19 – Blicke und Talente
Als Erik am nächsten Morgen in das Klassenzimmer schlurfte, erwartete er beinahe, das Objekt seiner weiterhin anhaltenden, unerwünschten Träume vor der Tafel hin und her wackeln zu sehen. Tatsächlich hatte er es jedoch geschafft, als Erster im Klassenraum zu sein. Stirnrunzelnd schaltete Erik das Licht ein.
In den letzten Wochen war es sowohl dienstags als auch donnerstags der blöde Deutschlehrer gewesen, der schon vor Erik anwesend war. Für einen Moment tauchte da in seinem Kopf tatsächlich die Frage auf, wo Berger blieb und warum er nicht hier war. Irritiert zog Erik, weiterhin an der Tür stehend, das Handy aus der Tasche und prüfte zur Sicherheit die Uhrzeit. Er war sogar fünf Minuten später dran als üblich.
„Warten Sie auf etwas?“
Überrascht fuhr Erik zusammen und konnte sich gerade noch davon abhalten wie ein kleines Mädchen quietschend vor Schreck zur Seite zu springen. Trotzdem hämmerte sein Herz mit einem Mal förmlich gegen den Brustkorb. Hastig schüttelte Erik den Kopf und beeilte sich dann mit einem gemurmelten „Morgen“, an seinen Platz zu kommen.
„Ihnen ebenfalls einen guten Morgen, Erik“, gab Berger zurück.
War das ein Lächeln, das er in der Stimme von dem Kerl hörte? Erik traute sich nicht, sich umzudrehen, um nachzusehen. Stattdessen stapfte er, nachdem der Rucksack auf dem Tisch gelandet war, zu den Haken an der Wand und hing den Parka dort auf. Am liebsten hätte Erik grummelnd erwidert, dass er dem Kerl sicherlich keinen ‚guten‘ Morgen gewünscht hatte. Aber das wäre in Anbetracht dessen, was Erik dem Blödmann letzten Freitag mal wieder als Hausaufgabe überreicht hatte vermutlich reichlich unangebracht.
‚Oh, verdammt!‘
Das hatte Erik schon total verdrängt gehabt. Zögerlich sah er zu Berger. Der machte aber den gleichen gelassenen Eindruck wie immer. Langsam schob Erik sich auf seinen Platz und fing an, Block und Stift auszupacken.
Mit einem klatschenden Geräusch landete plötzlich ein Stapel Papier auf dem Lehrertisch und ließ Erik erneut zusammenfahren. Noch immer sah Berger nicht zu ihm hinüber und wie so oft begann etwas in Erik zu gären. Warum war der Kerl jetzt wieder derartig abweisend? Er könnte ja wohl wenigstens hersehen. War das denn zu viel verlangt? Immerhin hatte Erik ihm erst letzte Woche schon wieder so ein Schundwerk vorgelegt. War Berger das alles total egal? War er dem dämlichen Lehrer so egal?
‚Willst du etwa, dass der Blödmann dich mag?‘
Erik biss sich auf die Lippe. Ganz sicher wollte er das nicht. Nicht so. Ja, da gab es diesen total durchgeknallten Teil in ihm, der das eine oder andere von Berger wollen würde. Aber da dachte Erik lieber nicht drüber nach. Trotzdem strebte auch das kranke Arschloch in seinem Kopf nicht gerade danach, dass Berger ihn ‚mochte‘. Nein, wonach es diesem Teil von Erik verlangte, war definitiv etwas ganz anderes. Mit einem Mal erschien es ihm eine saudämliche Idee, immer derartig früh hier aufzutauchen. Erik schluckte, während er stoisch auf die dämlichen Karos des Blockes starrte.
Ein Stuhl wurde verrückt und ein kurzes, etwas lauteres Luftholen, das Eriks Hirn sofort als Stöhnen interpretierte, war zu hören. Wie automatisch verstärkte er den Griff um den Stift in der Hand. Immer wieder ermahnte Erik sich, den Kerl nicht mehr in seinen Kopf zu lassen. Da hatte das Arschloch nichts zu suchen!
