26 – Wiedersehen und Magenschmerzen
Einige Stunden später war es tatsächlich das Piepen eines Handys, das Erik unsanft aus dem Schlaf riss. Er hatte gerade die Augen geöffnet und versuchte, das unerwartete Geräusch einzuordnen, als es erneut piepte. Damit war Eriks schlaftrunkenen Hirn allmählich klar, dass ihm jemand eine Nachricht geschickt hatte. Allerdings dauerte es einige weitere Sekunden, bis besagter Verstand wach genug war, um zu kapieren, dass es nur einen Menschen gab, der ihm regelmäßig Nachrichten schickte.
„Tom!“, keuchte Erik und sprang rasch aus dem Bett. Zu hastig, wie sich herausstellte, als er dadurch postwendend auf dem Boden landete. „Autsch ...“
„Alles in Ordnung, bei dir, Erik?“, hörte er die Stimme seiner Mutter aus dem Flur rufen.
Glücklicherweise kam sie nicht herein. Ihr sicherlich reichlich pikierte Ausdruck darüber, dass er mal wieder ohne Klamotten geschlafen hatte, blieb Erik so erspart. Also beeilte er sich ihr hastig zu versichern, dass alles in Ordnung war.
Mit der linken Hand zog Erik sich die Jeans heran, während er sich aufrappelte. Nach kurzem Kramen fand er wie erwartet in einer der Hosentaschen das Handy.
『Hey Kumpel! Schönes neues Jahr!』, prangte da in der Pushnachricht. Mit einem verhaltenen Lächeln setzte Erik sich auf, lehnte sich mit dem Rücken gegen das Bett und öffnete den Chat mit Tom.
‚Kumpel?‘, fragte Erik sich trotzdem, während er den Rest las. Immerhin hatte Tom sich endlich gemeldet.
『Wir sollten im Laufe des Tages wieder in der Stadt sein. Hast du Lust, dich heute Abend zu treffen?』
Seufzend ließ Erik den Kopf nach hinten auf das Bett fallen, während er das Handy zwischen den Händen drehte. Eigentlich klang die Nachricht wie immer. Und vielleicht war genau das ja das Problem. Denn ‚wie immer‘ hieß im Grunde, dass sie sich trafen, womöglich einen trinken gingen und danach im Bett landeten.
Nicht, dass Erik grundsätzlich etwas gegen Sex mit Tom hatte. Aber war da wirklich nicht mehr zwischen ihnen? War das tatsächlich alles, auf das er hoffen konnte? Der Gedanke behagte Erik nicht.
‚Okay. Zeit, um darüber mit Tom zu sprechen‘, sagte Erik sich und hob das Handy hoch. Das Wochenende stand vor der Tür und Alex hatte ihm für die nächsten Tage, bis die Schule wieder anfing, keine Schicht gegeben. Also hätte Erik ausreichend Zeit.
『Klar』, schrieb er schließlich zurück. 『Wann?』
『Ich gebe dir Bescheid, sobald wir angekommen sind.』
Jetzt wagte sich doch ein zögerliches Lächeln auf Eriks Lippen. Zusammen mit einer nicht zu verachtenden Portion Vorfreude. Etwas verwundert stellte er kurz darauf fest, dass diese deutlich mehr damit zu tun hatte, Tom überhaupt wiederzusehen, als mit der Aussicht, sich mit dem in den Laken wälzen zu können.
Hastig rappelte Erik sich auf und kramte frische Klamotten aus dem Kleiderschrank. Vermutlich würde Tom sich frühestens am Nachmittag melden. Trotzdem fühlte Erik sich mit einem Mal deutlich besser gelaunt. Für eine Sekunde überlegte er, ob er irgendwo noch ein Geschenk für Tom auftreiben konnte.
Stirnrunzelnd stand Erik vor der Zimmertür und schüttelte den Kopf. Weihnachten war inzwischen eine Woche her und Tom hatte es ziemlich deutlich gemacht, dass er von einem Geschenk nichts hielt. Die Erinnerung an dieses Gespräch zog Erik kurzzeitig die Eingeweide zusammen.
