13 – Wahn und Vorstellung
Es war deutlich nach zehn Uhr, als Erik gemeinsam mit Tom aus dem Kino schlenderte. Er fühlte sich wie aufgeputscht und die Tatsache, dass Tom den ausgewählten Thriller offenbar genauso genossen hatte, wie er, tat das Übrige. Es war so verflucht einfach, mit Tom Zeit zu verbringen.
‚Erstaunlicherweise sogar, wenn ihr eure Klamotten anhabt‘, höhnte es geradezu hämisch in Eriks Kopf. Trotzdem musste er zustimmen.
Bisher waren sie ein paar Mal im Rush-Inn gewesen, bevor sie sich immer recht flott in Toms WG in der Nähe verzogen hatten. Wirklich Zeit, in der es nicht darum ging, möglichst rasch in die Laken zu kommen, hatte Erik mit Tom bisher entsprechend nicht verbracht.
Allerdings war Letzterer eben der Einzige, mit dem Erik sich überhaupt getroffen hatte. Zwar war er in den vergangenen Wochen auch alleine im Rush-Inn gewesen, war von dort aber stets ohne Begleitung wieder verschwunden. Im Wesentlichen deshalb, weil Erik es selten schaffte, überhaupt mal jemanden anzusprechen. Die paar Mal, in denen er sich hatte überwinden können, war er eiskalt abgeblitzt. Und bei den Männern, die Erik ansprachen, fand sich ebenso stets etwas, das ihm nicht gefiel.
Die letzten zwei Stunden im Kino hatte Erik hingegen genossen. Vor allem Toms Gesellschaft – obwohl er das ungern zugab. Es war nicht wie früher, wenn Erik mit seinen Kumpels ins Kino gegangen war. Auch nicht wie die ein, zwei Gelegenheiten, bei denen Erik seinen Ex Dominik in irgendeine Schnulze begleitet hatte. Das hier fühlte sich anders an. Irgendwie ‚erwachsener‘.
‚Das klingt total blöd‘, dachte Erik bei sich. Aber ein besseres Wort fiel ihm nicht ein.
Denn wenn er an die Kinobesuche mit seinen früheren Freunden zurückdachte, dann waren die grundlegend anders abgelaufen. Sie hatten gelacht und rumgeblödelt. Nicht selten so laut, dass sich die übrigen Gäste gestört gefühlt hatten. Während Erik das damals bereits peinlich gewesen war, hatten einige seiner ‚Freunde‘ unter den Protesten erst recht aufgedreht. Erik runzelte die Stirn. Rückblickend waren sie wohl ziemliche Idioten gewesen. Vielleicht hatte Berger gar nicht so unrecht damit, dass sie sich nicht mehr wie Kinder aufführen sollten.
‚Er hat es zu dir gesagt. Dass du dich wie ein Erwachsener benehmen solltest.‘
Missmutig stopfte Erik die Hände in die Jackentaschen. An den Arsch von Lehrer wollte er nach dem bisher so gut verlaufenen Abend sicherlich nicht denken.
„Ich bin echt froh, dass du gerade den Film ausgesucht hast“, lachte Tom neben ihm und riss Erik damit zurück in die Gegenwart.
„Wieso das?“
„Na, der war echt gut. Und ich wollte ihn mir eh endlich einmal ansehen.“ Toms Lachen klang ehrlich und ließ etwas in Eriks Bauch vibrieren. „Aber ich gebe zu, dass ich dich auch nicht gerade für jemanden gehalten hätte, der sich Liebesfilme oder so was reinzieht.“
„Nicht wirklich“, gab Erik mit einem verhaltenen Lachen zurück. Die hatte er sich in der Tat eigentlich nur für Dominik angetan.
„Du stehst also auf Thriller ...“, fuhr Tom unbeirrt fort. „Worauf noch?“ Für einen Moment stockte Erik – und zwar buchstäblich, indem er stehen blieb. Überrascht hielt auch Tom inne und sah ihn verwundert an. „Was ist?“
Irgendwie fand Erik die Frage danach, worauf er stand irritierend, allerdings konnte er nicht sagen wieso. Überhaupt war der ganze bisherige Abend anders verlaufen als ihre vorherigen Treffen. Dummerweise war Erik sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Fand er das gut? Oder eher nicht? Auf der einen Seite war es unkompliziert, mit Tom Zeit zu verbringen, auf der anderen, war der Grund dafür die Unverfänglichkeit, die bisher zwischen ihnen geherrscht hatte. Oder interpretierte Erik da zu viel in diese Frage hinein?
