44 – Fragen und Antworten
『Sorry, war gestern unterwegs. Heute?』
„Unterwegs“, murmelte Erik nachdenklich, während er weiter auf die Nachricht sah. Der Anblick hatte sich in den letzten fünfzehn Minuten allerdings nicht verändert. Oder war es sogar noch länger her, dass sie eingetrudelt war?
Kurz zuckte Eriks Blick zur Anzeige an der Nachricht, dann weiter hoch zur Uhr am Handy. Nein, exakt fünfzehn Minuten. Sechzehn. Jetzt. Und nun?
Erik saß auf dem Bett und drehte das Handy zwischen den Fingern. Gestern war er sich sicher, dass es Tom gewesen war, den er gesehen hatte. Heute wusste Erik nicht mehr, was er glauben sollte. Aber es klang noch immer logisch.
‚Tom ist reingekommen und direkt umgedreht, nachdem er dich hinter dem Tresen gesehen hat.‘
Mit zusammengepressten Lippen senkte Erik den Kopf. Und wenn er sich geirrt hatte? Vielleicht war es ja gar nicht Tom, sondern irgendjemand anderer. Ein Gesicht hatte er schließlich nicht gesehen. Und schwarze Haare hatten viele Leute. Mit um die einen Meter achtzig lag Tom ebenso im Durchschnitt. Im Grunde könnte es jeder beliebige Kerl gewesen sein.
‚Ist das überhaupt wichtig?‘
Erik schloss die Augen. Dahinter bahnten sich schon wieder Kopfschmerzen an. In letzter Zeit hatte er die häufiger. Genauso wie das verfluchte schwarze Loch in seiner Brust, für das er einfach keine Erklärung fand – und schon gar keine Heilung.
Wo war dieses leicht flackernde Ziehen, das sich in ein Kribbeln verwandelte? Als würden Seifenblasen in Eriks Bauch zerplatzen. Das war jedenfalls deutlich angenehmer, als der Schmerz, der sich immer wieder Mitte breitmachen wollte. Vielleicht sollte er damit doch mal zum Arzt. Am Ende hatte das nichts mit Tom zu tun, sondern war ein Magengeschwür oder irgend so ein Mist.
„Menschen sind keine Hellseher“, murmelte Erik die Worte, die Alex ihm vor nicht allzu langer Zeit gesagt hatte. Genau wie ein gewisser Blödmann, über den Erik lieber nicht zu sehr nachdachte, hatte Alex damit wohl trotzdem recht.
Seufzend rieb er sich erneut die Stirn. Wenn er Tom nicht direkt darauf ansprach, würde Erik seine Antwort nie bekommen. Also schrieb zurück: 『Wann hast du Zeit?』
Es dauerte ein paar Minuten, bevor das Handy erneut piepte: 『Acht Uhr? Willst du vorher noch etwas Trinken gehen?』
‚Vorher‘, bemerkte eine zu aufmerksame Stimme in Eriks Kopf. ‚Der Abend ist klar verplant.‘
Was auch sonst? Ihr letztes Gespräch war recht deutlich gewesen. Genau wie Eriks eigener Abgang. Und die Worte bei eben diesem. Sein Magen zog sich weiter in sich zusammen. Es sollte kein Problem sein. Nicht wirklich. Eigentlich müsste es das sein, was Erik sich wünschte. Immer gewollt hatte. Sex, ohne komplizierte Gefühle, die er ja eh meistens nicht nachvollziehen konnte. Nicht einmal bei sich selbst.
‚Was ist dann das Problem?‘
Vielleicht die Tatsache, dass Erik eigentlich keine echte Lust hatte, durch die halbe Stadt zu fahren, um jemanden zu vögeln, der ihm selbst nach einem halben Jahr nicht einmal genug vertraute um auch nur für eine Sekunde die Kontrolle abzugeben. Oder für ein beschissenes Abendessen zu Erik nach Hause kommen würde. Wäre eine gute Erklärung. Nur leider nicht die Wahrheit. Jedenfalls nicht die ganze.
Denn da war eben doch dieser Teil von ihm, der weiterhin genau wie Werther einer Vorstellung nachlief, die nicht erreichbar war. Es nie gewesen war. Und vor allem niemals sein würde. Jedenfalls nicht mit Tom.
