29 – Suchen und Finden
Als Erik ein paar Stunden später durch die dunkelgrüne Tür ins Rush-Inn trat, war seine Laune zwar besser, aber weiterhin nicht wirklich gut. Die Worte seiner Mutter gingen Erik stetig durch den Kopf. Und vermutlich machte ihn das wütender als das Gespräch an sich.
„Hey“, begrüßte Erik Tom eher missmutig und gab der Aushilfe hinter der Bar einen kurzen Wink, um ebenfalls ein Bier zu bekommen.
„Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“, meinte Tom sofort. Unter normalen Umständen hätte Erik sich vermutlich darüber gefreut, dass ihn nicht die gleiche miese Laune, wie am Vortag begrüßte. Heute konnte er nicht einmal das positiv stimmen.
Einen Augenblick überlegte Erik, ob er das wirklich bei Tom abladen wollte. ‚In Beziehungen redet man über Probleme.‘ Noch so eine verfluchte Weisheit, die von Berger stammen könnte.
Der Gedanke an diesen ließ etwas in Eriks Innerem kribbeln. Blöderweise nicht tief weit genug südlich, um als dumme, jugendliche, hormongesteuerte Erregung zu gelten. Kaum dass ein Glas vor ihm stand, nahm Erik einen großen Schluck, in der Hoffnung das verfluchte Kribbeln würde darin ersaufen. Denn das hatte bei dem Gedanken an einen Lehrer schließlich nichts in ihm zu suchen.
„Also?“, hakte Tom erneut nach, als Erik nicht antwortete.
„Stress mit meiner Mutter“, gab er leise grummelnd zurück. Vielleicht würde es ja tatsächlich helfen, wenn er mit jemanden darüber redete. Und Tom war schließlich kaum älter als Erik. Der hatte das doch vermutlich auch gerade erst hinter sich. „Kann ich dich mal was fragen, Tom?“
„Klar. Schieß los.“
„Wann ... hast du entschieden, was du nach dem Abi machen willst?“
Erik schielte zur Seite, während er so tat, als würde er weiterhin auf sein Bier starren. Es sah aus, als würde Tom zunächst die Stirn runzeln und überlegen, bevor er schließlich antwortete: „Wie meinst du das?“
„Na ja ... du studierst doch. Wieso hast du dich gerade für Biotechnologie entschieden?“, hakte Erik weiter nach.
Tom zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Hat mich schon länger interessiert, denke ich.“
Das half mal so gar nicht weiter. Erik hatte sich in seinem Leben für so einiges ‚interessiert‘. Dummerweise hatte das meiste davon ebenso schnell seine Faszination wieder verloren.
„Wieso fragst du?“
Ruckartig sah Erik von dem Bier auf und rang sich ein Lächeln ab. „Meine Mutter meint, ich müsste mich langsam entscheiden, was ich nach der Schule machen will“, antwortete er verlegen.
„Und?“
Erik zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht.“
„Willst du studieren?“
Wieder konnte Erik spontan keine wirkliche Antwort auf die Frage geben. Wollte er? Müsste er nicht wenigstens diese Frage beantworten können? Wollte er mindestens zwei weitere Jahre irgendwelchen Mist ins Hirn prügeln für den nächsten Abschluss? Und danach? Würde er schon wieder eine Entscheidung treffen müssen. Weiter studieren oder Job? Wo? Bei wem? Als was? Karriere? Familie kam ja eher nicht infrage. Jedenfalls nicht im klassischen Sinne. Bei dem Scheiß, den Eriks Hirn mitunter absonderte, war das mit ziemlicher Sicherheit besser.
Hilfesuchend sah Erik zu Tom, der sah ihn jedoch nicht einmal an, sondern auf das eigene Glas. Es fühlte sich alles falsch an. Manchmal wünschte Erik sich, tatsächlich noch dieses eine Jahr zu haben, um sich überhaupt erst einmal klar zu werden, wohin die Reise gehen konnte. Entscheidungen waren nie seine Stärke gewesen.