„Reiß dich zusammen“, murmelte er genervt davon, dass er allmählich anfing, das Verhalten zu zeigen, das er bei Dominik stets so albern gefunden hatte.
Als Erik zwanzig Minuten später frisch geduscht und angezogen in die Küche trat, hatte seine Mutter das Mittagessen fertig. Mit einem fröhlichen Lächeln begrüßte sie Erik und schob ihm einen Teller zu.
„Und? Wie war der Abend mit deinen Freunden?“, fragte sie mit einem Kichern, kaum dass sie mit dem Essen begonnen hatten.
Erik zuckte mit den Schultern und starrte verlegen auf den Teller. „War nett.“
„Das ist schön.“
Sie verfielen in ihr übliches Schweigen zurück. Normalerweise hatte Erik damit keine Probleme – bevorzugte es sogar. Mit einem Mal schien es aber drückender denn je zu sein. Wo sie früher das Schweigen beide geradezu perfektioniert hatten, fühlte Erik immer häufiger den Drang danach, reden zu wollen. Aber jedes Mal, wenn dieser in ihm aufkam, zuckte er zurück.
So auch heute.
„Ma?“, fragte Erik dennoch, denn zumindest darüber, dass er plante, diese Nacht nicht nach Hause zu kommen, sollte er wohl mit ihr reden. Aus dem Augenwinkel bemerkte Erik, dass sie aufsah und ihn anblickte. „Ich ... würde nachher gern noch weggehen. Kann sein, dass ich bei ... einem Freund übernachte. Ist das okay?“
„Es sind Ferien, also sicher“, gab sie mit einem Lächeln zurück. Nach kurzem Zögern fügte sie leise hinzu: „Sieh nur bitte zu, dass ihr ... nicht über die Stränge schlagt.“
Das hatte sie früher schon immer gesagt und leider wusste Erik sehr genau warum, obwohl er sich das in den letzten Jahren ungern eingestanden hatte. Da fiel ihm die Hausaufgabe für Berger wieder ein und die Tatsache, dass er in der Rollenspalte für seine Mutter bisher nichts eingetragen, dafür seinen Vater bereits durchgestrichen hatte.
„Kann ich dich mal etwas fragen, Mama?“
„Natürlich“, gab sie lächeln zurück. „Was ist los?“
„Wo ist Papa?“
Das Schweigen, das ihm entgegenschlug, hätte lauter nicht sein können. Verschwunden war das Lächeln. Stattdessen konnte Erik sehen, wie es in ihr kämpfte. Er hatte sich immer gefragt, ob sie wirklich nicht wusste, was mit seinem alten Herrn passiert und wohin der abgehauen war. Die Art, wie sie auf ihrer Lippe kaute, war zumindest eine Antwort auf diese Frage, wenn auch nicht auf die, die Erik ihr eben gestellt hatte.
„Schon gut“, murmelte er, als sie sich offensichtlich nicht dazu durchringen konnte, ihm die Wahrheit zu sagen. „Es ist nicht wichtig.“
„Warum willst du das wissen?“
Erik war sich nicht sicher, weshalb er ihr antwortete. Vielleicht wollte er wenigstens diesen einen Punkt in seinem Leben endlich geklärt haben: „Deutschhausaufgabe. Wir sollen die Menschen, zu denen wir Beziehungen haben, aufschreiben und welche Rollen sie in unserem Leben führen.“
„Du hast keine Beziehung zu deinem Vater und er spielt in unserem Leben keine Rolle“, antwortete sie kühl.
Da hatte sie wohl recht. Trotzdem war Erik enttäuscht, dass seine Mutter ihm nicht die Wahrheit sagte. Er war schließlich kein Kind mehr.
„Er ist im Gefängnis“, murmelte sie plötzlich. „Ich ... habe es dir nicht gesagt, weil ich nicht wollte, dass du ...“ Sie brach ab und wedelte geradezu hilflos mit der Gabel in der Luft herum.
