33 – Absage und Ansage
Nachdem Erik offenbar völlig den Verstand verloren und Berger seine verfluchte Hausaufgabe in die Hand gedrückt hatte, war er den Rest des Mittwochs buchstäblich für nichts mehr zu gebrauchen gewesen.
Gern hätte Erik behauptet, dass es Sorge war, die seinen Kopf beschäftigt hielt. Aber tatsächlich herrschte dort ausgesprochene Leere. Okay, vielleicht nicht ‚nichts‘. Denn ab und an schaffte es ein Funke Vernunft, gegen das beständige weiße Rauschen in Eriks Hirn anzukämpfen und war dann als leise Stimme zu hören. Eine, die ihm immer wieder zurief, dass er ein Vollidiot war und fragte, was zum Geier er sich dabei gedacht hatte, Berger den Blödsinn zu geben. Das Dumme war, dass Erik das selbst nicht wusste. Sein Körper hatte quasi instinktiv gehandelt. Zumindest fand er den ganzen Nachmittag über keine plausiblere und gleichzeitig akzeptable Erklärung.
‚Wo wir gerade mit Wahrheiten hantieren hier ...‘
Nein, den Gedanken drängte Erik lieber zurück. Denn sicher wollte er nicht darüber nachdenken, was es bedeuten könnte, dass er ausgerechnet Berger gegenüber diese Seite von sich zeigte. Sogar zeigen wollte. Und das zunehmend deutlicher und vor allem immer öfter. In ihrer ganzen Pracht und Idiotie.
Folglich hatte Erik nach dem verflucht beschissenen Nachmittag auch noch eine reichlich unruhige Nacht verbracht. Sein sich doch eigentlich so leer anfühlendes Hirn kam schlicht nicht zur Ruhe. Somit brachte der Versuch, ein Buch zu lesen rein gar nichts. Denn mehr als zwei Wörter konnte Erik momentan nicht zu einem Satz zusammenbringen. Auch die Idee, sich mit ein paar Pornos aus dem Internet auf andere Gedanken zu bringen, scheiterte glorios. Primär an der Tatsache, dass auch dort vorrangig Sätze mit zwei Wörtern verwendet wurden, die jedoch zu deutlich mehr Kontext führten, als Erik im Moment bereit war anzunehmen.
Zumal der einzige Mann, mit dem Erik besagten Kontext und zuvor erwähnte Zweit-Wort-Sätze regelmäßig pflegte, an diesem Mittwochabend keine Zeit für ihn gehabt hatte. Zu beschäftigt. Irgendwelcher Unikram. Seminar. Vorlesung, Prüfung. Egal. Und ja, Erik hatte an diesem Abend keine Muse gehabt, um darüber nachzudenken, was diese neuerliche Ablehnung Toms bedeutete.
„Ich bin so was von geliefert ...“, murmelte Erik verzweifelt, als er am Donnerstagmorgen gegen sechs am Küchentisch in der Wohnung seiner Mutter saß und an einer Tasse Kaffee nippte. Dass er dafür doppelt so viel Pulver verwendet hatte, wie sonst üblich führt zwar dazu, dass Erik das Koffein sofort in den Kopf schoss, machte ihn jedoch nicht wacher. Dafür drehte ihm sich der Magen um, weil das Zeug einfach ekelhaft schmeckte.
Trotzdem trank Erik tapfer weiter. Vielleicht würde ihm ja so schlecht werden, dass es als Ausrede galt, nicht in die Schule gehen zu müssen.
‚Du Vollidiot musstest mit dem Scheiß Berger ja vor der Nase rumwedeln!‘, meldete sich an diesem Morgen schließlich Eriks Vernunft. Wie immer zu spät und – auch das wie gehabt – nicht sonderlich hilfreich.
„Trottel“, wisperte Erik.
Wenigstens war seine Mutter nicht da. Die Aussicht sie in Kürze im Büro des Direktors zu treffen war nicht sonderlich erheiternd. Und dass Berger diese eklatante Entgleisung ebenso wie die vorherigen einfach ignorieren würde, darauf wagte Erik nicht mehr zu hoffen. Der Scheiß vom Vortag war vermutlich deutlicher als alles, was Erik Berger bisher vor den Latz geknallt hatte.
Trotzdem hatte es gestern für einen Sekundenbruchteil Sinn ergeben, dass er dem Blödmann diesen Wisch tatsächlich gab. Dieser winzig kleine Augenblick, in dem etwas in Erik danach verlangt hatte, dass er Berger zeigte, wer er wirklich war. Was in ihm vorging. Was er wollte. Angesichts der Tatsache, dass sie kurz vorher darüber gesprochen hatten, dass man sich ‚richtig verkaufen‘ sollte, erschien dieser Gedanke inzwischen reichlich dämlich.
