27 – Absichten und Ansichten
Als Erik am nächsten Morgen aufstand war er sich nicht sicher, was ihn geweckt hatte. Tom war es wie immer nicht gewesen, denn der schnarchte selig vor sich hin. Gut, es waren Ferien, also warum sollte er sich hetzen? Für Erik war es jedoch keine Option liegen zu bleiben.
Er schwang die Beine über den Rand des Bettes und starrte zum Fenster. Einen Moment zögerte Erik, dann stand er auf. Bis Tom sich hoch quälte, würde noch einige Zeit vergehen und diesmal wollte er nicht einfach abhauen. Zumal es dafür keinen Grund gab. Schule hatte Erik heute nicht, und seine Mutter würde erst später zu Hause aufschlagen. Davon abgesehen, verschwand sie vermutlich ohnehin zunächst in ihrem Zimmer, um sich auszuruhen.
Nachdenklich betrachtete Erik den schlafenden Tom im Bett. Diese Aussprache, die er gestern mit dem wegen ihrer ‚Beziehung‘ führen wollte, hatte nicht wirklich irgendwo hingeführt.
‚Oder überhaupt stattgefunden.‘
Erik seufzte verhalten und suchte sich dann seine Klamotten zusammen. Es war der zweite Tag im Jahr. Neuer Tag, neues Glück. Hatte er das nicht erst vor Kurzem schon einmal gedacht?
Auf leisen Sohlen schlich Erik sich aus dem Zimmer. Zeit für einen Kaffee, um den Kopf freizubekommen. Vielleicht konnte er damit klarer denken und verstand, was das verfluchte Ziehen und Zerren in seinem Bauch von ihm erwartete. In der Küche angekommen, musste Erik jedoch feststellen, dass es weder Kaffee noch sonst irgendwas hier gab. Hatten die Typen etwa alles mitgenommen, als sie nach Hause gefahren waren?
„Wer nimmt denn bitte den Kaffee mit wegen einer Woche?!“, grummelte Erik unzufrieden. Ganz sicher würde er hier nicht hocken und darauf warten, dass Tom aufwachte, ohne wenigstens sein Koffeindefizit ausgleichen zu können.
Kurzentschlossen schnappte Erik sich die Jacke aus dem Flur, streifte die Schuhe über und war wenige Minuten später unterwegs, auf der Suche nach einem Supermarkt.
Glücklicherweise fand er den recht schnell. Erik stand mit Semmeln, Wurst und Kaffee an der Kasse, als ihm einfiel, dass der Kühlschrank zum Mittag ebenso nichts geboten hatte.
Diesmal war es ein sanftes Flattern, das durch Eriks Bauch wanderte. Was erwartete Tom von ihm, wenn er irgendwann in ein, zwei Stunden aufstehen würde? Sollte er einfach verschwinden? Bis nach dem Wochenende konnte er nicht bei Tom bleiben, das war klar. Schon allein, weil Erik dafür nicht genug Klamotten dabei hatte. Von den Schulsachen für Montag ganz abgesehen.
„Ma wäre garantiert auch nicht begeistert“, murmelte Erik verhalten.
Keiner der Gründe behagte ihm allerdings sonderlich. Wenn er mit Tom eine Beziehung führen wollte, dann müsste es doch möglich sein, dass sie mehr Zeit miteinander verbrachten, in der es nicht einfach nur um Sex ging.
Noch einmal trat Erik aus der Schlange und lief die Gänge erneut entlang. Bis Tom aufstand, würde er ohnehin kein Frühstück mehr brauchen. Dann war es eher Mittag. Deshalb packte Erik Nudeln, frisches Gemüse und eine Dose Tomaten ein.
Vielleicht würde das Tom ja zeigen, dass er zu mehr als Matratzensport geeignet war. Obwohl Erik sich an größere Dinge als Tomatensoße und Kartoffelsuppe bisher nicht herangewagt hatte.
„Immerhin“, murmelte Erik, während er sich ein zweites Mal an der Kasse anstellte. Tom hatte es schließlich bisher nur zu Fertigpizza aus dem Tiefkühler gebracht. Jedenfalls wenn es darum ging, Erik zu versorgen.