Erik schluckte, nicht sicher, was er darauf sagen sollte. Das eine oder andere Mal hatte er vermutet, dass sein alter Herr womöglich längst ins Grass gebissen hatte oder im Knast saß. Aber jetzt, wo es Gewissheit war, fühlte sich diese Wahrheit trotzdem bedrückend an. Zumal Eriks Vater garantiert nicht wegen einer Kleinigkeit seit sechs Jahren hinter Gittern saß.
Entsprechend war Erik sich nicht sicher, ob er die Antwort auf seine nächste Frage wirklich wissen wollte: „Was hat er gemacht?“
Seine Mutter zögerte erneut, bevor sie antwortete: „Totschlag.“ Es dauerte ein paar Sekunden länger, dann fügte sie hinzu: „Mehrfach.“
Die Frage wen sein Vater umgebracht hatte, brachte Erik nicht über die Lippen. Er konnte sich nur zu gut an die Wutanfälle seines alten Herren erinnern. Und im Grunde würde es sowieso keinen Unterschied machen. So oder so war er offensichtlich tatsächlich der Sohn von irgendeinem Arschloch. Wen wunderte es also, dass in Eriks Kopf ebenso eins wohnte. Ganz abgesehen von dem Mist, der sich dort ständig abzuspielen schien.
„Du bist nicht wie er“, sagte seine Mutter, als würde sie die in Erik aufsteigenden Gedanken lesen können.
Er sah auf und war sich nicht sicher, ob er ihr zustimmen würde. Den ernsthaften Drang, jemanden umzubringen, hatte Erik nie verspürt. Aber das, was an manchen Tagen in seinem Kopf vorging, ließ ihn an sich selbst zweifeln. Vielleicht steckte mehr von diesem Mistkerl in ihm, als er oder seine Mutter zugeben wollten.
„Du bist nicht wie er, Erik!“, betonte sie erneut, diesmal mit fester Stimme. „Und er spielt in deinem Leben keine Rolle mehr.“
Erik nickte folgsam und lächelte sie an, in der Hoffnung, dass sie recht behalten würde, mit ihren Worten. Der Rest des Essens verlief schweigend. Kaum, dass er fertig war, räumte Erik den Teller weg und verkroch sich danach in sein Zimmer. Als er die Tür hinter sich schloss, fiel sein Blick auf den Schreibtisch, wo weiterhin die Liste für die Deutschhausaufgabe lag.
Einem spontanen Impuls folgend, setzte er sich hin und griff zum Stift. Neben den Namen seiner Mutter schmierter er in die Rollenspalte ein flüchtiges ‚jede, die zählt‘. In die Zeile, in der er seinen Vater durchgestrichen hatte, schrieb er nun doch dessen Namen hin – der Einzige auf der Liste, den er tatsächlich vollständig hingeschrieben hatte. Als Erik zur nächsten Spalte kam, zögerte er nicht. Trotzdem zitterte seine Hand leicht, als dort ein ‚abschreckendes Beispiel‘ hinein schrieb.
Egal, was in seinem Kopf schieflief. Er war sich sicherer als je zuvor: Niemals würde Erik zulassen, dass er genauso ein Arschloch wie sein Vater wurde.
Bevor er es sich anders überlegen konnte, stopfte Erik die Blätter in den Block und legte ihn auf eine Ecke des Schreibtisches. Zwar lag das Wochenende noch vor ihm, aber von Hausaufgaben – und erst Recht von diesen hier – hatte Erik vorerst genug.
Ein Blick nach draußen zeigte klares Wetter und da er vor dem Treffen mit Tom auf jeden Fall den Kopf von diesem Mist freibekommen wollte, entschied Erik sich dazu, endlich wieder zu trainieren. Klang grundsätzlich nach einem anständigen Vorsatz für das neue Jahr.
Eriks Mutter war zwar reichlich verwundert, dass er ausgerechnet bei um die Null Grad zum Laufen raus wollte, sagte sonst aber nichts weiter dazu. Und so fand er sich ein paar Minuten später auf der Straße wieder und joggte gemütlich in Richtung Flussufer.