‚Ist im Grunde also klar definiert, wie der heutige Abend enden wird.‘
Ein weiteres Seufzen. Es war an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Vorher wollte Erik aber erst ein paar Dinge klären. Also sagte er der Verabredung zu, dem Drink allerdings ab. Die Frage, ob Tom am Vorabend im Rush-Inn gewesen war, wollte er sicher nicht eben dort stellen. Erik hatte Alex versprochen, dass sich der Vorfall auf dem Herrenklo nie wiederholen würde.
‚Als ob du Tom jemals eine reinhauen könntest.‘
✑
Da seine Mutter an diesem Abend Nachtdienst hatte, wäre es für Erik die perfekte Gelegenheit gewesen, bei Tom zu übernachten und am nächsten Morgen direkt zur Schule zu fahren. Trotzdem stand er zehn vor acht ohne Rucksack, dafür mit den Händen in den Hosentaschen, vor Toms Wohnhaus und starrte die Fassade entlang nach oben.
Dessen Zimmer würde Erik so nicht sehen, denn es ging nach hinten raus. Dennoch stand er hier und war sich nicht sicher, ob er wirklich dort reingehen wollte. Das drängende Verlangen nach einem anderen Körper als seinem eigenen hatte ihn oft genug hierher geführt. Aber heute konnte Erik nichts davon spüren. Stattdessen würde er liebend gern umkehren und nach Hause gehen. Sich in sein Zimmer verkriechen und vergessen, dass es andere Menschen gab.
Erik hatte keinen Plan für diesen Abend. Dafür stetig deutlicher das Gefühl, dass es ohnehin nicht nach diesem laufen würde. Eriks Pläne gingen schließlich notorisch schief.
Merkwürdigerweise fühlte sich dieser Gedanke besser an, als er sollte. Trotzdem blieb der Drang wieder zu gehen. Tom eine Nachricht zu schreiben, dass es nichts wurde. Abhauen. Noch einmal darüber nachdenken. Vielleicht würde Erik dann zu einem anderen Schluss kommen. Eine neue Erkenntnis, ein besserer Plan.
Betreten ließ er den Kopf hängen. Dieser ganze Gefühlsmist war zu kompliziert, zu schmerzhaft, zu viel irgendetwas. Was auch immer.
Und trotzdem stand Erik weiter hier und starrte die blöde Hauswand empor, als würde das zu einer Eingebung führen. Eine, die ihm klarmachte, was zwischen Tom und ihm falsch gelaufen war. Denn das da irgendetwas nicht richtig lief, war sogar für Erik unübersehbar.
Er seufzte und klingelte. Wie immer ertönte der Summer, ohne dass sich jemand meldete. Also stapfte er die Stufen hinauf. Schon vom vorletzten Absatz aus konnte Erik sehen, dass es nicht Tom war, der ihm geöffnet hatte. Er musste reichlich kämpfen, um das dämliche Grinsen zu ignorieren. Dabei war Erik absolut klar, dass der Blödmann Mario ihn nur provozieren wollte.
„Das Prinzesschen ist in seinem Thronsaal“, tönte der mit einem tiefen Lachen und deutete über die Schulter in Richtung von Toms Zimmer.
Das Wissen, dass es bewusste Provokation war, hielt das Brodeln in Eriks Magen nicht zurück. Und bevor er sich bremsen konnte, fauchte er wütend: „Bist du eigentlich immer so ein Arsch oder bin ich der einzige, der das zweifelhafte Vergnügen mit dir hat?“
„Holla, die Waldfee“, gab Mario lachend zurück, während er die Tür schloss. „Das Kätzchen hat ja Krallen.“
Mit einem breiten Grinsen trat er Erik in den Weg und damit so nah an ihn heran, dass Erik am liebsten zurückgewichen wäre. Aber das würde wie ein Zeichen von Schwäche aussehen und Erik wollte vor diesem Klotz nicht als schwächlich dastehen.