„Ich weiß nicht, was ich will“, murmelte Erik.
Das flaue Gefühl verwandelte sich zunehmend in ein Ziehen, als seine innere Stimme ihn daran erinnerte, dass das offensichtlich nicht nur die berufliche Laufbahn betraf.
„Wieso machst du nicht etwas mit Kindern?“, meinte Tom und grinste dabei breit, als hätte er gerade der Weisheit letzten Schluss entdeckt.
„Hä?“ Wie kam Tom denn auf die bescheuerte Idee? Als ob Erik mit irgendwelchen Gören was anfangen könnte.
„Also mit Luis bist du super zurechtgekommen“, fuhr Tom ungerührt der ihm engegenschlagenden Skepsis fort. „Echt jetzt. Ich glaube, du könntest gut mit Kindern.“
Irgendwo in den Worten glaubte Erik plötzlich ein ‚weil du selbst noch eins bist‘ mitschwingen zu hören. Toms Lachen klang nicht bösartig. Bestimmt nicht. Trotzdem fühlte es sich für Erik so an, als hätte ihm jemand einen Schlag in die Magen verpasst.
‚Das bildest du dir nur ein‘, versuchte er sich vergeblich zu beruhigen. Denn Eriks höchst persönliches Arschloch im Kopf höhnte bereits, dass da vor nicht allzu langer Zeit in einer seiner Hausaufgaben der Zusammenhang ‚schwul‘ und ‚kleine Jungs‘ schon einmal aufgekommen war.
‚Ein Lamm, das freiwillig zur Schlachtbank marschiert.‘
✑
Es war fast Mitternacht, als Erik im Bus zurück nach Hause saß. Nachdenklich sah er zu dem Rucksack, der auf dem Sitz neben ihm stand. Eigentlich hatte Erik alles für den kommenden Tag dabei gehabt, um bei Tom zu übernachten. Als er Nora mal wieder in nicht mehr als einem Handtuch gegenüber stand, war Erik die Lust zu bleiben gründlich verhagelt worden. Erst Recht nachdem Mario anschließend auch noch zur DVD Nacht einlud.
‚Und jetzt amüsiert sich Tom mit den Typen alleine.‘
Erik zuckte zusammen und versuchte, den Gedanken zu vertreiben. Immerhin wohnte Tom mit diesen Leuten unter einem Dach. Und scheinbar waren sie auch so etwas wie Freunde. Blöderweise machte diese Bezeichnung das immer unschöner in ihm wütende Ziehen umso schlimmer. Als ‚Freund‘ hatte Tom ihn ebenso bezeichnet.
‚Ihr habt immerhin eine Vereinbarung‘, versuchte Erik erneut sich einzureden.
Die gleiche Vereinbarung hatte er mit Dominik gehabt und der hatte sogar behauptet, eine Beziehung von Erik zu wollen. Bis zu dem Status hatte er sich bei Tom bisher nicht vorgearbeitet. Jedenfalls fühlte es sich nicht so an und Tom wollte ja weiterhin nicht darüber reden, was das zwischen ihnen tatsächlich war.
Betreten sank Erik in sich zusammen. Vielleicht war es besser so. Offensichtlich war er für diese ganze Beziehungsscheiße nicht gemacht. Dominik hatte es gewollt und sich – im Nachhinein betrachtet – vermutlich sogar Mühe mit einem Gefühlslegastheniker wie Erik gegeben. Trotzdem waren sie gescheitert. Und bei Tom bekam es Erik offenbar nicht einmal auf die Reihe, dem wenigstens klarzumachen, dass er mehr als nur Sexdates wollte.
‚Und wenn du es könntest, würde die Sache wie bei Dominik enden‘, wisperte es hämisch in Eriks Kopf.
„Vielleicht besser so, wie es ist“, flüsterte er leise – konnte jedoch sofort den inzwischen vertraut gewordenen Stich in den Magen fühlen. „Weniger Probleme“, versuchte Erik sich kaum hörbar weiter zu überzeugen.