✑
Es war zwar kalt draußen, aber die frische Luft hatte in der Tat geholfen, Eriks Kopf von den stetig düster werdenden Gedanken zu befreien. Nachdem er mehr als eine Stunde später wieder zu Hause ankam, fühlte er sich zwar erschöpft, aber trotzdem besser.
Erik hatte die Wohnung eben betreten, als seine Mutter ihm schon hektisch entgegenkam und sich die Schuhe überzog. Verwirrt runzelte er die Stirn. Sie hatte heute doch gar keinen Dienst.
„Was ist los?“, fragte Erik nach, während seine Mutter sich ihre Jacke überzog.
„Ach nichts. Eine Kollegin hat sich überraschend krankgemeldet und da haben sie gefragt, ob ich spontan einspringen kann.“
„Du warst jetzt zwei Wochen jeden Tag auf Arbeit. Können die nicht jemand anderen fragen?“
Eriks Mutter lachte und schüttelte den Kopf. „Ach, du hast doch sowieso gesagt, dass du weggehst“, entgegnete sie lediglich mit einem Augenzwinkern.
„Darum geht es doch nicht ...!“, setzte Erik erneut an, nur um ein weiteres Kopfschütteln dafür zu ernten.
Sie winkte zum Abschied und war kurz darauf verschwunden. Mit einem zunehmend schlechten Gefühl im Bauch sah Erik auf die verschlossene Tür. Er hätte seiner Mutter nichts von der Abschlussfahrt sagen sollen. Wenigstens so lange, bis er sicher war, das Geld nicht alleine auftreiben zu können. Wahrscheinlich nahm sie jede verdammte Schicht an, die man ihr anbot, weil sie meinte, mit den Überstunden das Geld für die Fahrt verdienen zu können. Und für diesen dämlichen Anzug, den sie ihm kaufen wollte.
Eriks Innerstes zog sich krampfartig zusammen. Es wurde Zeit, dass das Schuljahr vorbei war und er sich einen richtigen Job suchen konnte. Einen, in dem Erik mehr verdiente, damit sie endlich anfing, ihr eigenes Leben zu führen. Zumindest sollte er Alex nach weiteren Schichten fragen. Sobald die schriftlichen Prüfungen vorbei waren, würde es keinen Unterschied machen, falls er jeden Tag dort stand. Seiner Mutter hatte Erik lange genug auf der Tasche gelegen.
In diesem Moment piepte sein Handy in der Jackentasche. Ein Lächeln huschte über Eriks Lippen, während er kurz darauf Toms Nachricht las. Scheinbar war der zusammen mit seinem Bruder und dessen Familie gerade dabei, von der Autobahn zu fahren. Noch eine halbe Stunde, wann wäre Tom in der WG. Grinsend schaffte Erik das Handy in sein Zimmer. Wahrscheinlich würde Tom, nachdem er angekommen war, direkt den Weg in die Dusche finden.
‚Wäre für dich auch angebracht‘, sagte Erik sich selbst. So verschwitzt, wie er war, sollte er Tom besser nicht unter die Augen treten.
✑
„Hey! Da bist du ja“,
Erik hatte sich mit der Dusche Zeit gelassen und extra noch zwei Busse abgewartet, bevor er sich auf den Weg zur WG machte. Trotzdem war nur knapp eine Stunde nach Toms Nachricht vergangen, als Erik an dessen Tür klingelte.
Der nicht gerade überschwänglich fröhliche Ton bremste Eriks bis dahin aufgeregt schlagendes Herz allerdings sehr erfolgreich ein. Dass Tom bereits in den üblichen Freizeitklamotten, bestehend aus locker sitzender Jogginghose und schlabberigem T-Shirt, hier stand, sprach ebenfalls Bände. Welche, die Erik heute nicht wirklich lesen wollte.