‚Vielleicht kocht er ja nur für andere‘, verhöhnte ihn das Arschloch in seinem Kopf. Aber Erik zwang sich diesmal, die dämliche Stimme zu ignorieren. Vermutlich ein weiterer guter Plan für das neue Jahr.
✑
Es war in der Tat fast mittags, als ein reichlich verschlafener Tom in die Küche tapste und sich gähnend durch die Haare fuhr.
„Das riecht aber gut hier“, bemerkte Tom verwundert und sah zunächst zum Herd und anschließend zu Erik.
Der saß mit dem Buch, das seine Mutter ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, am Küchentisch. Warum er das am Vortag überhaupt eingepackt hatte, konnte Erik nicht sagen, aber es hatte ihm die Wartezeit definitiv angenehmer gestaltet.
„Ich dachte, du hast vielleicht Hunger und für Frühstück ist es inzwischen etwas spät.“
Es hatte möglichst beiläufig klingen sollen und Erik musste sich zwingen, nicht von seinem Buch aufzusehen. Aus dem Augenwinkel beobachtete er Tom, wie der zum Herd schritt und in einen der Töpfe schaute.
„Was ist das?“
„Wonach sieht es denn aus?“, fragte Erik statt einer Antwort zurück und legte das Buch weg.
Tom kratzte sich am Kopf und drehte sich anschließend um. „Tomatensoße.“
Grinsend zuckte Erik einmal mit den Schultern. „Der Kandidat hat hundert Punkte.“
Leider blieb die erhoffte freudige Reaktion weiterhin aus. Stattdessen stand Tom mit reichlich verwirrten Blick in der Küche und schien nicht recht zu wissen, was er sagen sollte. Das wiederum zog einmal mehr eine Schlinge um Eriks Hals.
‚Es war ein Fehler!‘
Um sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, griff Erik erneut zum Buch und tat so, als ob er lesen würde – obwohl ihm dazu momentan eindeutig die Konzentration fehlte.
„Du hast sonst immer das Essen ausgegeben. Ich dachte, es wird Zeit, sich zu revanchieren“, murmelte Erik beiläufig.
„Richtig“, antwortete Tom. Der Tonfall klang für Eriks Ohren allerdings weiterhin skeptisch.
Er versuchte, die sich immer enger ziehende Schlinge zu ignorieren. Vielleicht würde so das Flattern in seinem Bauch zurückkehren, das wesentlich angenehmer war. Stattdessen spürte Erik den stetig heftiger werdenden Drang, abzuhauen und nach Hause zu gehen.
„Es ist nur Tomatensoße, Tom“, bemerkte Erik schließlich – regelrecht abweisend. „Hör auf, da mehr daraus zu machen.“
Diesmal hatte er offenbar den richtigen Ton getroffen, denn prompt kehrte das Lächeln auf die Lippen zurück, die letzte Nacht wieder einmal verflucht ‚nett‘ zu Erik gewesen waren. Und heute Morgen bisher kein wirklich freundliches Wort herauszubekommen schienen. Oder kam ihm das nur so vor?
„Klar. Ich ... zieh mich schnell um.“
Damit verschwand Tom hastig aus der Küche. Unter der Dusche ließ er sich dafür umso mehr Zeit. Von ‚schnell‘ war jedenfalls nichts zu spüren. Warum er so lange brauchte, wollte Erik zur Abwechslung nicht einmal wissen. Verspürte nicht im Geringsten den Drang, nachzusehen oder sich zu beteiligen.
Am liebsten wäre er gegangen. Aber dann hätte Tom gewusst, dass Erik gelogen hatte. Dass es eben doch nicht ‚nur‘ eine beschissene Soße war. Denn offensichtlich schwammen sie hier, lediglich was ihre Nächte betraf, auf der gleichen Wellenlänge. Bei allem anderen hatte Erik das Gefühl, sich stetig weiter von Tom zu entfernen. Bisher hatte er sich selbst zugegeben aber nicht sonderlich viel Mühe gegeben.