„Der richtige Umgang und eine korrekte Interpretation der Worte anderer, kann Ihnen Vieles ermöglichen, was ansonsten unmöglich erscheint.“
Hatte Berger ihm das nicht erst vor ein paar Stunden gesagt? Scheiße! Am Ende hatte das Arschloch tatsächlich recht mit dem ganzen Müll, den er immer laberte. Womöglich konnte man den Mist aus dem Deutschunterricht echt für irgendetwas gebrauchen.
‚Ganz sicher nicht!‘, fluchte Erik innerlich. „Weiß nicht“, antwortete er gleichzeitig auf Toms eigentliche Frage. „In letzter Zeit steh ich ziemlich auf die Besuche bei dir.“
Das erschien ihm wie eine relativ unverfängliche Antwort und tatsächlich brachte es ein recht anzügliches Grinsen auf Toms Lippen: „Noch eine Gemeinsamkeit! Es werden zunehmend mehr.“
Wieder dieses Lachen. Ein merkwürdiges Flattern breitete sich in Eriks Mitte aus. Sollte das eine Anmache werden? Misstrauisch sah er zu Tom hinüber, als sie ihren Weg in Richtung der Bushaltestelle fortsetzen. Von dort konnte Erik entweder nach Hause oder eben doch wieder einmal in die WG seines Begleiters. Plötzlich war er sich nicht mehr sicher, was er wollte. Sex mit Tom klang gut. Das ganze Szenario wirkte aber zunehmend wie ein Date.
‚Scheiße! Echt jetzt?‘
Unschlüssig huschte Eriks Blick an Tom neben ihm auf und ab. Im Grunde wusste er nicht viel über den Typ. Alter, Name und dass der Student war. Dann hörte es schon auf. Okay, Erik kannte so einige Details darüber, worauf der Kerl im Bett stand. Wobei sich das in relativ wenigen Worten zusammenfassen ließ: Er wollte gevögelt werden. Zumindest Eriks eigene Kehrseite hatte Tom bisher dabei allerdings nicht die Bohne interessiert. Vorspiel war nicht unbedingt Toms Ding und auch ansonsten lief der Sex eher etwas rauer ab, als Erik das von Dominik gewohnt gewesen war.
Weiterhin schweigend erreichten sie die Bushaltestelle. Erst jetzt fiel Erik auf, dass Tom ihn, seit sie aus dem Kino gekommen waren, nicht mehr angesehen hatte. Dabei hatte Erik sonst immer das Gefühl, als würde Tom ihn die ganze Zeit mustern, seine Reaktionen einschätzen. Während Erik sich meistens zwingen musste, seinem Gegenüber wenigstens ins Gesicht zu sehen.
„Alles okay bei dir?“, fragte Erik schließlich, weil ihm dieses Verhalten allmählich zu merkwürdig erschien.
„Klar“, antwortete Tom hastig mit einem breiten Grinsen.
Der Blick, den er Erik dabei zuwarf, war aber nur kurz und fast augenblicklich schnellten Toms Augen zurück zur digitalen Anzeige neben der Bushaltestelle. Nach einem eigenen flüchtigen Blick war Erik klar, dass der Bus zur Wohnung seiner Mutter zuerst eintreffen würde. Zu Tom mussten sie eine andere Linie nehmen, die erst in zehn Minuten eintraf.
„Du bist heute komisch“, gab Erik schließlich zu und lehnte sich gegen die Glaswand des Wartehäuschens. „Was ist los?“
Tom zuckte mit den Schultern und irgendwann seufzte er. „Hey, ich finde das zwischen uns echt toll, Erik. Versteh mich nicht falsch. Aber irgendwie ... keine Ahnung.“ Einen Moment schwieg Tom, dann drehte er sich herum und sah Erik endlich direkt an. „Im Grunde will ich nur jemanden, mit dem ich etwas Spaß haben kann. Dieses ‚so gar nicht reden‘ liegt mir aber allmählich schwer im Magen.“
Erik runzelte die Stirn. Einen Moment lang überlegte er, ob Tom das so meinte, dass er sich nicht mehr treffen wollte. Aber wieso dann die Verabredung im Kino? Blieb eigentlich nur eine andere Möglichkeit.