‚Andere würden sich freuen.‘
Diese ‚anderen‘ waren hoffentlich nicht hier. Also erwiderte Erik den Gruß und trat ein. Eine kurze Umarmung und ein kräftiger Schulterklopfer, der nicht wirklich das war, was Erik sich gewünscht hätte. Dem Versuch eines Kusses wich Tom aus. Womöglich bewusst oder lediglich weil er es offensichtlich eilig hatte, Erik in die Wohnung zu ziehen. So ganz entscheiden, was ihm da lieber wäre, konnte Erik sich nicht.
„Schönes neues Jahr“, murmelte Erik und erntete von Tom dafür endlich ein strahlendes Lächeln.
‚Na also. Nicht immer so negativ denken‘, ermahnte Erik sich und lächelte zurück.
„Komm rein. Die anderen sind noch nicht wieder da. Wir haben also ausnahmsweise die ganze Wohnung für uns.“
Keine störende Nora und erst recht keine merkwürdigen Blicke von Mario oder Lukas. Das klang gar nicht schlecht. ‚Zumindest hätte das Jahr beziehungstechnisch definitiv schlimmer anfangen können.‘
Erik zuckte zusammen, denn das Thema ‚Beziehung‘ wollte er ja erst einmal mit Tom klären. Der hatte allerdings zunächst eindeutig andere Sachen im Kopf, als er Erik in Richtung seines Zimmers schob.
„Rucksack dabei?“, fragte Tom mit einem anzüglichen Grinsen im Gesicht. „Also bleibst du tatsächlich die ganze Nacht?“
Etwas verhalten zuckte Erik mit den Schultern und grinste schief. „Wie war dein Weihnachtsfest?“, fragte er stattdessen.
„Ach, wie immer. Du weißt ja, wie das ist“, antwortete Tom und winkte lächelnd ab. „Der ganze Familiensermon kann manchmal echt nerven. Oma, Opa, mein Bruder, seine Frau ... jede Menge Leute, die Weihnachten zelebrieren, als gäbe es kein Morgen. Und Luis war, glaube ich, die halbe Zeit im Zuckerschock.“
Das fröhliche Lachen schnitt Erik heftiger in den Magen, als es sollte. Er konnte sich an kein Weihnachten mit den Großeltern erinnern, kannte sie nicht einmal. Seit sein Vater verschwunden war, hatte Erik die Feiertage immer mit seiner Mutter verbracht. Okay, als er jünger gewesen war, hatte sie ihn ab und an zu einer der Weihnachtsfeiern im Pflegeheim mitgenommen.
Die alten Leute dort waren ein paar Jahre lang so etwas wie ‚Großeltern‘ gewesen in dieser Hinsicht. Irgendwann hatte Erik darauf keine Lust mehr gehabt. Die meisten von denen hatten ohnehin nach fünf Minuten vergessen, wer er war.
„Klar“, antwortete Erik trotzdem. Denn mit einem Mal erschien sein Leben noch defekter, als es ohnehin schon war. Zu kaputt, als dass er wollte, dass Tom etwas davon mitbekam.
‚Kein Wunder, dass du gestört bist‘, verhöhnte seine innere Stimme Erik mal wieder.
„Wie war es bei dir?“
Erik schluckte und zuckte mit den Schultern, bevor er antwortete: „Ruhig.“
In Toms Zimmer angekommen, verstaute Erik den Rucksack neben dem Schreibtisch. Ein großer Koffer stand vor dem Kleiderschrank. Vermutlich war Tom tatsächlich erst heimgekommen und hatte nicht einmal ausgepackt.
„Soll ich dir beim Auspacken helfen?“, fragte Erik mit Schmunzeln und deutete auf den Koffer.
Tom jedoch zog lediglich die Augenbrauen hoch und trat auf ihn zu. „Ich würde lieber was ganz anderes auspacken“, raunte er zurück. Flinke Finger wanderten über Eriks Bauch und hinab zur Jeans.
„Hast du mich so sehr vermisst, dass du keine zehn Minuten Small Talk durchhälst?“, lachte Erik und trat einen halben Schritt zurück.