Doch kaum war der Gedanke, wo Berger stattdessen so alles ‚drin‘ sein könnte in ihm aufgekommen, spürte Erik, wie ihm zusammen mit den Bildern, die Hitze in den Kopf schoss. Am liebsten hätte er den Schädel auf den Tisch geknallt. Vielleicht wäre diese Qual dann zu Ende. Aber anstatt des erhofften Blackouts würde das wohl zu weiteren Träumen führen. Denn diese verfluchte Stimme quälte Erik schließlich inzwischen nicht mehr nur nachts, sondern ebenso dauerhaft tagsüber. Vorzugsweise in der Schule, im Unterricht und am Allerliebsten eben genau in den Deutschstunden.
Jetzt blickte Erik doch auf und prompt sah er sich diesen verfluchten grünen Augen gegenüber, die er so gern vermieden hätte. Meiden sollte. Weil er im Grunde nicht mal wissen sollte, welche beschissene Farbe, die Dinger hatten. Für so etwas interessierten Jungs sich nicht. Und Männer schon gar nicht. Jetzt wegsehen und bloß nicht weiterhin diesen Blödmann anstarren – das wäre vernünftig. Erst recht nicht, wenn der direkt zu Erik zurücksah.
‚Wohin auch sonst, ist ja außer euch keiner da.‘
Warum konnte diese beschissene Stimme eigentlich nicht endlich einmal die Klappe halten? Aber anstatt wegzusehen, zurück auf den verdammten Block, hielten Bergers Augen Erik weiterhin gefangen.
‚Moosgrün‘, zuckte es ihm durch den Kopf. Egal wie sehr er sich in den letzten Wochen bemüht hatte herauszufinden, wie sein krankes Hirn ausgerechnet auf dieses Wort gekommen war – Erik konnte es ums Verrecken nicht sagen. Genauso wenig, wie er eine Ahnung hatte, warum diese beschissenen Augen ihn so anfunkelten.
Oder weshalb sein Schwanz diesen Blick dermaßen geil fand, dass er beim Herz soeben eine Ladung frisches Blut bestellt hatte. Sofort kniff Erik die Beine zusammen, aber es half nichts. Mit jeder verstreichenden Sekunde stieg das Kribbeln, das Ziehen wurde stärker, bäumte sich im wortwörtlichen Sinne bereits dem unnachgiebigen Stoff der Jeans entgegen.
Weil dieser notgeile Verräter nur zu gern herausfinden wollte, wie es sich anfühlen würde, sich in ein ganz anderer Teil von dem Blödmann da vorn zu versenken als ausgerechnet dessen Augen. Schon wieder wollte es in Eriks Schritt frohlockend zucken. Die Jeans schränkte die Bewegungsfreiheit dieses Körperteils derzeit allerdings zu stark ein. Unangenehm, aber vermutlich ein eher glücklicher Umstand.
Jeden Moment konnten seine Mitschüler auftauchen. Da wollte Erik sicher nicht mit einem Ständer hier sitzen. Wenigstens war es in der Jeans nicht ganz so offensichtlich. Unter dem Tisch sowieso nicht. Und wenn Erik sich einer Sache sicher war, dann, dass ihm hier keiner auf den Schritt starren würde.
‚Wobei du das im Augenblick selbst Recht gern bei einem gewissen Jemand tun würdest‘, verhöhnte die dämliche Stimme Erik schon wieder.
Das Stöhnen konnte er gerade noch unterdrücken, aber der Druck im Inneren wurde zunehmend stärker. Dieser Drang danach, aufzustehen und sich zu nehmen, was der Mistkerl da drüber immer derartig bereitwillig vor dem ganzen beschissenen Kurs präsentierte. Erik schluckte und schaffte es trotzdem nicht, sich diesem verdammten Blick zu entziehen. Sein Herzschlag wurde schneller, der Atem tiefer.
Verdunkelte sich dieses verfluchte Grün gerade oder bildete er sich das nur ein? Endlich schaffte Erik es, sich wenigstens für einen Sekundenbruchteil von Bergers Augen zu lösen. Statt aber vernünftigerweise wegzusehen, zuckte Eriks Blick zu Bergers Lippen. Wie schon so oft zuvor, hatte er mit einem Mal den Eindruck, als würde da ein verschissenes Lächeln an ebendiesen ziehen.