‚Weil das bei Dominik nie notwendig gewesen war.‘
Trotzdem war der Beziehungsversuch mit diesem offenkundig gescheitert. Vielleicht hatte Erik deshalb keine Ahnung, wie er die Situation mit Tom ändern könnte. Nachdem der endlich geduscht hatte und mit frischen Klamotten wieder in die Küche trat, starrte Erik weiter gedankenverloren auf das Buch. Ohne auch nur eine Zeile vorwärtsgekommen zu sein.
„Was liest du denn da?“, fragte Tom und riss Erik damit aus den Gedanken. Etwas verlegen zuckte der mit den Schultern und zeigte Tom den Titel. „Nie gehört.“
Ein schiefes Lächeln schob sich auf Eriks Lippen. „Haben die Wenigsten“, murmelte er leise.
Tom holte die Teller aus dem Schrank, bevor er stockte und zu ihm sah. „Du hast noch nicht gegessen, oder?“
Erik verkniff sich die patzige Antwort, dass er wohl kaum für Tom kochen würde, wenn er dann alleine essen wollte. Stattdessen schüttelte Erik den Kopf als er aufstand und einen zweiten Topf mit Wasser für die Nudeln aufsetzte.
„Tut mir leid, dass ich so lange gepennt habe“, bemerkte Tom, während er den Tisch deckte.
„Schon okay.“
„Aber du scheinst dich ja mit einem Buch auch beschäftigen zu können.“
Wieder klang die Bemerkung komisch und versetzte Erik einen Stich. Bildete er sich das ein oder machte Tom sich über ihn lustig deswegen? Der Gedanke gefiel Erik nicht.
„Was liest du denn so?“, fragte er stattdessen zurück, um von der eigenen Lektüre abzulenken. Gleichzeitig holte er die Nudeln aus der Packung – in der Hoffnung, dass das Wasser möglichst bald kochte.
„Hm. Ich glaube außer für die Uni oder die Schule habe ich in den letzten Jahren nicht wirklich was gelesen“, gab Tom lachend zu. „Ist auch das erste Mal, dass ich dich mit der Nase in einem Buch sehe.“
Erik zuckte mit den Schultern. „Meine Mutter hat es mir zu Weihnachten geschenkt.“
„Ach so!“
Weitere Stiche in Eriks Brust, während sich die Schlinge schon wieder fester zog. Erneut klang es abfällig. Und da es diesmal um das Geschenk seiner Mutter ging, fühlte es sich gleich doppelt mies an.
„Normalerweise lese ich eher Fantasy oder auch Science-Fiction. Aber die Reihe mag ich halt seit etlichen Jahren“, platzte es angefressen aus Erik heraus, bevor er sich bremsen konnte.
„Schon gut“, murmelte Tom mit gerunzelter Stirn. „Ich hätte dich halt nur nicht so eingeschätzt, dass du auf irgendwelche alten Schinken stehst.“
Eigentlich hatte Erik das Gefühl, er sollte fragen, wieso nicht, aber das verkniff er sich lieber. Bei Toms bisherigen Antworten wollte er eine weitere gar nicht mehr hören. Außerdem war Tom nicht der Erste, der sich darüber lustig machte, dass ein Kerl von Eriks Größe und Statur Büchern überhaupt etwas abgewinnen konnte. Ganz zu schweigen von historischen Romanen, wie diesen. Bei Fantasy oder Science-Fiction, was er üblicherweise immer gelesen hatte, waren die Blicke zugegeben weniger abschätzig.
„Lass uns essen“, gab Erik heiser zurück.
Tom schien das Gespräch nicht beenden zu wollen. „Bist du deshalb jetzt etwa sauer?“, fragte er lachend.
„Nein“, log Erik, weil er schlichtweg keine Lust mehr hatte, darüber zu reden. Er hätte das blöde Buch zu Hause lassen sollen. Dann würde er sich nicht wie ein Volltrottel vorkommen. Jedenfalls würde Tom ihn nicht dafür halten.