Tom schmunzelte, ließ sich aber von dem angedeuteten Rückzug nicht beirren. Sofort folgte er Erik, drängte ihn weiter in Richtung Bett, bis Erik die Matratze hinter den Beinen spürte. Ein kurzer Stoß vonseiten Toms und prompt fiel Erik rückwärts auf die Decke.
„Oh ja, ich hab dich in der Tat vermisst.“
Schon beschleunigte sich Eriks Herzschlag. Unsicher schielte er an Tom vorbei in Richtung der halb offenen Zimmertür. Auch wenn der gesagt hatte, dass sie hier alleine waren, fühlte Erik sich plötzlich unwohl. Sollten sie nicht wenigstens erst einmal über irgendetwas reden?
‚Worüber denn?‘, höhnte es in seinem Kopf und ließ ihn zusammenzucken. ‚Bist du genauso eine verweichlichte Labertasche wie Dominik oder was?‘
Erik wollte der Stimme widersprechen, aber je mehr er es versuchte, desto deutlicher stellte er sich die Frage, ob Tom sich im Grunde nicht genauso verhielt, wie Erik es mit seinem Ex gehandhabt hatte. Nur, dass es ihm von dieser Seite aus so überhaupt nicht mehr gefiel.
Allerdings hatte Erik kurz darauf kaum Zeit, um darüber nachzudenken, denn Tom ließ wenig Zweifel daran, dass er gedachte, die vergangenen Tage seiner Abwesenheit aufzuholen. Schon saß er auf Eriks Schoß und zog dem das Shirt über den Kopf.
„Ich hoffe doch, du hast mich genauso vermisst“, raunte Tom und legten sanfte Lippen an Eriks Hals.
„Natürlich“, keuchte der, als Tom bereits die Finger hinter den Hosenbund von Eriks Jeans schob.
Um nicht ganz so teilnahmslos hier rumzuhängen, hob Erik die Arme und legte seine Hände auf Toms Po. Ein kurzer Ruck und er zog die schlanken Hüften zu seinem eigenen Schritt hinunter. Zu sagen, der Sex hätte ihm nicht gefehlt, wäre glattweg gelogen. Die kleinen Küsse, die kurz darauf über Eriks Brust verteilt wurden, waren definitiv in seinem Sinne.
Trotzdem presste er zwischen zusammengepressten Zähnen heraus: „Wie wäre es, wenn wir erst einmal ... keine Ahnung ... reden?“
Das wenig humorvolle Auflachen stach ihm erneut in den Magen, genau wie die daraufhin folgenden Worte: „Guter Witz, Erik.“ Toms Hände wanderten tiefer, rieben über seinen sich deutlich abzeichnenden Schritt. „Als ob der hier gerade Lust hat zu reden.“
Tom öffnete die Jeans und befreite Erik damit aus der unangenehmer werdenden Enge. Darüber war er sicher nicht böse, genauso wenig wie über die Lippen, die sich kurz darauf um ihn schlossen. Das lustvolle Stöhnen brauchte Erik gar nicht erst verstecken. Tom wusste nach den drei Monaten verflucht gut, worauf Erik stand.
„Muss ja nicht immer nur nach seinem Kopf gehen“, murmelte Erik dennoch. Groß zur Wehr setzte er sich jedoch nicht, als Tom ihm mit geschickten Händen die Hose samt Unterhose über den Po zoge.
„Mir gefällt ‚seine‘ Einstellung ausgesprochen gut“, raunte Tom und ließ Erik dabei zusammenzucken. Hastig rappelte er sich auf und schob sich auf dem Bett ein Stück zurück. „Was ist los?“, fragte Tom irritiert.
„Ich ...“, setzte Erik an, brach allerdings erneut ab. Scheiße! Er wollte nicht wie eine verweichlichte Memme dastehen. Aber allmählich brauchte er einfach Gewissheit. „Was ... ist das hier zwischen uns?“, platzte es plötzlich aus Erik heraus.