Mit einem genervten Stöhnen ließ Erik den Kopf auf den Küchentisch fallen. Er sollte heute schwänzen – wenigstens Deutsch. Wenn er zur zweiten Stunde kam, würde das auch reichen. Verschlafen konnte schließlich jeder einmal. Und dass Erik die halbe Nacht kein Auge zugetan hatte, musste ja niemand erfahren.
Mit einem weiteren Seufzen drehte Erik den Kopf zur Seite und starrte auf die Uhr an der Wand der Küche. Fast halb sieben. Er saß inzwischen bald eine Stunde hier mit seinen verfluchten Gedanken, die am Ende weder Sinn ergaben, noch weiterhalfen.
‚Irgendwann musst du dich Berger stellen‘, mahnte ihn eine erstaunlich vernünftig klingende Stimme.
Vielleicht mochte Erik sie deshalb nicht. Selbst wenn sich diese Konfrontation nicht würde vermeiden lassen, konnte er sie zumindest hinauszögern. Dann würde sie wenigstens nicht vor der dem ganzen Kurs eintreten.
„Ach, du Scheiße“, quiekte Erik gequält und schloss die Augen. Wenn Berger den Mist vor dem gesamten Kurs ansprach, bekam Sandro davon Wind. Der Arsch würde ihn garantiert jeden Tag bis zu den Prüfungen damit quälen.
Erik sank in sich zusammen. Seit das neue Jahr angefangen hatte, war Schule nicht mehr so beschissen. Als ob der Jahreswechsel ebenso einen Wechsel für ihn selbst gebracht hatte. Sandro versuchte zwar weiterhin, zu provozieren – vor allem seit er nicht mehr mit Ines zusammen war. Aber Oliver und Luca hielten sich zurück. Zerfetzte Hausaufgaben hatte es keine weiteren gegeben und dämliche Kommentare sparte sich Sandro weitestgehend. Sah man von der einen oder anderen Entgleisung im Deutschunterricht ab.
‚Die hat Berger ja aber recht erfolgreich unterbunden.‘
Auch das hatte sich in der Tat geändert. Nachdenklich richtete Erik sich auf und starrte auf die Tischplatte. Vor ein paar Monaten war er sicher gewesen, dass er Berger hasste. Je weiter das Jahr voranschritt, desto schwieriger wurde es, dieses Gefühl aufrecht zu erhalten.
„Ich mag ihn trotzdem nicht“, flüsterte Erik trotzig.
Denn ausgerechnet einen Lehrer zu mögen war undenkbar. Zumal der so ein blödes Milchgesicht war. Und erst recht nicht, wenn er mit einem derart verführerischen Hinterteil ausgestattet war. Betreten fing Erik an, Kreise mit dem Zeigefinger auf den Tisch zu malen. Wie er es immer tat, wenn er unschlüssig war und nicht wusste, wohin mit allem, was in ihm brodelte.
‚Da knallst du den ganzen gestörten Mist lieber deinem Lehrer vor den Latz.‘
Erneut zuckte Erik zusammen bei dem Gedanken daran, was er geschrieben hatte. Aber auch wenn er es beinahe körperlich wehtat, es zuzugeben: Ja, vielleicht wollte Erik in fünf Jahren tatsächlich an einem Punkt sein, wo dieser Aufsatz wahr werden konnte.
Ganz offensichtlich nicht mit Berger. Und ob es Tom sein würde, war im Mindesten fraglich. Aber Erik wollte verflucht noch einmal jemanden haben, der zu ihm gehörte. Weil dieser Mann es so wollen würde und, genau wie er selbst, keinen wahnsinnig großen Freundeskreis brauchte. Keine Partys, Brettspielabende oder DVD-Orgien. Ganz zu schweigen von sonst irgendwelchen ‚Orgien‘. Jemandem, dem Erik ausreichen würde. Einen Menschen, dem er wichtig genug wäre, um an Platz eins zu stehen. Egal was, egal wann, egal wo.
‚Jemand, der dich liebt?‘ Erik senkte den Kopf und schloss die Augen. ‚Träum weiter.‘
✑
Zum ersten Mal seit über fünf Monaten war es bereits kurz vor Unterrichtsbeginn, als Erik das Klassenzimmer betrat. Egal wie oft diese angebliche Stimme der Vernunft ihm gesagt hatte, er sollte sich heute hier nicht blickenlassen, er musste herkommen. Weglaufen war nie Eriks Art gewesen. Und wenn er mit dieser verdammten Hausaufgabe gestern zu weit gegangen war, dann würde er damit klarkommen müssen.