Das Ziehen hörte jedoch nicht auf. So sehr er sich bemühte, der Gedanke daran, dass das, was Erik sich von Tom erhofft hatte, an seiner eigenen Unfähigkeit im Grunde nur scheitern konnte, ließ sich nicht verdrängen.
Selbst als Erik später im Bett lag und die Decke anstarrte, war es weiter da. Je länger er nach einem Ausweg aus dieser Misere suchte, desto mehr drehte er sich im Kreis. Und umso deutlicher stellte sich Erik auch eine weitere Frage:
„Was zum Teufel stimmt nicht mit mir?“
Erschrocken fuhr Erik zusammen, als seine eigene Stimme in der Stille der ansonsten leeren Wohnung viel zu laut erschien. Fast erwartete er, dass seine Mutter hereinplatzte. Aber natürlich passierte rein gar nichts. Schließlich war sie nicht da. Niemand außer Erik war hier. Und darüber sollte er froh sein. Es war nachdem sein offenbar schwerkrimineller Vater verschwunden war, meistens so gewesen und es hatte sich nie falsch angefühlt.
Bisher.
Langsam richtete Erik sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. Sein Blick fiel auf den Laptop. Den Link zu Dominiks Instagram Feed hatte Erik gelöscht, aber es wäre schließlich ein Leichtes, den wiederzufinden. Warum es ihn ausgerechnet ständig zu dem Kerl hinzog, wusste Erik selbst nicht. Da waren keine Gefühle mehr für Dominik. Trotzdem stellte er sich stetig die Frage, was sein Ex inzwischen machte. Mit wem war Domi zusammen. Hatte er sich weiter verändert?
‚Ist er glücklicher ohne dich?‘
Langsam stand Erik auf und setzte sich an den Schreibtisch. Als der Rechner lief, hielt er kurz inne, aber sein Kopf war mit einem Mal leer. Was tat er hier eigentlich? Gab es wenigstens etwas, das er sich erhoffen konnte? Trotzdem starrte er kurz darauf auf den Namen im Eingabefeld der Suchmaschine.
„Tom Grunewald“, murmelte er leise.
Ein letztes Zögern, dann drückte Erik Enter und überflog die ersten Einträge. Eine Seite von der Uni zu einem Projekt, an dem Tom teilnahm. Die Webseite einer Schule. Danach kamen die Links aus den sozialen Netzen, die Erik womöglich eine Antwort geben würden – auf Fragen, die er nicht einmal kannte. Wieder zögerte Erik. Wollte er das tun?
Trotzdem klickte er den ersten Link an. Nur um festzustellen, dass das offenbar nicht sein Tom war. Mit einer Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung schloss Erik den Tab wieder. Und wenn das alles andere Leute waren?
‚Was soll das bringen?‘
Anstatt den nächsten Link aufzurufen, schaltete Erik zur Bildersuche. In Zeile zwei entdeckte er Tom auf einer Party. Wie alt das Bild war, ließ sich auf den ersten Blick nicht sagen. Tom sah auf dem Foto nicht deutlich jünger aus als der Mann, den Erik vor nicht allzu langer Zeit bei Nora und Mario gelassen hatte.
Er scannte über den Bildschirm, auf der Suche nach weiteren Fotos und fand reichlich davon. Ein fröhlich lächelnder Tom hier und da und immer wieder mit anderen Leuten, die Erik nie im Leben gesehen hatte. Waren das seine Freunde? Alte Schulkameraden? Kommilitonen? Warum kannte Erik nicht einen davon?
‚Wie viele Freunde von dir kennt Tom denn?‘, überlegte er. Nur um prompt von seinem verfluchten Verstand die Antwort hinterher liefern konnte: ‚Keine. Weil da niemand ist.‘
Wütend knallte Erik den Laptop zu und starrte auf den Deckel. Das war eine dämliche Idee gewesen. Zumal das verfluchte Ziehen im Bauch nur noch stärker geworden war. Er hatte kein Problem damit, wenn Tom sich mit anderen Leuten traf – wirklich nicht. Aber warum erzählte Tom ihm nie davon?