Tom lachte nur: „Wonach sieht es denn aus?“
Beinahe hätte Erik dem Blödmann an den Kopf geworfen, dass er die Frage nicht stellen bräuchte, wenn er die Antwort kennen würde. Aber er biss sich auf die Lippe und schwieg. Stattdessen ruhte Eriks Blick auf Tom, der sich inzwischen seiner eigenen Sachen entledigte.
„Komm schon“, fuhr Tom weiterhin grinsend fort. „Was ist das Problem?“
„Kein Problem“, antwortete Erik hastig, während seine Augen definitiv unterhalb von Toms Gürtellinie zur Ruhe kamen. „Ich ... wollte nur wissen, wie du es siehst. Was ... bin ich für dich?“
„Also im Augenblick bist du ein Kerl in meinem Bett, der dort deutlich zu einsam aussieht“, feixte Tom weiter.
Nicht die Antwort, die Erik hatte hören wollen. Aber er schwieg zunächst, biss sich förmlich auf die Zunge, um nicht doch noch irgendetwas zu sagen.
‚Es ist das, was du wolltest‘, hörte Erik eine leise Stimme in seinem Kopf. ‚Einfach. Unkompliziert. Sex.‘
Ja, das hatte Erik sich im September, als er Tom kennengelernt hatte, gewünscht. Weil er noch nie mit zu viel Nähe klargekommen war. Aber das hier war es auch nicht. Nur Sex machte Erik austauschbar gegen den Nächstbesten, der Tom mehr interessierte. Der kein gestörter Trottel war, der zu nichts außer Sex taugte. Dann wäre es lediglich eine Frage der Zeit, bis Erik wieder einem Arschloch auf dem Herrenklo eine reinschlug.
Es fing als langsames Brodeln in Eriks Bauch an. Eriks Atmung wurde schneller, der Herzschlag hämmerte mit jeder verstreichenden Sekunde heftiger gegen die Rippen. Am liebsten wäre Erik aufgesprungen. Aber bevor er auch nur ansatzweise dazu kam, überhaupt darüber nachzudenken, wie dämlich und kindisch das rüberkommen würde, fand Tom schon die Ablenkung, die Erik brauchte.
Die gleiche Form von Ablenkung, die Erik in den letzten Monaten viel zu oft in diesem Bett gesucht hatte. Und obwohl es ihm schon wieder die Eingeweide zusammenzog, kam Erik nicht umhin, sich darauf einzulassen.
Mit jeder Berührung ebbte die Wut weiter ab, mit jedem Kuss verblassten die Fantasien, die Erik während der vergangenen Woche gequält hatten, ein Stück mehr. Bis alles, woran Erik denken konnte, dieser Kerl war, der sich ihm derartig bereitwillig präsentierte.
‚Du brauchst ihm nur endlich klarzumachen, dass er zu dir gehört.‘
Ein Stöhnen entkam Erik, als er Tom packte und auf das Bett presste. Er wollte mehr, obwohl er nicht einmal sagen konnte, was das war, wonach es ihm begehrte. Keine verfluchten Liebesgeständnisse, kein weichgespültes Gelaber. Und trotzdem ‚mehr‘.
Als Erik Toms linkes Bein ergriff und zur Seite drückte, hinterließ er mit Sicherheit einen Abdruck. Und der kurze Aufschrei hätte ihn vielleicht stoppen sollen.
‚Diesmal nicht‘, tönte es in Eriks Kopf.
Als Tom versuchte, sich aufzurichten, drückte Erik ihn mit einem kräftigen Stoß wieder zurück in die Laken und legte den Unterarm über die schmale Brust. Zwar konnte Tom durchaus mit ein paar Muskeln aufwarten, aber gegen Erik hatte er wenig Chancen.
„Lass das!“, zischte es sofort unter Erik. Trotzdem hörte er nicht auf.
Die Worte verhallten in seinem Kopf, als wären sie gar nicht existent. Da war nur noch dieser Drang einmal den Ton angeben zu können – die Kontrolle haben. Erik wusste genau, dass Tom nicht auf Kuschelsex stand.