An den für einen Mann viel zu weich erscheinenden, schmalen Lippen. Was würde das Arschloch von Lehrer sagen, wenn Erik sie eroberte? Welche Schimpfworte würden sie für ihn finden, sobald er sich anschickte, ganz andere Bereich von Bergers zu verführerischem Körper erkundete? Die Hausaufgabe von letzter Woche hatte da einen eher vorsichtige, für Eriks Verhältnisse regelrecht jugendfreien, Versuch dargestellt, wie solche Worte klingen könnten. Im Augenblick drängten sich da andere Sachen in Eriks Geist, die vermutlich eher als jugendgefährdend eingestuft werden würden.
‚Das beschissene Hemd ist im Weg‘, flüsterte die dämliche Stimme in Eriks Kopf ihm zu.
Sofort wanderte sein Blick tiefer – zum ersten Knopf. Genau wie letzte Woche sah Erik die eigene Hand, wie sie den Knopf öffnete, sich unter den Stoff schob, am Schlüsselbein entlang. Die Enge in Eriks Schritt wurde zunehmend unangenehm, um nicht zu sagen schmerzhaft.
„Guten Morgen, Herr Berger!“
Blinzelnd sah Erik auf und bemerkte, dass zwei seiner Mitschülerinnen gerade eingetroffen waren. Es dauerte weitere wertvolle Sekunden, eh ihm klar wurde, dass er den Mistkerl da vorne wie ein Vollidiot angestarrt haben musste. Schnell rutschte Erik auf dem Stuhl hin und her und setzte sich gerade auf. Die Gelegenheit nutzend, schob die Hände in die Hosentaschen und dabei seinen Schritt einigermaßen zurecht, sodass es weniger unangenehm war.
„Guten Morgen, die Damen“, erwiderte Berger gut gelaunt. Sofort entbrannte in Erik etwas und er sah mit wütendem Blick zu dem Blödmann zurück. Zu den Weibern war der Mistkerl immer nett und freundlich. Und zu ihm?!
‚So ein Schwachsinn!‘, schimpfte Erik prompt mit sich selbst. ‚Ist doch völlig egal, wen der Kerl anlächelt!‘
Trotzdem war da dieses beschissene Loch, das sich einmal mehr in Eriks Bauch öffnete. Wenigstens führte die Ankunft weiterer Schüler dazu, dass seine Gedanken sich endlich von Berger lösen konnten. Was glücklicherweise zusätzlich ebenso zu deutlich mehr Bequemlichkeit unterhalb der Gürtellinie führte.
Der Unterrichtsbeginn rückte immer näher, der Klassenraum füllte sich. Als Sandro mit Ines am Arm hereinspazierte, lenkte die Frage, was Mädchen an einem Idioten wie dem Affenkönig fanden, Erik weiter von der unangemessenen Enge in seiner Jeans ab. Jedenfalls für eine Sekunde, bis der gleiche Gedanke zu der Frage führte, was es bei Berger war, worauf die Mädchen standen.
Wobei der Arsch da vorn ja zumindest damit punkten konnte, dass er – vor allem für einen Lehrer – viel zu gut aussah. Sandro konnte mit solchen Pluspunkten nicht aufwarten. Das Halloweenkostüm für einen Gorilla brauchte der Affenkönig jedenfalls nicht kaufen. Das trug er täglich am Leib.
„Was glotzt du denn so, Hoffmann?“, zischte Sandro Erik prompt an.
„Bei Verkehrsunfällen kann man halt nur schwer wegschauen“, rutschte es ihm heraus, bevor Erik sich bremsen konnte.
„Wie war das?!“
„Setzen Sie sich, bitte. Der Unterricht beginnt gleich“, tönte es im selben Moment mit eiskalter Stimme aus Richtung Lehrertisch.
Erik konnte sehen, dass es in Sandro arbeitete und er nur zu gern einen blöden Kommentar abgelassen hätte. Aber Berger widersprach nicht einmal er. Also verzog der Affenkönig sich mit Ines in die hinterste Reihe. Erik atmete erleichtert auf. Nicht weil er Sandros Wut vorerst entkommen war, sondern da der kurze Schlagabtausch seinen Kopf einigermaßen auf Kurs gebracht hatte.
Um nicht gleich wieder den Gedanken über Berger zu verfallen, starrte Erik stur auf seinen Block. Die blöden Karos waren wenigstens unverfänglich. Bei denen hatte der kranke Idiot in Eriks Kopf nicht auch noch etwas zu sagen. Als ob er nicht schon genug Probleme mit den realen Arschlöchern in seinem Leben hatte. Wie dem da vorn. Diesem Mistkerl, der statt zu Erik inzwischen auf irgendeinen dämlichen Zettel starrte.