„Was soll das heißen? Willst du jetzt ausgehen? Beziehung und den ganzen ... Rest?“ Es kostete Erik einiges an Überwindung, nicht ‚Scheiß‘ zu sagen, denn weiterhin war er sich nicht sicher, ob er es tatsächlich so beschissen finden würde, wenn da etwas ‚mehr‘ zwischen ihnen beiden laufen würde. So ein Fiasko wie mit Dominik wollte Erik allerdings nicht wiederholen.
„Nein. Ich hab wirklich null Bock auf eine komplizierte Beziehung. Oder irgendwas, wo ich am Ende noch an Jahrestage oder was weiß ich was für einen Mist denken muss“, antwortete Tom grummelnd. „Andererseits will ich mich ab und an mal, bei wem anders als Alex über einen beschissenen Tag auskotzen. Und ich geh gern ins Kino – aber nicht allein.“
Erik überlegte. So ganz doof klang der Vorschlag nicht. Er hatte in letzter Zeit mehr als genug Tage gehabt, an denen er sich nur zu gern über den Mist in der Schule bei jemandem ausgekotzt hätte. Allerdings war Erik sich nicht sicher, ob er das ausgerechnet bei Tom machen sollte.
‚Dafür wäre ein Psychiater vermutlich geeigneter‘, gab die hämische Stimme in Eriks Kopf zu bedenken.
„Hey, ich dachte nur ...“, setzte Tom erneut an und brach ebenso wie zuvor wieder ab. „Ach, vergiss es.“
„Nein, schon okay“, gab Erik sanft zurück. „Ab und zu Kino klingt eigentlich nicht schlecht ...“
Es war beschämend, dass Toms zufriedenes Lächeln schon wieder das komische Flattern in Eriks Bauch lostrat. Was war heute denn mit ihm los? Er war doch sonst nicht so ein gefühlsduseliger Mensch! Aber mit Tom hier zu stehen und den lächeln zu sehen, machte irgendwas mit Erik. Etwas, das er nicht verstand und von dem er nicht sicher war, ob es gut oder schlecht sein würde. Allerdings klang die Idee, herauszufinden was es war ungewohnt verlockend.
„Und ... na ja“, stammelte Tom verlegen weiter. „Es wäre ... nett, wenn ... ich mir keinen Kopf drum machen muss, mit wie vielen anderen Typen du nebenbei noch rummachst.“
Erik zögerte, antwortete dann aber wahrheitsgemäß: „Seh ich nicht als Problem.“
Diesmal war es kein Flattern, das seinen Bauch eroberte, sondern eher ein unangenehmes Ziehen. Dominik hatte behauptet, sie würden eine Beziehung führen. Da war nie die Rede davon gewesen, dass sie nebenbei noch mit anderen Typen was haben würden. Natürlich wusste Erik, dass das für viele nicht gerade unüblich war. Aber Domi hatte was von Liebe gefaselt, von Exklusivität und dem ganzen Müll. Und am Ende hatte es rein gar nichts bedeutet.
‚Tom ist nicht wie Domi‘, sagte Erik sich und schielte zu seinem Begleiter, der ungewohnt aufgewühlt vor ihm stand.
Vielleicht konnten sie ja einfach einmal sehen, wohin die Sache führen würde. Die Vorstellung, dass es da außer seiner Mutter einen Menschen in seinem Leben gab, dem Erik zur Abwechslung einmal nicht reichlich egal war, fühlte sich nicht gerade beschissen an. Und mehr verlieren konnte Erik ja ohnehin nicht.
In dem Moment kam der Bus und Tom nickte mit dem Kopf in dessen Richtung: „Kommst du mit zu mir oder fährst du nach Hause?“ Da musste Erik nicht lange überlegen und grinste lediglich zurück, während er weiter gegen die Glaswand gelehnt stehen blieb – bis der Bus verschwunden war. „Gut. Dann sind wir uns einig?“
„Denke schon“, antwortete Erik. Warum auch nicht? Es war ja nicht so, dass Tom sonderlich viel mehr als bisher von ihm zu erwarten schien. Schließlich schaffte Erik es ja eh nicht, mit irgendwelchen ‚Fremden‘ ins Bett zu steigen. Wäre also kaum eine Veränderung.