‚Weil es egal ist und die ebenso nichts von dir wissen.‘
Erik verzog das Gesicht. „Und wenn schon“, versuchte er sich einzureden. „Ist doch scheißegal.“ Schließlich hatte Erik ja eh nicht vor, sich mit irgendjemanden von denen näher zu befassen.
Langsam öffnete Erik den Laptop wieder und starrte erneut auf die verdammten Bilder. Vielleicht waren die ja aus Toms Schulzeit. Er müsste die Links anklicken, um zu wissen, wann sie aufgenommen wurden. Aber etwas in Erik sträubte sich dagegen. Und falls sie nicht so alt waren?
Das hier war scheiße! In jeder erdenklichen Hinsicht. Wenn Erik mehr über Tom erfahren wollte, sollte er ihn einfach fragen, oder? Nein, schlimmer, Erik müsste solche Sachen doch schon wissen, wenn er mit dem Mann eine Beziehung führen wollte.
Oder?
Genervt sank Erik auf dem Stuhl zusammen, während er weiter auf die verfluchten Fotos starrten. Bilder, die einen Tom zeigten, den er normalerweise nicht zu Gesicht bekam. Und ja, vielleicht war das Eriks eigene Schuld. Partys waren nun wirklich nicht sein großes Hobby. Aber hatte Tom jemals gefragt, ob Erik zu einer mitkommen wollte? Oder gesagt, dass er zu einer hinging?
‚Ein Grund mehr, dass das alte Bilder sind und nicht aus den letzten Monaten‘, versuchte Erik sich erneut einzureden. Aber es half nichts.
„Zu müde“, entschied er und klappte den Laptop ein weiteres Mal zu. Vielleicht würde es helfen, wenn er eine Runde schlief. Man sagte doch, dass am nächsten Morgen die Welt gleich besser aussah. Mit etwas Glück würde das auch auf ihn zutreffen.
Aber Erik zögerte erneut, stand nicht auf, sondern blieb vor dem leise dröhnenden Rechner sitzen. Bis er ihn doch ein weiteres Mal öffnete. Langsam bewegte Erik den Mauszeiger zurück zum Eingabefeld und tippte seinen eigenen Namen ein.
Er fand das, was er erwartet hatte: nichts. Dennoch fühlte Erik sich dadurch sogar noch mieser. Bisher hatte er sich auf seine virtuelle Unsichtbarkeit durchaus etwas eingebildet. Immerhin hatten sie in der Schule oft genug darüber gesprochen, dass man sich in den sozialen Netzwerken nicht allzu transparent machen sollte.
Die Lektion hatte Erik mit Inbrunst verinnerlicht. Wenn er neuerdings Sandro und seine Idioten in die Rechnung mit einbezog, war das eine verdammt gute Entscheidung gewesen. Wie oft hörte man von Cybermobbing heutzutage? Da wollte Erik sich sicher nicht wiederfinden. Nichtsdestotrotz fühlte die lieb gewonnene Unsichtbarkeit sich im Augenblick nicht gut an. Und ehe er sich versah, hatte Erik einen weiteren Namen eingetippt.
Zu ‚Sandro Claasen‘ fand sich einiges im Netz. Vor allem Dinge, die Erik von sich selbst nicht dort finden wollte. Regelrecht angewidert von der Offenheit, mit der Sandro sein Leben im Netz zu teilen schien, schloss Erik den Tab erneut. Bilder wie der Affenkönig sich besoff oder mit irgendwelchen Weibern rumfummelte, brauchte er sich nicht geben. Und Oben-Ohne-Fotos von Sandro waren auch nicht gerade erregend.