Als die Schulglocke den Unterrichtsbeginn einläutete, stand Berger auf und begrüßte den Kurs erneut. Alles wie immer, kein Unterschied zu sonst. Und trotzdem fühlte es sich für Erik so an, als wäre irgendetwas anders.
Dieser beschissene Blick. Warum zum Teufel konnte er ihn weiterhin auf sich spüren?
Dabei zeigten Erik immer wieder aufkommende, flüchtige Seitenblicke deutlich, dass Berger jeden anderen in diesem verdammten Raum anzulächeln schien. Nur zu ihm sah der Blödmann nie. Jedenfalls nicht so. Das war scheiße! Weil es das total unsinnige und dämliche Reißen in Eriks Eingeweiden hervorbrachte. Etwas das er dort nicht wollte, weil es da verflucht noch einmal nicht hingehörte!
Mit einem Mal seufzte Berger. Als Erik auf die Uhr an der Wand schielte, stellte er fest, dass bereits die Hälfte der Stunde herum war. Scheiße! Er hatte schon wieder nicht aufgepasst.
„Mir ist bewusst, dass die Weihnachtsferien kurz vor der Tür stehen und Sie sich alle viel lieber darauf konzentrieren würden, als auf meinen Unterricht“, sagte Berger, erntete dafür auch noch kollektives Gekicher des weiblichen Fanblocks.
Eriks Blick verfinsterte sich, als er beobachtete, wie Berger zu einem Stapel Papier auf dem Lehrertisch griff. Kurz danach spazierte der Blödmann von Lehrer durch die Reihen und verteilte die Zettel einen nach dem anderen.
„Dennoch möchte ich Sie – mal wieder – darauf hinweisen, dass Sie sich im letzten Schuljahr befinden“, fuhr Berger unbeirrt fort und legte einen Zettel vor Sandro auf dem Tisch ab. „Das heißt unter anderem auch, dass Sie sich zur Abwechslung bemühen sollten, Ihr Hausaufgaben ernst zu nehmen. Insbesondere Sie, Herr Claasen.“
„Was denn? Sie hatten doch gesagt, dass es kein Minimum gibt“, gab Sandro mit einem herausfordernden Lachen zurück.
Berger legte nun auch vor Ines einen Zettel ab, die sich sehr offensichtlich dezent aus der Unterhaltung heraushalten wollte. Jedenfalls, wenn Erik nach dem hochroten Kopf urteilte, mit dem sie den Zettel hastig zwischen den Seiten ihres Schreibblocks versteckte.
„Sie meinen also, Sie hätten die Aufgabe angemessen erfüllt?“
Sandro zuckte lediglich mit den Schultern, grinste aber weiter. „Geht doch wohl eindeutig um Sex, oder?“
Ungerührt verteilte Berger die Hausaufgaben der übrigen Schüler. „Die Aufgabe war, ein Gespräch aufzuzeigen, das Brecht zu seinem Sonett verleitet haben könnte, Sandro. Dazu gehören in der Regel zwei Parteien. Und mehr als vier Worte.“
Sandro schnaufte und lachte, anstatt zu antworten. In diesem Moment tauchte Berger vor Eriks Tisch auf und legte die zwei Zettel seiner eigenen Hausaufgabe verkehrt herum darauf ab. Allein bei dem Gedanken daran, was er Berger darin wieder vor den Latz geknallt hatte, ohne darüber nachzudenken, begann das Pulsieren in Eriks Schritt erneut einzusetzen.
„Manche von Ihnen haben bei dieser Aufgabe regelrecht ... Talent ... bewiesen.“
Der Ton in Bergers Stimme ließ ein unerwartetes Kribbeln über Eriks Rücken laufen, das sich direkt dem stetig anwachsenden Pulsieren im Schritt anschloss. Sein Atem beschleunigte sich. Immer heftiger hämmerte das Herz von innen gegen den Brustkorb.