‚Nicht mehr als sonst zumindest.‘
„Du musst aber schon zugeben, dass die Art von Literatur jetzt nicht gerade zu einem Jungen in deinem Alter passt.“
Ein kurzes Zittern lief durch Eriks Körper, als er sich zu Tom umdrehte. „Ich bin kein Kind.“
„Nein, natürlich nicht“, lachte der unbeirrt von Eriks deutlich abgekühltem Tonfall. „Ich steh nämlich nicht auf Kinder.“
Da war es wieder. Wenigstens für einen Sekundenbruchteil. Dieses Flattern in Eriks Bauch. Als ob da irgendwelche Seifenblasen zerplatzen würden. „Du stehst also auf mich?“
Wieder lachte Tom und breitete die Arme aus. „Hey, ich würde wohl kaum regelmäßig mit dir im Bett landen, wenn ich dich nicht mögen würde.“
Das Flattern in Eriks Bauch wurde stärker. Das war doch immerhin ein Anfang. Wenigstens mehr als gar nichts. Wenn auch nicht wirklich viel.
„Als was?“, rutschte es ihm heraus.
„Wie meinst du das?“
Erik schaffte es nicht, Tom ins Gesicht zu sehen, als er unsicher murmelte: „Als was magst du mich?“
„Na als Freund“, gab der grinsend zurück.
‚Da fehlt ein Wort‘, bemerkte der Mistkerl in Eriks Kopf sofort unnötigerweise.
Aber mehr wagte er sich nach ihrer bisherigen Konversation, für heute nicht zu erhoffen. Das Wasser kochte endlich, also ließ Erik die Nudeln hineingleiten. Aus dem Augenwinkel sah er Tom mit dem Handy spielen. Scheinbar war dieses spezielle Gespräch vorerst beendet.
Auch beim späteren Essen saßen sie schweigend am Tisch. Irgendwie fühlte sich die Situation zunehmend unangenehm an. Obwohl sie, wie es aussah, endlich das Gespräch geführt hatten, dass Erik hatte führen wollen, waren es die falschen Antworten gewesen.
‚Oder die falschen Fragen.‘
Verstohlen sah er erneut zu Tom, dem das Essen sichtlich schmeckte. Sah der ihn wirklich nur als irgendeinen Freund, mit dem man ins Bett stieg? Machte man das mit seinen ‚Freunden‘? Also mit seinen früheren Kumpels hätte Erik nicht schlafen wollen. Allerdings war keiner von denen tatsächlich sein Typ gewesen.
„Was ... hast du denn heute so vor?“, fragte Erik irgendwann, einfach damit das Schweigen endlich endete.
Überrascht sah Tom auf und überlegte kurz. „Weiß nicht. Auspacken. Einkaufen, schätze ich. Muss noch was für die Uni erledigen, bevor es am Montag wieder losgeht. Warum?“
„Vielleicht ... unternehmen wir ... was?“
Kaum waren die Worte raus, fühlte Erik sich wieder wie der letzte Volltrottel. Einer, dem das Herz bis zum Hals schlug, wohlgemerkt. Aber er hatte Tom über eine Woche nicht gesehen und wollte die Gelegenheit nutzen, mit dem Zeit zu verbringen, bevor diese drei nervigen Mitbewohner mit ihren blöden Brettspielen wieder auftauchten.
Tom überlegte kurz. „Kino heute Abend?“
Nicht ganz das, was Erik sich vorgestellt hatte, aber immerhin ein Anfang. Deshalb sagte er zu: „Okay. Ich muss allerdings erst noch einmal nach Hause.“
„Klar. Ich hab ja eh genug zu tun hier“, antwortete Tom schnell. „Um acht am Kino? Such du den Film aus und hol schon mal die Karten. Ja?“
Erik nickte langsam. Vielleicht brauchte es einfach nur etwas Zeit. Immerhin sah Tom einen Freund in ihm. Jemanden, auf den er stand. Und er hatte gesagt, dass er Erik mochte. Da war es bis zur Beziehung nicht mehr weit. Oder?
„Okay.“
✑
Als Erik ein paar Tage später am Dienstagmorgen im Klassenzimmer saß, fühlte er sich mehr als mies. Die Verabredung mit Tom war genau wie ihre vorherigen verlaufen. Die Tatsache, dass er am nächsten Morgen unerwartet einer breit grinsenden Nora in der Küche über den Weg gelaufen war, hatte essenziell dazu beigetragen, dass Erik sich umso schneller verzogen hatte.