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Erschrocken riss Erik die Augen auf und versuchte, sich zu orientieren. Es war stockdunkel in dem Zimmer, in dem er lag und trotzdem wusste er sofort, dass er nicht zu Hause war. Allerdings dauerte es ein paar weitere Minuten, in denen sich Eriks Augen endlich an die Dunkelheit gewöhnten, bis ihm klar wurde, was ihn geweckt hatte. Etwas verwundert senkte Erik den Kopf und sah auf den Arm, der sich über die Seite und vor seine Brust gelegt hatte.
‚Scheiße, was wird denn das jetzt?‘, war Eriks erster Gedanke. Mit einem Stirnrunzeln versuchte er, sich auf den Rücken zu drehen, aber da lag schon jemand und blockierte somit seine Bewegung.
„Rutsch rüber, Tom“, murrte Erik. Weiter nach rechts konnte er selbst schließlich nicht ohne mit dem Arsch auf dem Boden zu landen.
Tom murmelte irgendwas Unverständliches, drehte sich trotzdem endlich um und machte Platz für ihn. Mit einem Grummeln legte Erik sich auf den Rücken, sah anschließend zu dem Mann an seiner Seite hinüber. Der lag inzwischen von ihm abgewandt und war offenbar sofort wieder eingeschlafen.
Die schwarzen Haare erschienen irrwitzigerweise noch dunkler und wie so oft in letzter Zeit, tauschte das Bild vor Erik quasi umgehend mit einem anderen die Plätze. Wütend über sich selbst drehte er den Kopf weg und starrte stattdessen in Richtung Zimmerdecke. Plötzlich kam es Erik wie ein Fehler vor, dass er nur wenige Stunden zuvor Tom zugesagt hatte, dass das hier verbindlicher sein könnte. Keine Beziehung, aber was genau es dann wäre, wusste Erik dennoch nicht. Sexfreundschaft? Schlief Tom trotzdem mit anderen Kerlen? Hatte nicht danach geklungen, als sie nach dem Kino hierher gefahren waren.
‚Wenn die Sache mit Dominik den Scheiß ausgelöst hatte, würde irgendetwas mit Tom es dann besser machen?‘
Sofort schimpft Erik umgehend mit sich selbst, weil die Frage allein schon total hirnrissig erschien. Wieso sollte Tom irgendwas an Eriks beschissenen Leben ändern können? War ja nicht so, dass sie hier von Liebe oder so einem Müll redeten. Das war Schwachsinn.
‚Alles nur weil du das Arschloch Berger nicht aus dem Kopf bekommst.‘
Noch immer geladen, da er einen solchen Unsinn dachte, zerrte Erik an der Decke, die Tom ihm komplett zu entreißen drohte. Nachdem er das leidlich geschafft hatte, setzte Erik an, sich auf die Seite zu drehen.
„Was denn los?“, maulte Tom und drehte sich ebenfalls um, was zumindest einen Teil der Decke endlich freigab.
„Nichts“, murmelte Erik und versuchte die Wut, die er auf Berger empfand, nicht an Tom auszulassen. Es reichte schon, dass er den ganzen Rest, der sich beim Anblick seines Lehrers in ihm aufstaute, regelmäßig bei diesem Kerl hier abließ. Wobei der da ja offensichtlich wenig Probleme damit hatte.
Ein weiteres Mal legte sich ein Arm um Eriks Oberkörper und er zuckte instinktiv zusammen. „Dann schlaf endlich. Dein beschissenes Handy klingelt doch garantiert wieder viel zu früh.“
„Ich muss erst nach Hause vor der Schule“, murrte Erik verhalten. Er hatte selbst ja auch nicht unbedingt sonderlich viel Spaß daran hier derartig früh abhauen zu müssen. Aber Erik brauchte schließlich die Schulsachen, wenn er nicht mehr Schwierigkeiten bekommen wollte, als er eh schon an den meisten Tagen hatte.
„Dann bring das nächste Mal den Kram halt mit.“
Der Arm wurde fester um Eriks Oberkörper gezogen. Prompt breite sich erneut das ungewohnte Flattern in Eriks Magen aus. Ganz so scheiße war das hier nun auch wieder nicht, obwohl das Heizkraftwerk hinter ihm, zu heiß eingestellt war.