„Ich steh auf Wildkatzen. Mein Angebot steht, Kleiner.“
„Fick dich, Mario.“
Das Grinsen auf dessen Gesicht wurde breiter. „So lange ich auf meine Kosten komme, lässt sich da über alles reden, Kleiner.“
Ein kurzes Zittern lief durch Eriks Körper. Weniger, weil er womöglich Angst vor diesem Kerl hattet. Ganz sicher nicht. Aber das Selbstbewusstsein, das ihm entgegenstrahlte, war überwältigend.
‚Und erschreckend erregend.‘
Erik presste die Lippen aufeinander, darum bemüht, wütend auszusehen. Denn sicher fand er diesen dummen Kerl nicht anziehend oder gar ‚erregend‘. Mario war echt nicht Eriks Typ, auch wenn der Blödmann da drüben zugegeben auf die meisten Menschen nicht gerade unattraktiv wirken dürfte. Der Arsch spielte sich hier trotzdem garantiert nur künstlich auf. Schließlich hatte Erik Mario bisher nie mit einem Kerl gesehen.
‚Allerdings auch nicht mit einer Frau.‘
Dabei hatte Erik oft genug hier übernachtet, als dass ihm etwas hätte auffallen müssen. Andererseits hatte er nicht den Eindruck gehabt, als ob Mario sonderlich oft zu Hause schlief.
‚Heiße Luft. Alles dummes Gelaber‘, sagte Erik sich und stieß Mario ein Stück weg.
„Ums Eck ist eine Bar, da findest du sicherlich einen netten Hintern, der dein Angebot zu schätzen weiß.“
Weiterhin grinsend hob Mario abwehrend die Hände. „Schon gut. Falls du’s dir überlegst ... Kannst dein Prinzesschen auch gern mitbringen. Vielleicht lernt ihr ja beide noch was.“
Entschlossen, Marios Geschwafel zu ignorieren, marschierte Erik in Richtung Toms Zimmer. Er war schließlich wegen eines ganz anderen Gesprächs hier. Obwohl das nicht angenehmer werden würde. Ein kurzes Klopfen an der Zimmertür, ein Gruß seinerseits, gefolgt von einer mürrischen Aufforderung, hereinzukommen. Dann stand Erik in dem kleinen Zimmer und schloss hinter sich die Tür.
Tom saß zusammengesunken an seinem Schreibtisch und hob die Hand, bevor Erik etwas sagen konnte. „Moment“, murmelte er versonnen, während er sich offensichtlich auf irgendetwas konzentrierte.
Verwundert, dass ihn hier nicht wie sonst der vorbereitete Tom auf dem Bett erwartete, trat Erik zum Schreibtisch hinüber. Der kurze Blick, den er auf die Papiere dort warf, half ihm nicht weiter. Berechnungen, Formeln, irgendwelche Bilder, die wie Schaltkreise oder etwas in die Richtung aussahen.
Verwundert runzelte Erik die Stirn. Das war das erste Mal, dass er Tom am Schreibtisch sitzen sah. Bisher hatte der eher wie ein nettes Accessoire gewirkt, weniger wie ein genutztes Möbelstück.
‚Ist das der echte Tom?‘, fragte eine leise Stimme in Eriks Kopf.
Unsicher ließ er seinen Blick über die angespannt wirkende Gestalt wandern. Er sollte diesen Mann kennen. Immerhin trafen sie sich seit sechs Monaten. Jedenfalls so lange Tom nicht bei seinen Eltern war. Mitunter mehrmals die Woche. Obwohl diese Treffen zugegeben in letzter Zeit seltener geworden waren. Woran Erik selbst sicherlich einen nicht geringen Anteil hatte.
„Du hättest sagen können, wenn es heute nicht passt“, murmelte Erik zurückhaltend.
„Moment“, wiederholte Tom murrend. „Bin gleich so weit.“
Langsam trat Erik einen Schritt zurück und setzte sich aufs Bett. Sein Blick blieb jedoch starr auf den gebeugten Rücken gerichtet, dessen Besitzer weiter über irgendwelchen Aufgaben am Schreibtisch brütete.
