tom stand auf und trat auf ihn zu. Leicht verengte Augen forderten Erik heraus, ohne seinen Blick auf sich halten zu können. Der verlagerte sich stattdessen zu den etwas zu vollen Lippen, auf denen ein anzügliches Grinsen lag. Ein Zeigefinger zog eine Spur von Eriks Kehlkopf hinab, über das Langarmshirt hinweg, das Brustbein entlang weiter, bis er den Hosenbund erreichte und dort stoppte.
Das Ziehen im Bauch war weg. Ebenso das Flattern. Zum ersten Mal seit Wochen, wenn nicht Monaten herrschte in Erik tatsächlich Leere. Zumindest fühlte es sich dadurch nicht mehr so beschissen an. Sein eigener Blick wanderte höher, schaffte es, für einen Sekundenbruchteil Tom in die blaugrünen Augen zu sehen.
‚Falsch‘, zuckte es Erik durch den Kopf und brachte schlagartig das schlechte Gewissen mit sich.
Der nächste große Schluck leerte Eriks Bierflasche. Danach stellte er sie auf den Schreibtisch. Diese verfluchten Gedanken würde er nicht wieder zulassen. Es war nicht Tom, der falsch war, sondern er selbst. Wenn Erik sich genug bemühte, würde er es schaffen, sich zu ändern. Und dann würde sich diese Sache hier, zwischen ihnen auch endlich richtig anfühlen.
Vielleicht.