‚Tom wollte ja am Wochenende ohnehin irgendetwas für die Uni fertigmachen‘, versuchte Erik sich die Flucht schönzureden. Eine willkommene Ausrede dafür, dass er selbst sich das restliche Wochenende in seinem Zimmer verkrochen hatte. Wenigstens hatte Erik das die Gelegenheit gegeben, das Buch fertig zu lesen. Und am gestrigen Montag hatte er sich zum ersten Mal seit gut einem Jahr in die Bibliothek aufgemacht, um sich Nachschub zu holen.
„Guten Morgen, Erik“, begrüßte ihn eine vertraute Stimme.
Er sah auf und beobachtete, wie Berger zum Lehrertisch ging, und anfing, seine Sachen auszupacken. Das gleiche gebügelte Hemd, glattrasiert wie immer. Dass Eriks eigenen Augen zumindest kurzzeitig nach unten zuckten und über das Profil dieses netten kleinen Pos glitt, konnte er nicht verhindern.
‚Neues Jahr und trotzdem alles beim Alten.‘
Diesmal wollte Erik seinem persönlichen Arschloch aber nicht nachgeben. Und vielleicht war das der Grund, warum er plötzlich murmelte: „Guten Morgen, Herr Berger.“
Aus dem Augenwinkel sah Erik, wie sein Lehrer den Kopf drehte und ihn ansah. War das Überraschung, die kurz über Bergers Gesicht glitt? Erik war sich nicht sicher, ob er es wirklich gesehen hatte. Und gleich gar nicht, warum der Kerl so aussah. Oder weshalb das zu diesem komischen Flattern in Eriks Bauch führte.
Mit einem Mal richtete Berger sich auf und ein zufriedenes Lächeln glitt über diese so verflucht verführerischen Lippen: „Ein gutes neues Jahr wünsche ich Ihnen, Erik.“
Er schluckte und sah zur Seite. Dieses dämliche Flattern im Bauch wurde stärker. Unsicher rieb Erik darüber, bevor er zögerlich zu seinem Lehrer zurück schielte: „Ihnen ... auch.“
Als das Lächeln auf Bergers Lippen für einen Moment sogar noch breiter wurde, wagte Erik einen kurzen Blick zu Bergers Augen. Als die ihn jedoch förmlich anstrahlten, senkte Erik rasch den Kopf und starrte stattdessen nach unten.
‚Was zum Geier ...?!‘
Er biss die Zähne zusammen, in dem verzweifelten Versuch das plötzlich wild rasende Herz zu beruhigen. Wieso sah Berger ihn derart komisch an? Das beschissene Flattern drehte sich in seinem Magen einmal im Kreis – war mit einem Mal gar nicht mehr so angenehm.
Erik musste hier raus. Weg. Fort von Berger und was der Mistkerl mit ihm anstellte. Irgendwo hin, wo er erst einmal durchatmen und sich beruhigen konnte. Unruhig zuckten Eriks Augen hin und her. Außer ihm und Berger war keiner weiter da. Er konnte hier nicht weg. Nur für einen Sekundenbruchteil schielte Erik zu seinem Lehrer. Der hatte sich jedoch schon wieder abgewandt.
War der Moment bereits vorbei? Blinzelnd sah Erik auf den Tisch vor ihm. Je länger er hier saß, anstatt die Flucht zu ergreifen, desto ruhiger wurde er. Bis ihm endlich klar wurde, warum er noch immer hier saß. Er wollte nicht wirklich wg. Denn zum ersten Mal seit Monaten hatte Erik nicht das Gefühl, als würde er sich im Kriegszustand mit Berger befinden.
Ob es ein glücklicher Umstand war, dass die ersten Mitschüler kurz darauf eintrafen, konnte Erik nicht mit Sicherheit sagen. In jedem Fall sorgte es für ausreichend Ablenkung. Eher widerwillig nahm Erik zur Kenntnis, dass Ines und Sandro wieder gemeinsam kamen. Und auch noch beide gut gelaunt waren.