Und auf Blowjobs. Also gab er Tom, was der wollte. Das zufriedene Stöhnen war nicht zu überhören. Toms Hüften stießen nach oben, während seine Hände Eriks blonden Haarschopf genau dort hielten, wo er gerade beschäftigt war.
Mit gebeugten Fingern kratzte Erik an Toms Oberschenkel hinab und erntete dafür ein weiteres unwilliges Zischen. Eine Hand schlug nach seiner, während die andere Eriks Kopf weiterhin in Position hielt.
„Hör auf“, fauchte Tom.
Mit einem Grinsen stemmte Erik sich daraufhin nach oben, was wiederum in einem protestierenden Fluchen resultierte. Natürlich wusste er genau, dass Tom nicht den Blowjob gemeint hatte. Der kleinen Fehlinterpretation konnte Erik jedoch nicht widerstehen.
Hastig krabbelte Tom unter ihm hervor und setzte sich auf. „Was soll das, Erik?“
Der grinste zurück. „Du wolltest ficken, oder nicht? Willst du etwa abstreiten, dass du schon im Bad warst, bevor ich hier aufgetaucht bin?“
Toms Blick war unsicher, aber davon ließ Erik sich nicht beeindrucken – geschweige denn ablenken. Stattdessen beugte er sich vor und presste ihre Lippen gegeneinander.
Ein kurzes Stöhnen, dann öffnete Tom den Mund. Die kurzen Berührungen von Toms Fingern auf Eriks Brust waren geradezu federleicht. Trotzdem ließen sie weiteres Kribbeln in seinen Schritt wandern. Und bevor Erik es sich versah, saß da ein mehr als rolliger Student in seinem Schoß. Nicht ganz da, wo Erik ihn gern gehabt hätte, aber allmählich kamen sie der Sache näher.
Erik keuchte, als der Griff um seinen Ständer fester wurde. Mit einem Ruck zog er Toms Oberkörper zu sich herab, ließ anschließend sein Hände von den Schulterblättern abwärts wandern. Weiter, tiefer, bis Erik endlich die zwei netten, runden Pobacken erneut umgreifen konnte. Straffe, feste Muskeln, die ihm in den letzten Monaten viel Freude bereitet hatten. Etwas mehr als eine Handvoll. Genau die richtige Größe.
Schon ließ Erik seine Finger weitere Erkunden anstellen – den schmalen Spalt entlang, der in dem Ziel so mancher Abende münden würde. Eriks Schwanz hätte gern gezuckt, aber Toms Hand hatte ihn buchstäblich fest im Griff. Stöhnen, bei dem Erik nicht hätte sagen können, von wem es kam.
Als er sich ein weiteres Mal gegen Tom lehnte, schob der ihn sofort zurück. „Du kennst die Regeln“, flüsterte Tom mit einem hinterhältigen Grinsen.
„Komm schon, Tom“, stöhnte Erik gequält. „Lass mir auch einmal die Führung.“
„Ah, ah, ah.“
Erik zog die Arme fester um den Mann in seinem Schoß. Verdammter Mist! Wenigstens einmal wollte er sich in diesen so perfekt erscheinenden kleinen Hintern versenken und selbst dabei den Rhythmus angeben können.
Trotzdem drängte Erik diesmal das Brodeln im Inneren zurück, bis sich der Griff um Tom lockerte. Die Finger, die kurz darauf durch seine blonden Stoppeln fuhren, fühlten sich geradezu sanft an. Verhalten hauchte Erik einen Kuss auf den Nacken vor ihm. Wenigstens etwas, das Tom ihm nicht verwehrte. Es kostete so verdammt viel Kraft, dem beschissenen Drang zu widerstehen. Sich nicht zu nehmen, was er brauchte.
Wäre es denn wirklich falsch ihm nachzugeben? Da entstand so viel dunkler Mist in Eriks Kopf, dass er allmählich keine Ahnung mehr hatte, was davon richtig war. Also machte Erik lieber gar nichts – und überließ Tom ein weiteres Mal die Führung. In der Hoffnung, dass Erik auf diese Weise irgendwann wieder wissen würde, was richtig und was falsch war.