Erik war kurz davor den Rechner wieder auszuschalten, als er ein weiteres Mal innehielt. Da war ein Name, den er zu gern suchen wollte. Schon blinkte der Mauszeiger im Eingabefeld, als Erik stockte. Stirnrunzelnd saß er vor dem Laptop, während seine Gedanken die letzten Monate durchgingen, um die eine Information zu finden, die ihm hier gerade völlig abging.
„Hm“, brummte Erik und fuhr doch den Laptop runter.
Nachdenklich zog er sich aus und legte sich ins Bett, um endlich ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, bevor es am nächsten Morgen wieder in die Schule gehen würde. Zurück zu Sandro und der Affenbande, zu Mathe bei Herrn Darian, der in letzter Zeit mit den Informationen über den Zustand seines Nachwuchses zunehmend zum Biolehrer mutierte.
Deutsch hatte Erik erst wieder Dienstag, also würde er diesen einen Mann vorher nicht wiedersehen. Normalerweise wäre ihm das egal – sollte es schließlich auch. Der Typ war, unabhängig davon, wie gut er aussah und wie perfekt sein kleiner runder Hintern vor der Tafel herumwackeln konnte, weiterhin ein Lehrer. Eriks Lehrer. Ein verfluchter Blödmann, dem er auch nach Monaten keine anständige Reaktion hatte entlocken können.
Vor allem aber, war Berger der dämliche Idiot, von dem Erik nicht einmal einen Vornamen kannte.
✑
Es hatte eine gefühlte Ewigkeit und verzweifelte hundert Seiten eines der Bücher, die Erik sich neuerdings wieder aus der Bibliothek auslieh, gebraucht, bis sein durchgeknalltes Hirn es geschafft hatte, herunterzufahren. Entsprechend müde saß Erik am Montag im Matheunterricht bei Herrn Darian.
Glücklicherweise schien der durch die Aussicht auf den demnächst über ihn hereinbrechenden Nachwuchs ebenfalls ganz woanders zu sein. So fielen weder Erik, der halb schlafend auf dem Tisch lag, noch die munter vor sich hinquatschenden übrigen Schüler negativ auf.
Als es zur Pause klingelte, waren alle – inklusive Herrn Darian – froh, die Stunde hinter sich zu haben. Seufzend packte Erik die Sachen in den Rucksack und warf einen kurzen Blick auf die Tafel. Wirklich mitbekommen hatte er in dieser Stunde nicht viel und wenn Erik sich die Mathenote nicht versauen wollte, sollte er das besser heute Nachmittag nachholen.
‚Generell wäre Lernen keine blöde Idee‘, sagte Erik sich, verzog aber gleichzeitig das Gesicht.
Stupide vor irgendwelchen Büchern hocken war schon immer langweilig gewesen. Bisher hatte Erik sich stets über die Klausuren und Kontrollen retten können, ohne sonderlich viel Zeit ins Lernen investieren zu müssen. Auch wenn das im Verlauf des letzten Jahres zu einem stetigen Abfall seiner Noten geführt hatte. Durch die Abiprüfungen würde Erik damit wahrscheinlich nicht kommen. Er hatte ja schon länger überlegt, den Job bei Herrn Ceylan aufzugeben, um mehr Zeit unter der Woche zu haben. Vielleicht sollte Erik diesen Vorsatz doch endlich einmal in die Tat umsetzen.
„Aus dem Weg, Hoffmann“, schallte es plötzlich von hinten und schon wurde Erik nach vorn geschubst.
„Mach dich halt nicht so fett“, giftete Erik angefressen zurück, bevor er darüber nachdenken konnte.
Sandros Augen verengten sich, als er versuchte, sich vor ihm aufzubauen. „Wie war das?“
Für einen Moment sah Erik nach links und rechts. Der Großteil der Klasse war bereits weitergezogen und auch Herr Darian war nicht mehr im Raum. Mit einem tonlosen Seufzen schüttelte Erik den Kopf. „Jetzt lass den Scheiß halt und mich auch endlich in Ruhe.“
Sandro hatte offenbar andere Pläne. Wenn das kurze Grinsen, das über dessen Lippen huschte, irgendetwas bedeutete, dann sicherlich, dass das hier keine zufällige Begegnung war.