‚Das hier ist es, was du wolltest‘, sagte Erik sich selbst. Das hier war dieses Stück Normalität, nach dem er sich gesehnt hatte. ‚Irgendwie ironisch, dass du es ausgerechnet heute siehst.‘
„Okay. Bin so weit“, tönte es in diesem Augenblick vom Schreibtisch und Tom stand mit einem breiten Grinsen im Gesicht auf. „Entschuldige. Ich dachte, es würde schneller gehen. Aber Mario hat mich vorhin noch abgelenkt.“
„Mario?“ Wieso hatte Erik das Gefühl, er wollte die Antwort auf die nächste Frage gar nicht wissen? Trotzdem konnte er sich nicht davon abhalten eben diese gleich hinterher zu schieben: „Wie lenkt der Kerl dich denn ab?“
Tom lachte, während er sich das Shirt über den Kopf zog und zum Bett herüberkam. Der sich bietende Anblick war nichts Neues, dennoch kam Erik nicht umhin, erneut irritiert, die Stirn zu runzeln.
„Was soll das, Tom?“
„Was meinst du?“
Tom stand inzwischen vor ihm. Eriks Augen waren damit direkt auf diesen netten kleinen Bauchnabel gerichtet, der sich leicht nach außen wölbte. Anders als sein Eigener und trotzdem kam es Erik manchmal so vor, als würde er beide gleich gut kennen.
Mit glasigem Blick starrte er geradeaus. Wenn Erik sich ein kleines Stück vorlehnen würde, dann könnte er seine Lippen auf die feste Haut legen. Seine Hand würde den Knopf der Jeans durchs Knopfloch schieben, diese über den strammen und festen Po ziehen und nach unten gleiten lassen.
Alles wie immer. Deshalb war Erik hier. Zumindest nahm Tom das an. Klar, ihre letzte Unterhaltung dahingehend war eindeutig gewesen. Das unangenehme Ziehen machte sich kurzzeitig bemerkbar. ‚Nur Sex‘ klang zu nett für das hier. Zu verweichlicht. Nein, seine Bezeichnung vom letzten Mal traf es eindeutiger.
‚Nur ficken.‘
„Wo warst du gestern?“, fragte Erik anstatt sich tatsächlich vorzubeugen und die Lippen auf die straffe Haut zu legen, unter der Muskeln bereits erwartungsvoll zuckten. Eriks Stimme klang selbst für die eigenen Ohren teilnahmslos und kühl.
„Hä?“
Ganz allmählich klärte sich Eriks starrer Blick und er schaffte es, sich von dem Bauchnabel vor ihm zu lösen. Nach oben konnte er jedoch nicht sehen. Also senkte er den Kopf und blickte stattdessen auf die eigenen Hände.
„Ich habe versucht, dich anzurufen.“
Tom trat einen Schritt zurück und lehnte sich gegen den Schreibtisch. „Hab ich gestern nicht gehört. War recht laut in dem Klub, wo wir waren.“
Laut. Klub. „Wir?“
„Mario hat mich mitgeschleift. Meinte, ich muss den Kopf freikriegen von den Vorlesungen. Das Semester hat gerade erst angefangen und ich brüte schon über den Aufgaben, als stände ich kurz vor den Prüfungen.“ Noch immer lachend trat Tom vor. Er schob Eriks Schulter nach hinten und sich selbst auf seinen Schoß. „War eigentlich ganz nett. Obwohl ich sonst nicht so auf die Klubszene stehe.“
Schon wieder Mario. Jetzt waren Abend mit dem Kerl auch noch ‚nett‘. Und warum war Tom mit dem Klotz unterwegs? Weil sie in einer Wohnung lebten? Reichte das als Grund? Ausgerechnet mit dem Kerl, der eben recht deutlich gesagt hatte, dass Tom gerne in sein Bett kommen durfte?
Von allen Fragen, die Erik in diesem Moment im Kopf herumschossen, stellte er jedoch eine vollkommen andere: „Wart ihr auch im Rush-Inn?“
Tom stand auf und trat wieder einen Schritt zurück. „Was soll die ganze Fragerei?“
Dieser blöde Muskel in Eriks Brust fühlte sich erneut an, als wollte er einen Geschwindigkeitsrekord aufstellen. Dabei hatte Tom recht. Warum stellte er diese Fragen überhaupt? Auf die meisten wollte Erik nicht einmal die Antwort wissen. Nicht wirklich.