‚Vor den Ferien hat das anders ausgesehen‘, dachte Erik mit einer Spur von Neid bei sich. Wieso hatten die sich wieder vertragen und er schafft es nicht einmal, dass sich die Sache mit Tom auch nur ansatzweise wie eine ‚richtige‘ Beziehung anfühlte?
Das Stundenklingeln riss Erik irgendwann aus den Gedanken und brachte ihn zurück zu seinem anderen ‚Problemfall‘. Berger stand vom Lehrertisch auf und trat vor die Klasse.
„Guten Morgen und ein gesundes neues Jahr Ihnen allen.“ Das einsetzende Durcheinander an zurückgeworfenen Glückwünschen beendet er mit einer kurzen Handbewegung. „Ich hoffe, Sie hatten erholsame Ferien und haben über die Feiertage nicht die Aufgaben vergessen, die Sie von mir bekommen hatten.“
Erik zuckte kurz zusammen. In den letzten Tagen hatte er die verdammte Liste erfolgreich verdrängen können. Schon begann das Herz in seiner Brust wieder schneller zu schlagen. Diesmal fehlte leider das passende und angenehme Kribbeln im Bauch.
„Der Zettel war viel zu kurz“, tönte es zeitgleich aus den hinteren Reihen und ließ Erik weiter in sich zusammensinken. Ein Seitenblick zu Berger zeigte ihm ein geradezu mitleidiges Lächeln. Verwundert runzelte Erik die Stirn, während er zögerlich die Zettel der Hausaufgabe aus dem Block vor ihm zog.
„Wie ich sehe, haben Sie alle ihre Aufgabe ausgefüllt.“ Ein kurzes Zittern lief durch Erik. Er wollte diese verdammte Liste weder vorlesen noch Berger geben. „Dann können Sie diese jetzt wieder wegpacken.“
Ein erleichtertes Seufzen entkam Erik, als er den Zettel schnell zurück in den Block schob. Wenigstens fing das Jahr nicht mit einer absoluten Katastrophe an. Den Protestrufen aus dem Rest der Klasse würde er sich sicher nicht anschließen.
Mit einem regelrecht mitleidigen Lächeln sah Berger in die Runde, während er sich an den Lehrertisch lehnte und die Arme vor der Brust verschränkte: „Sie scheinen es ja geradezu darauf anlegen zu wollen, dass man Ihre Arbeit bewertet.“
Wieder zuckte Erik zusammen. Der Blödmann würde doch jetzt nicht zurückrudern, oder? Obwohl es absolut sinnlos war, legte er beide Hände auf den Block. Das würde ihn garantiert nicht davor schützen, den Mist abgeben zu müssen, sollte Berger sich umentscheiden.
Vorsichtig schielte Erik zu diesem, nur um festzustellen, dass Berger ihn direkt ansah. Mit einem Schlag schien das Herz in Eriks Brust den Rhythmus zu verdoppeln und pochte wie wild gegen die Rippen.
‚Nicht einsammeln. Nicht einsammeln‘, betete er förmlich vor sich hin.
„Tut mir leid, Sie zu enttäuschen“, fuhr Berger mit einem kurzen Lächeln in Eriks Richtung fort. Schon zog er den Block schützend näher heran. „Diese Aufgabe war nur für Sie.“
Für einen Augenblick hatte Erik das Gefühl, als würde sein Herzschlag aussetzen, denn noch immer starrte Berger genau zu ihm. Und auch wenn Erik sich sicher war, dass die Worte garantiert nicht an ihn persönlich, sondern an den Kurs gerichtet gewesen waren, fühlte es sich im Augenblick trotzdem so an. Erst als Berger die Augen von Erik abwandte und zumindest vorerst durch die übrigen Reihen sah, wagte er es durchzuatmen.
„Ziel dieser Hausaufgabe war es, dass Sie über ihr Umfeld nachdenken.“ Erneut konnte Erik Bergers Augen kurzzeitig auf sich spüren, wagte es aber nicht, noch einmal hinzusehen, um das zu überprüfen. „Es ging allerdings nicht darum, möglichst viele Namen darauf setzen zu können.“
„Das sagen Sie doch nur, damit die Sozialversager ohne Freunde sich besser fühlen“, tönte Sandro mit einem unüberhörbaren Grinsen aus der letzten Reihe.