„Jetzt schlaf endlich, Erik.“
Kurz darauf hörte er leises Schnarchen und viel zu warmer Atem strich über Eriks Nacken. Er konnte Hitze nicht ab und fühlte förmlich, wie ihm der Schweiß langsam den Rücken herunter lief. Auf Stellen, an denen Toms Haut ihn berührte, begann es allmählich zu jucken. Es war nervig. Und unangenehm. Trotzdem blieb Erik liegen, stieß Tom nicht von sich, wie eine leise Stimme in seinem Kopf verlangte. Denn da war noch dieser andere Teil von ihm, der das alles gar nicht so scheiße fand.
Glücklicherweise zog Tom sich ein paar Minuten später erneut von Erik zurück und drehte sich ein weiteres Mal auf die andere Seite. Erleichtert atmete er durch und war kurz darauf endlich ebenfalls wieder eingeschlafen.
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Die nächsten Tage verliefen erstaunlich ruhig. Es war fast, als würde mit der Zusage zu Tom, auch Eriks übriges Leben eine neue Wendung nehmen. Sandro hatte sich am Donnerstag und Freitag geradezu dezent zurückgehalten und selbst Berger hatte zur Abwechslung keine neuen Strafarbeiten verteilt, die am Wochenende in der Schule vorbeigebracht werden mussten.
Und so verbrachte Erik geradezu angenehme und entspannende vier Tage. Dabei waren diese Tage nicht anders verlaufen, als seine bisherigen Treffen mit Tom. Sie hatten sich im Rush-Inn verabredet, oder Erik war direkt in die WG gefahren. Ein Bier, ein kurzes, belangloses Gespräch und am Ende waren sie stets im Bett gelandet.
Im Grunde änderte sich Eriks Verhältnis zu Tom nicht wirklich – abgesehen davon, dass sie sich zumindest im Moment deutlich häufiger sahen. Sie führten – glücklicherweise – keine tiefsinnigen Gespräche oder lernten sich großartig näher kennen. Jedenfalls hätte Erik nicht behauptet, dass er nach diesen vier Tagen tatsächlich mehr über Tom wissen würde. Trotzdem gefiel Erik dieser Zustand ausgesprochen gut.
‚Weil du Gesellschaft hast und zur Abwechslung mal nicht nur allein zu Hause hockst‘, bemerkte die beschissene Stimme in Eriks Kopf, sobald er versuchte, darüber nachzudenken. Also ließ er es – zumindest das Nachdenken. Brachte in seinem Fall ja sowieso selten sonderlich gute Ideen hervor.
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Als Erik am Montag schließlich in Biologie saß, wanderte sein Blick verstohlen zur Seite in Richtung Sandro. Im Gegensatz zu den meisten anderen Fächern saß Erik hier auf einem Platz in der hintersten Reihe, von wo er den Rest des Kurses gut beobachten konnte. Nicht, dass er daran normalerweise Interesse hatte. Aber Sandros Zurückhaltung verwunderte ihn immer mehr und so musste Erik sich eingestehen, dass er endlich kapieren wollte, woher der Sinneswandel kam. Der Arsch Sandro hatte doch ganz sicher nicht seine Meinung über Nacht plötzlich geändert.
Genau in dem Moment, als Eriks Blick zu Sandro hinüber wanderte, tat das auch die Hand des Mädchens neben ihm. Nur zielte die deutlich tiefer, als Eriks Augen es getan hatte. Ein kurzes Grinsen huschte über seine Lippen, bevor er hastig zurück zur Tafel sah. Scheinbar war Ines ‚Fürsorglichkeit‘ der Grund dafür, dass Sandros Kopf derzeit mit anderen Dingen beschäftigt war.
‚Zweifelhaft, dass in dem Hirn gerade überhaupt irgendein als höherwertig anzusehender Gedanke anzutreffen ist‘, dachte Erik hämisch.
Er wagte einen weiteren Seitenblick zu Sandro und Ines. Die waren nur zu offensichtlich gerade sehr intensiv mit Biologie beschäftigt. Allerdings nicht mit der vorn an der Tafel beschriebenen Fotosynthese. So lange Ines‘ Hand dafür sorgte, dass Sandros Hirn weiterhin leer blieb und der in der Folge Erik in Ruhe ließ, würde er sich nicht beschweren. Von ihm aus konnten die beiden es auf der Schultoilette den ganzen Tag treiben. Erik persönlich fände das in Anbetracht der Zustände dieser Räumlichkeiten zwar reichlich widerlich, aber wer war er, andere wegen ihrer sexuellen Neigungen zu verurteilen?