‚Er meint nicht dicht. Ganz sicher hat der Mistkerl dich nicht gerade gelobt für diesen Scheiß!‘
„Wobei ich Ihre Arbeit da nicht dazu zählen würde, Sandro. Aber vielleicht möchten Sie den Rest des Kurses daran teilhaben lassen und sich eine zweite Meinung anhören.“
Kollektives Lachen. Diesmal stimmte Sandro nicht ein. Selbst Erik konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Trotzdem schob er die Zettel der eigenen Arbeit vorsichtshalber unter den Block, bevor der Blödmann von Lehrer auf die Idee kam, das Erik seine Hausaufgabe ebenso vorlesen könnte.
„Nun?“, fragte Berger erneut nach, erntete aber lediglich Schweigen von Sandro, dafür weitere Lacher von den übrigen Schülern. „Ist es Ihnen peinlich?“
Berger hatte inzwischen alle Zettel verteilt und trat vor die Klasse. Mit den Händen in den Hosentaschen wanderte ein herausfordernder Blick über die versammelten Schüler.
„Irgendjemand sonst?“, fragte Berger erneut.
Für einen Sekundenbruchteil hätte Erik schwören können, dass der Kerl ihn wieder direkt anstarrte. Da er ganz sicher nicht plante, diese Hausaufgabe mit dem Rest der Klasse zu teilen, senkte Erik hastig den Kopf.
„Ich möchte, dass Sie sich bis morgen anhand Ihrer Texte überlegen, welche Art von Beziehung die Personen in Ihrem Aufsatz miteinander führen.“
„Sie haben Sex, was soll das schon sein?“, warf Oliver, einer von Sandros Schergen mit einem Lachen in den Raum.
Berger sah sich um und lächelte. Allerdings wenig freundlich, wie Erik stirnrunzelnd bemerkte, als er aus dem Augenwinkel zu seinem Lehrer schielte. Im Gegenteil. Es sah eher aus, als würde Berger Oliver für die Dämlichkeit dieses Kommentars bemitleiden.
„Definieren Sie die Art einer Beziehung über die Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs, Oliver?“
Der erstarrte und sah irritiert zu ihrem Lehrer, nur um kurz darauf hilfesuchend zum Banknachbarn zu blicken. „Ich ... also ...“
Berger zog die Augenbrauen hoch: „Führen Sie mit Sandro die gleiche Art Beziehung wie mit Ihren Eltern? Ich gehe mal davon aus, dass besagte Häufigkeit in beiden Fällen ähnlich sein wird. Korrigieren Sie mich, sollte das ein Irrtum sein.“
Dem Lachen im Kurs konnte nicht einmal Erik sich verschließen. Auch er saß schmunzelnd da und kritzelte gedankenverloren eines der Kästchen auf dem Block an.
„Natürlich nicht!“, kam es prompt von Oliver. Da der weiter hinten saß, konnte Erik ihn nicht sehen. Aber in seiner Vorstellung saß der Blödmann gerade mit hochrotem Kopf da. Ein Bild, das Eriks Grinsen breiter werden ließ.
„Dann gibt es offenbar mehr als eine Art von Beziehung“, erklärte Berger weiter. „Das Thema Beziehungen ist eines der Unterstufe. Sagen Sie nicht, dass Sie damit nicht vertraut wären.“
Der Kurs schwieg, während Erik sich ernsthaft bemühte, darüber nachzudenken, ob sie so einen Quark jemals im Deutschunterricht behandelt hatten. Selbst wenn das der Fall war, hatte Erik s vermutlich sofort abgehakt. Was gingen ihn andere Menschen an? Mit denen konnte er ja meistens sowieso nichts anfangen. Und wohin das führte, hatten Dominik und Eriks angebliche Freunde ja sehr eindrucksvoll bewiesen.
Vorsichtig drehte Erik den Kopf und schielte zu Mirek, einem dieser ehemaligen Freunde, der seit Beginn des Schuljahres keine drei Worte für Erik übrig gehabt hatte. Für einen Sekundenbruchteil trafen sich ihre Blicke. Es war jedoch zur Abwechslung Mirek, der hastig weg und stattdessen auf seinen eigenen Block sah.
Berger seufzte derweil und fuhr fort: „Also gut. Wenn das nicht der Fall ist, zurück zum Urschleim.“ Mit einem Ruck drehte er sich zur Tafel und schrieb, während er weiter sprach: „Rollenbilder und Beziehungen.“
Was ein Scheiß. Mussten sie sich den Mist jetzt echt antun? Hatte Berger nicht eben noch gesagt, das war ein Thema für die Knirpse der Unterstufe?