Sie führten keine Beziehung. Würden sie auch nie. Er war nur zum Vögeln eingeladen. Nicht um in Klubs zu gehen. Nicht für Spieleabende – es sei denn, die fanden zufällig statt, wenn er da war. Und ebenso wenig für einen Abend auf der Couch vor dem Fernseher.
‚Willst du das?‘, fragte Erik sich selbst. ‚Vielleicht. Manches. Ein bisschen.‘
Erik konnte es zumindest nicht mehr ausschließen. Und das stellte allmählich ein Problem dar. Denn diese Nicht-Beziehung mit Tom war wie Werthers Fantasie über Lotte. Eine Vorstellung und Illusion, die es nicht gab und die niemals real werden würde.
„Wart ihr?“, fragte Erik erneut. Er brauchte diese Gewissheit. Nur deshalb war er hier.
Toms Augen verengten sich, als er einen weiteren Schritt zurücktrat. „Nein. Wir waren in einem Klub, hab ich doch schon gesagt.“
„Welchen?“
„Fick dich, Erik.“
In dem Punkt war Marios Reaktion von vorhin wohl die einzig richtige. „Machst du doch eh nicht“, gab er deshalb trocken zurück. Das belustigte Schnauben, das Erik dazu entkam, brachte Tom noch mehr auf die Palme. Der angelte das Shirt vom Boden und zog es sich hastig wieder drüber.
„Ich dachte, wir hätten das geklärt“, zischte Tom entsprechend angepisst. „Fängst du jetzt an einen auf eifersüchtig zu machen, nur weil ich mit einem anderem mal abends weggehe?“
„Wir haben keine Beziehung. Und werden auch keine haben. Das hast du deutlich gemacht, Tom. Worauf sollte ich also eifersüchtig sein?“ Eriks Stimme war geradezu eisig, als er fortfuhr: „Aber wir haben eine Vereinbarung und ich will nicht verarscht werden.“
„Ich hab sicher kein Interesse an Mario. Der findet sowieso an jeder Ecke jemanden, den er vögeln kann. Dafür braucht er mich garantiert nicht.“
Normalerweise tat Erik sich unheimlich schwer, anderen ins Gesicht zu sehen. Aber diesmal zwang er sich dazu. Toms Lippen waren nur noch dünne, zusammengekniffene Striche. Die blaugrünen Augen starrten ebenso verengt zu ihm zurück. Wütend, stinksauer um genau zu sein. Das konnte sogar Erik erkennen.
„Was soll das beschissene Verhör?“
Er wollte Tom glauben. Letztendlich tat Erik das auch, trotzdem stand er auf. Denn schließlich gab es nur einen Grund, warum er hierher gekommen war. Und der hatte zur Abwechslung nichts mit Sex zu tun. Er hatte Gewissheit haben wollen. Darüber, dass Tom ihn nicht genauso hintergangen hatte wie Dominik. Auch wenn zwischen ihnen einiges schiefgelaufen war, Erik war sich in diesem Moment sicher, dass Tom die Wahrheit sagte.
Die Entscheidung schmerzte trotzdem – egal wie sehr Erik versuchte, sich etwas anderes einzureden. Vielleicht war es ja die Enttäuschung darüber, dass er scheinbar zum zweiten Mal in weniger als eben so vielen Jahren versagt hatte, was die Wahl eines ... Was auch immer betraf.
„Du hast gesagt, wenn ich mit nur Sex nicht klarkomme, muss ich mir jemand anderen suchen“, antwortete Erik leise und rang sich ein Lächeln ab.
Die Wut verschwand aus Toms Gesicht. Stattdessen trat er einen weiteren Schritt zurück, bis er sich wieder gegen den Schreibtisch lehnen konnte.
„Ich glaube dir nicht, dass du wirklich nur jemanden zum Vögeln willst, Tom“, fuhr Erik fort, als der schwieg. „Und ich glaube dir nicht, dass du keine Beziehung willst.“
Die Tatsache, dass Toms Arme hochkamen und sich um den schlanken Oberkörper legten, schien Eriks Vermutung zu bestätigen. Erst recht, als Tom den Blick abwandte. Er antwortete allerdings nicht.