Erik war noch immer gut gelaunt, als er sich am Ende des Schultages auf den Weg nach Hause machte. Wenn das so weiterging, könnte er ja womöglich doch mit auf die Klassenfahrt. Bisher stand das Ziel nicht fest. Also war die Sache mit dem Strand und dem Meer – zwei Dinge, die Erik nicht sonderlich interessierten – noch nicht in Stein gemeißelt.
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Als er aus der Schule kam, war Eriks Laune anhaltend gut und vielleicht war das der Grund, warum er direkt das Handy heraus holte, und Tom fragte, ob der Lust hatte, heute was zu unternehmen.
『Sorry, muss echt mal lernen. Morgen wieder? :( 』, schrieb Tom jedoch zurück und ruinierte damit zumindest ein Stück weit die gute Stimmung.
『Alles klar』, antwortete Erik trotzdem und steckte das Handy weg.
‚Und jetzt?‘
Seit Erik den Sportverein aufgegeben hatte, beschränkten sich seine Hobbys auf Fernsehen und Vögeln – so er zu Letzterem denn die Chance bekam.
‚Dann halt Wichsen … mit dem Bild deines verdammten Lehrers im Kopf‘, kam prompt ein Vorschlag von Eriks ganz persönlichem mentalen Vollidioten.
Frustriert stapfte er die Treppe hinauf zur Wohnung seiner Mutter. Auf Hausaufgaben hatte Erik keinen Bock. War Tom tatsächlich zur einzigen Abwechslung in seinem Leben geworden?
Mit einem Schnauben warf Erik den Rucksack neben den Schreibtisch und ließ sich auf das Bett fallen. Außer Schule, Hausaufgaben und die Arbeit bei Herrn Ceylan gab es derzeit wohl tatsächlich lediglich den Sex mit Tom in Eriks Leben.
‚Die Beziehung‘, versuchte ein total idiotischer Teil von Erik, seine Gedanken zu korrigieren.
Prompt verzog er das Gesicht. Dieser Begriff war nie gefallen und von Erik ja nicht einmal gewollt. Außerdem war er sich ziemlich sicher, dass Tom sogar gesagt hatte, dass er eben keinen Bock auf irgendwelche komplizierten Beziehungen hatte. Wobei man das, was da zwischen ihnen lief, nicht gerade als ‚kompliziert‘ bezeichnen konnte.
Dass Tom der Meinung gewesen war, sich von einem seiner Mitbewohner irgendein Gesellschaftsspiel ausleihen zu müssen, war durchaus fragwürdig in Eriks Augen. Aber so schlimm, wie er zuerst geglaubt hatte, war es dann auch wieder nicht gewesen. Immerhin hatten sie es mit dem Ding geschafft, fast zwei Stunden auf dem Boden in Toms Zimmer zu hocken und etwas zu spielen, bei dem man zur Abwechslung nicht nackt sein musste.
Natürlich waren sie danach dann doch wieder ihre Klamotten losgeworden und Erik erst reichlich spät, dafür umso befriedigter nach Hause zurückkehrt. Seine Mutter hatte zwar gemurrt, dass sie es selbst an Wochenenden nicht gut fand, wenn er so lang wegblieb. Mehr hatte sie aber nicht gesagt.
Und so lag Erik an diesem Abend in seinem Bett und starrte gedankenverloren an die Decke. Was genau wollte er eigentlich von Tom? Die Sache mit der Beziehung hatte Erik schon einmal in den Sand gesetzt. Und Tom war da ja auch nicht drauf aus. Alles, worauf Erik im Moment wohl hoffen durfte, war ein recht vage Zusage, dass sie nicht einfach so mit anderen Typen ins Bett stiegen.
Was er von ‚Exklusivität‘ zu halten hatte, hatte Erik ja aber schon bei Dominik gelernt. Der Gedanke daran, dass er Tom ebenso irgendwann bei Alex auf dem Herrenklo mit einem anderen erwischen würde, gefiel Erik nicht. Dass er überhaupt darüber nachdachte und es ihm nicht scheißegal war, gefiel ihm allerdings noch weniger.