‚Besser als Pornopoesie‘, sagte Erik sich dann jedoch.
Wenn er darüber nachdachte, was Oliver für eine Beziehung zu seinen Eltern oder zu Sandro führte, würde Erik hier zumindest nicht mit einem Steifen sitzen.
‚Jedenfalls, solange der kleine Hintern da vorn mal nicht vor der Tafel herum wackelt‘, gab die dämliche Stimme in Eriks Kopf erneut zu bedenken.
Den Rest der Stunde versuchte Erik entsprechend selten zu Berger zu sehen und sich stattdessen auf das zu konzentrieren, was der erzählte. Tatsächlich war – sehr zu Eriks eigener Überraschung – der Block am Ende nicht ganz so leer wie üblicherweise nach einer Deutschstunde.
Als es zur Pause klingelte, packte Erik dennoch hastig die Sachen in den Rucksack. Auf keinen Fall wollte er länger als nötig hier sein. Berger hatte gnädigerweise einmal mehr über die entgleiste Hausaufgabe hinweggesehen. Auf gar keinen Fall wollte Erik riskieren, dass der Kerl ihn deshalb ansprach.
Seine Sorge war allerdings unbegründet, denn Berger trat lediglich zum Lehrertisch und begann die Unterlagen darauf in den Rucksack zu packen.
„Denken Sie daran, sich zu überlegen, welche Art von Beziehung die Charaktere in Ihrer letzten Hausaufgabe Ihrer Meinung nach führen“, rief er dabei über die Schulter hinweg der Klasse noch einmal zu.
So schnell er konnte, verzog Erik sich aus dem Raum und hastete zur Physikstunde. Denn auf keinen Fall wollte er über diese Frage nachdenken. Weder jetzt noch sonst irgendwann. Das würde schließlich bedeuten, dass da irgendeine Art von Beziehung zwischen ihm und diesem Blödmann von Lehrer existierte.
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Der Rest des Tages lief erstaunlich ruhig – jedenfalls aus Eriks Sicht. Sandro war zu sehr davon abgelenkt mit Ines zischend darüber zu diskutieren ob der ihre Beziehung etwa durch das definierte, was er als Hausaufgabe abgeliefert hatte. Oliver war beleidigt, nachdem ihn einige der Mädchen mit Bergers Zurechtweisung aufzogen. Und Luca hielt vorsichtshalber gleich die Klappe. Blieb am Ende niemand, der Erik hätte ablenken können.
Dummerweise war gerade heute ein Tag, an dem er sich zu gern mit Sandro angelegt hätte. Und sei es nur, um diesen dämlichen Gedanken aus dem Kopf zu bekommen, dass Berger womöglich ihn mit seinen Worten hatte loben wollen. Und erst recht hatte Erik keine Lust, über die neue Aufgabenstellung nachzudenken.
『Hast du heute Zeit?』, schrieb er direkt nach dem Unterricht eine Nachricht an Tom.
『Ich bin 18 Uhr zu Hause. Muss aber später lernen. Willst du vorbeikommen?』
Für eine Sekunde verdrehte Erik die Augen. Als ob einer von ihnen sich schon einmal gemeldet hatte, ohne den Wunsch, sich mit dem jeweils anderen noch am gleichen Tag zu treffen. Und wie diese Begegnungen üblicherweise endeten, war absolut unstrittig.
Allerdings rumorte es bei dem Gedanken in Eriks Bauch ziemlich heftig. Der Sex mit Tom war gut und er lenkte ihn weiterhin ausreichend davon ab, allzu oft über den Blödmann von Lehrer zu fantasieren. Aber, wie in den letzten Tagen zunehmend häufiger, fragte Erik sich, ob das wirklich ‚alles‘ war, was zwischen ihnen sein konnte.
Sofort kehrten die Gedanken zur heutigen Deutschstunde zurück. Welche Art von Beziehung führte er denn nun überhaupt mit Tom? Vielleicht war es schlicht notwendig, das endlich einmal zu klären.
『Okay. Bin gegen sechs bei dir.』
Da Erik bis dahin genug Zeit hatte, konnte er auch gleich einen kurzen Abstecher zum Weihnachtsmark machen. Lächelnd machte er sich auf den Weg. Hausaufgaben konnte er später am Abend schließlich genauso erledigen.