Wie automatisch verkrampften sich Eriks Hände. Der Drang, dem Arschloch eine reinzuhauen, wuchs mal wieder sekündlich. Aber er beherrschte sich. Schließlich würde alles andere Sandro und dem Rest des Kurses demonstrieren, dass der mit diesen Worten womöglich gar nicht so daneben lag.
„Nein, Herr Claasen, das mache ich nicht“, fuhr Berger ihn schneidend an. „Ich erbitte mir einen angemesseneren Ton gegenüber Ihren Mitschülerinnen und Mitschülern. Wie bei so vielen Dingen in Ihrem Leben entscheidet auch hier nicht nur die Größe.“
Ein unüberhörbares Lachen wanderte durch die Klasse. Selbst Erik konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Das Flattern in seinem Bauch schien großen Gefallen daran zu finden, wenn zur Abwechslung Sandro eine reingewürgt bekam. Zumal einem nicht unerheblichen Teil der Jungen im Kurs dank jahrelangen, gemeinsamen Sportunterricht durchaus bekannt sein dürfte, in welcher Liga Sandro ‚größentechnisch‘ spielte. Der Gedanke ließ Eriks Grinsen ein weiteres Mal anwachsen.
„Wenige, dafür um so intensivere Beziehung zu Ihren Mitmenschen sind mitunter ebenso erfüllend wie eine große Anzahl, die jedoch stets nur oberflächlich bleibt.“
Berger sah durch die Bankreihen, aber diesmal folgte keine Reaktion. Vielmehr konnte Erik bei einem Blick über die Schulter sehen, dass der eine oder andere stirnrunzelnd die Augen auf die eigene Liste senkte. Als er plötzlich seinem früheren Freund Mirek ins Gesicht blickte, zuckte Erik zusammen und wandte sich ab.
„Wir können die Stunde gern für eine Diskussion zu dem Thema nutzen, wenn Sie möchten.“ Wieder schwieg der Kurs kollektiv. „Aber diese Listen sind Ihre Privatangelegenheit.“
„Die Arbeit hätte man sich trotzdem sparen können“, gab Sandro erneut grummelnd zurück.
Ein weiteres Mal sah Berger sie alle mit einem Lächeln an: „Wenn Sie meinen, Ihre Erkenntnisse aus der Aufgabe mit Ihren Mitschülern teilen zu müssen, können Sie das gern in der Pause tun, Herr Claasen. Ihre Privatangelegenheiten sind jedoch eben das: privat. Somit entscheiden nur Sie darüber, wen Sie in diese mit hineinziehen wollen.“
Da es so aussah, als wäre die Diskussion um ihre Hausaufgabe damit zumindest im Grundsatz erledigt, sank Erik beruhigt in sich zusammen. Wieso die es alle darauf anlegten, sich vor dem Blödmann derartig bloßzustellen, konnte er nicht verstehen.
‚Nackig machen, würdest du dich vor dem Kerl auch ganz gerne‘, höhnte es in Eriks Kopf und ließ ihn noch weiter in sich zusammensinken.
Vorsichtig schielte er zu Berger. Der war inzwischen zur Tafel zurückgekehrt und schrieb die Überschrift des ersten Interviews an, das ebenfalls Teil ihrer Hausaufgaben gewesen war. Langsam wanderte Eriks Blick den geraden Rücken hinunter. Folgte einer unsichtbaren Spur bis zu diesen zwei festen, runden Pobacken. Ob es die gleiche gute Handvoll war wie bei Tom? Sicher war Erik sich nicht, auch wenn die beiden sich von hinten verflucht ähnlich sahen.
Zum ersten Mal seit Monaten führte der Gedanke nicht unweigerlich zu so vielen anderen unangemessenen Bildern. Trotzdem schaffte Erik es nicht, dem inneren Arschloch zu widersprechen. Denn ja, ein Teil von ihm hätte sicher weiterhin nichts dagegen mit gewissen anderen Körperteilen von Berger auf Tuchfühlung zu gehen.
Das Stöhnen konnte Erik gerade noch unterdrücken.