„Und wenn nicht? Holst du sonst deine Pompons raus und verhaust mich damit?“
Der Affenkönig suchte Streit – und zwar richtig. Leider war Erik zu müde und vor allem zu schlecht gelaunt, um vernünftig zu sein und Sandro aus dem Weg zu gehen. In letzter Zeit lief doch eh alles beschissen. Jeder Tag fühlte sich an, als würde Erik ein weiteres Stück Kontrolle über sein Leben verlieren. Egal, was er tat, es führte nie zu dem Ergebnis, das er sich erhoffte. Sich mit einem Vollidioten wie Sandro überhaupt abgeben zu müssen, war eine Zumutung. Eine beschissen große noch dazu.
Schon konnte Erik es vor sich sehen. Sandros dämliche Fresse, wenn der wimmernd und blutend am Boden lag. Wäre ja nicht das erste Mal. Aber vielleicht würde es ja diesmal reichen, damit der beschissene Idiot endlich sein Schandmaul hielt.
„Du stehst auf Prügel, was?“, zischte Erik zurück, während er sich aufrichtete.
„Na komm schon, schlag zu!“, forderte Sandro ihn erneut grinsend auf.
Erik stockte. ‚Er provoziert mit Absicht!‘, wurde ihm mit einem Mal klar.
Sofort trat Erik einen Schritt zurück. In letzter Zeit hatte es nicht viele Gründe gegeben, dem Flüstern in seinem Kopf Beachtung zu schenken, aber das hier war anders. Diesmal war es kein hämischer Tonfall, keine abfällige Bemerkung von Eriks mentalem Arschloch. Das hier war eine Warnung – eine die er besser nicht ignorierte.
Erneut sah Erik über die Schulter und sich im Klassenraum um. Niemand sonst aus dem Kurs war zu sehen. Sie waren allein und Sandro stand hier, als wollte er von Erik verprügelt werden. Dass der Affenkönig ohne Hilfe wenig Chancen auf den Sieg hatte, sollte selbst der Vollidiot dort drüben allmählich mal kapiert haben.
‚Falls du ihn verprügelst, kann das einen Schulverweis geben.‘
Erik trat einen Schritt zurück und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Damit war er Sandro nicht nur in Sachen Schulterbreite um einiges überlegen. Der Adamsapfel am Hals des Affenkönigs hüpfte einmal auf und nieder. Ein Zeichen von Angst. Und trotzdem stand der Trottel da und bettelte darum, dass Erik ihn verprügelte.
‚Beschissenes Arschloch!‘
Ganz sicher würde Erik sich nicht so kurz vor den Prüfungen von dem Affen alles versauen lassen! Also trat er einen weiteren Schritt zur Seite und schulterte den Rucksack.
„Willst du etwa kneifen, Hoffmann?!“, versuchte Sandro erneut zu provozieren.
Aber Erik dachte nicht daran, sich auf dieses Spiel einzulassen. Er zwängte sich hinter einem der anderen Tische vorbei und umrundete Sandro auf diese Weise. Erst als Erik an seinem Gegner vorbei war, sah er noch einmal über die Schulter und meinte lapidar: „Wenn Du auf Prügel stehst, frag doch Ines, ob sie dir in die Eier tritt.“
Der darauf folgenden Faust wich Erik geschickt aus, bevor er sich aus dem Klassenzimmer verzog. Vor der Tür wäre er beinahe in Oliver und Luca hineingerannt, die sofort beiseitetraten, um Platz zu machen. Einen Moment stockte Erik, sagte aber nichts. Stattdessen biss er sich auf die Zunge und verzog sich in Richtung des nächsten Kurses. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Sandro auf eine Fortsetzung dieser Konfrontation bestehen würde. Aber damit würde Erik sich befassen, wenn es so weit war.