Dabei hatte er sich doch mit Tom nur deshalb weiterhin getroffen, weil der Erik die Bilder von Berger ersparte. Wenigstens für ein paar Augenblicke. Mit etwas Glück bis zur nächsten Deutschstunde.
Heute hatte er offenbar kein Glück. Die Hausaufgaben waren erledigt, Tom nicht greifbar. Was blieb ihm da? Oder wer?
Ein kurzes Frösteln lief durch Eriks Körper. Wütend, weil er sich aufführte wie ein dämlicher Idiot, drehte er sich zur Seite und versuchte, die düsteren Gedanken zu verdrängen.
Aber je weniger Erik darüber nachdenken wollte, desto bewusster wurde ihm, dass er sich bis zu diesem verhängnisvollen Tag im letzten Sommer nie wirklich allein gefühlt hatte. Bis dahin hatte er jede Menge Freunde gehabt. Jedenfalls hatte Erik das geglaubt und diese Jungen jahrelang so bezeichnet.
„Scheiß drauf“, murmelte Erik, währen der die Augen noch fester zusammenkniff.
Wenn er einmal ehrlich war, hatte Erik doch immer gewusst, dass irgendetwas an seinen Freundschaften anders gewesen waren – nie so tiefgreifend wie die der anderen. Erik konnte sich nicht erinnern, jemals bei einem seiner Kumpel übernachtet zu haben. Sie hatten nie mit ihm über ihre Zukunftspläne gesprochen. Waren zwar öfters zusammen in irgendwelche Klubs gegangen, aber selten gemeinsam wieder raus.
‚Weil du nie wirklich dazugehört hast.‘
Vermutlich war er schon länger ‚anders‘ gewesen, als Erik gedacht hatte. Umso erstaunlicher, dass seine so genannten Freunde, es nicht viel eher geahnt hatten. Oder hatten sie es vermutet und nur nie etwas gesagt? Erik wäre sicherlich auch nicht zu einem von denen hingegangen und hätte frei heraus gefragt: „Sag mal, bist du eigentlich schwul oder wie ist das?“
Stöhnend zog Erik sich das Kissen über den Kopf. Er musste hier raus – aus diesem Gefängnis für die Erinnerungen seiner Kindheit. Ein Zeichen dafür, was Erik alles nicht erreicht hatte.
Da waren keine Fotos an der Wand von seinen Freunden, weil es keine gab – weder Freunde noch die Bilder. Keine Pokale vom Ringen, denn obwohl Erik gar nicht schlecht und öfters einmal auf dem ‚Treppchen‘ gewesen war, für einen ersten Platz hatte es eben nie gereicht. Die Möbel standen seit mindestens zehn Jahren hier – und das nicht nur, weil Eriks Mutter kein Geld für andere Möbel gehabt hatte.
‚Warum etwas neu kaufen, wenn das Alte noch in Ordnung war?‘
Das sah Erik zur Abwechslung genauso wie seine Mutter. Weshalb er sein hart verdientes Geld nie für irgendwelchen Nippes rausgeschmissen hatte. Das einzig ‚Wertvolle‘, was Erik sich je geleistet hatte, war sein Laptop. Das übrige Geld hatte er stets postwendend wieder ausgegeben. Für mehr oder weniger kurzweiliges Vergnügen. Um wenigstens in der Hinsicht ein Teil der anderen zu sein.
Jedenfalls ‚damals‘ als Erik regelmäßig mit Kumpels ausgegangen war. Bevor er Dominik kennengelernt hatte, war Erik oft mit den Jungs aus der Klasse oder aus dem Sportverein weg. Und an Freitagen selten vor zehn zu Hause gewesen. Es gab in ihrer Stadt genug Klubs, die keine Probleme damit hatten, Siebzehnjährige zu bedienen. Nicht jeder machte es sich wie Alex einfach und ließ Kunden unter achtzehn gar nicht erst rein.
Inzwischen ging Erik nur noch ins Rush-Inn, wenn er ausgehen wollte. Und seit er Tom dort getroffen hatte, war Erik nie mit einem der anderen Männer weggegangen.
‚Tatsache ist doch, dass Tom nie ein One-Night-Stand war.‘
Erik seufzte. Diese ganze Gefühlsduselei und der damit verbundene Beziehungskram war einfach nur Mist.