„Aber ich glaube dir, dass du keine mit mir willst. Was auch immer du suchst, ich bin es offenbar nicht.“
Diesmal sah Tom ihn direkt an. „Woher kommt das, Erik? Seit Neujahr bist du ... anders.“
„Du auch“, gab er mit einem Schulterzucken zurück.
Toms zuckte zusammen und sein Gesicht verzog sich wieder zu einer missmutigen Grimasse. „Willst du jetzt die große Liebe finden oder was soll der Blödsinn? Das ist Schwachsinn. So etwas existiert nicht. Früher oder später wird es scheitern.“
Ein leises Lachen, dann schüttelte Erik den Kopf. „Ich weiß nicht einmal, was ich suche, Tom“, antwortete Erik kurz darauf ehrlich. „Aber ich habe endlich verstanden, dass du und dieses ‚nur Sex‘ es nicht sind. Jedenfalls nicht das, was ich im Moment brauche.“
Tom runzelte die Stirn. „Ich will keine Beziehung mehr“, murmelte er, als hätten sie diesen Punkt nicht längst geklärt. Vielleicht brauchte Tom es als Bestätigung der eigenen Einstellung. Erik hätte es nicht sagen können, aber es machte für ihn keinen Unterschied mehr.
Jetzt, wo er selbst sich entschieden hatte und es raus war, fühlte Erik sich deutlich besser. Freier. Befreit, geradezu. Deshalb fiel es ihm nicht schwer, zu sagen: „Das ist okay.“
Überrascht sah Tom auf. „Wie meinst du das?“
„Du willst keine weitere Beziehung – jedenfalls nicht mit mir“, wiederholte Erik mit einem kurzen Lachen, das ihm nicht einmal schwerfiel. „Das ist okay. Und wenn es wirklich das ist, was du im Moment willst ... ist da nichts Falsches dran.“
Wieder runzelte Tom die Stirn. „Warum gehst du dann?“
„Weil es sich für mich nicht mehr richtig anfühlt. Es ist nicht das, was ich gerade brauche.“
Einen Moment lang schien Tom zu überlegen, aber er antwortete nicht. Also drehte Erik sich herum in Richtung Tür.
„Hast du einen anderen gefunden?“ Toms Stimme war leise, kaum hörbar. Trotzdem war Erik sich sicher, dass er ein Zittern darin hörte.
Er drehte sich allerdings nicht um, als er ebenso leise antwortete: „Nein.“
„Wieso dann jetzt, Erik?“
Auf diese Frage hatte er keine definitive Antwort. Im Grunde war es ein recht spontaner Entschluss. Selbst als er hergefahren war, hatte dieser nicht sicher festgestanden. Aber Erik wurde das Gefühl nicht los, als wäre er Tom eine Erklärung schuldig, also überlegte er.
Allerdings fiel ihm nichts ein. Jedenfalls keine bessere Antwort als: „Ich will nicht Werther sein, sondern Albert.“
„Hä?“
Erik lachte und sah jetzt doch noch mal zu einem reichlich verwirrt dreinblickenden Tom zurück. „Mach’s gut. Bestimmt sieht man sich ab und zu im Rush-Inn.“
Das kurze Grinsen, das über Toms Lippen wanderte, ließ Erik hoffen, dass es die richtige Entscheidung war. Auch wenn der Abend sicherlich nicht so verlaufen war, wie sie beide es sich vorgestellt hatten, hatte Erik nicht das Gefühl, als würden sie sich im Bösen trennen. Dass das hier eine Trennung war, stand jedoch außer Zweifel.
„Wenn du weiter dort arbeitest, bestimmt. Ich werde den Laden sicherlich nicht meiden, nur weil du da sein könntest.“
Da war es wieder – dieses wilde, etwas ungestüme, forsche Blitzen in Toms Augen. Erik grinste zurück. Der Gedanke, dass er Tom demnächst mit einem anderen Kerl verschwinden sehen würde, tat nicht mehr so weh, wie gestern. Ein kleiner Stich, aber kein unüberwindliches Hindernis.
„Es ist okay“, wiederholte Erik seine Worte von vorhin. Und meinte damit mehr, als er in diesem Augenblick sagen konnte. Denn tatsächlich war es nicht einfach nur ‚okay‘, dass er jetzt allein nach Hause gehen würde.
Es war das einzig Richtige.