Irgendwie.
Den Blick zum Lehrertisch sparte Erik sich. Okay, vielleicht hatte er Schiss davor, was er sehen würde. Entsprechend verhalten fiel sein gemurmeltes „Morgen“, aus.
„Ihnen ebenfalls einen guten Morgen, Herr Hoffmann“, gab Berger in einem Tonfall zurück, der Erik einen Schauer über den Rücken jagte.
Einen, der unter grundlegend abweichenden Umständen willkommen gewesen wäre. Definitiv einen, der Erik an jedem anderen Tag für den Rest der Stunde geistig beschäftigt hätte. Wenn auch nicht mit dem Unterrichtsstoff.
Heute tummelten sich da aber zu viele andere Sorgen. Deshalb setzte Erik sich schweigend auf seinen Platz und zog sich erst dort die Jacke aus. Nachdem die über dem Stuhl hing, klingelte es zum Unterrichtsbeginn.
Erik konnte hören, wie der Lehrerstuhl nach hinten geschoben wurde. Dieses quietschende Geräusch von Gummi auf ausgetretenem Linoleum. Kurz darauf waren es leise Schritte, als Berger vor die Tafel trat.
„Guten Morgen, meine Damen und Herren“, begrüßte der den Kurs und erntete mehrere gemurmelte Entgegnungen. So richtig wach schien heute keiner zu sein, wobei Erik sicher war, dass die alle andere Gründen hatten als er.
Das darauf folgende Schweigen von Seiten ihres Lehrers ließ nicht nur in Erik die Unruhe steigen. Als er vorsichtig nach vorn schielte, stand Berger unschlüssig vor der Tafel und fuhr sich eben durch die bis zu diesem Moment wie üblich ordentlich gekämmten schwarzen Haare. Dass die daraufhin zumindest an einer Seite reichlich wild und um so attraktiver abstanden, schien er nicht zu bemerken.
„Es ist mir etwas unangenehm“, setzte Berger mit einem Mal an und brachte damit Eriks Herz zum Stillstand.
‚Also doch‘, zuckte es ihm durch den Kopf.
Vorsorglich sah Erik zur Klassenzimmertür hinüber. Würde dort gleich jemand auftauchen, der ihn zum Direktor brachte? Oder direkt die Polizei. So schlimm war es im Grunde nicht gewesen. Oder?! Eriks erstes Machwerk hatte da deutlich mehr Potenzial gehabt. Ein Zittern lief durch seinen Körper, während er darum kämpfte die zu Fäusten geballten Hände unter dem Tisch zu halten.
„Eigentlich wollte Herr Darian selbst mit Ihnen darüber sprechen, aber ...“
‚Hä?‘ Irritiert sah Erik zu Berger, der weiterhin unschlüssig vor der Klasse stand und soeben tief Luft holte.
„Also Herr Darian ist offensichtlich letzte Nacht Vater geworden.“
Ein kurzer Jubel ging durch die Klasse, den Erik nicht einmal ansatzweise verstehen konnte. Okay, das Alien war raus. Dass Herr Darian das als Gabe Gottes interpretierte, war ja in Ansätzen nachvollziehbar. Was daran für ihn so toll sein sollte, verstand Erik jedoch nicht. Zumal der Nachwuchs seiner Erinnerung nach erst für den folgenden Monat angekündigt gewesen war. Berger hob bereits die Hände und versuchte, beschwichtigend auf den Rest des Kurses einzuwirken.
„Mir wurde gesagt, ich soll Ihnen versichern, dass er trotz der ... Terminverschiebung ... wie geplant den Unterricht im Abschlussjahrgang bis zu den Prüfungen fortsetzen wird“, rief Berger irgendwann, als die Ruhe von allein nicht einsetzte.
Das brachte ihm diesmal keinen Jubel, sondern vielmehr genervtes Seufzen. Etwas, das Erik noch weniger nachvollziehen konnte. Denn das Letzte, was er brauchte, war einen Lehrerwechsel kurz vor den Prüfungen.
„Allerdings hat er aufgrund der Umstände gebeten, einen Teil der Verantwortung als Stammkursleiter abgeben zu können.“
‚Na toll, und welches arme Schwein darf diesen Sauhaufen jetzt übernehmen?‘
„Da es derzeit einige krankheitsbedingte Ausfälle gibt ... Nun ja. Offenbar war die stellvertretende Direktorin, Frau Fink, der Meinung, dass ... ich Herrn Darian bei allem unterstützen soll, was er zeitlich aktuell nicht bewältigen kann“, beantwortete Berger auch schon die unausgesprochene Frage. Und erntete dafür weiteren Jubel – vor allem von der weiblichen Fraktion der Klasse.
„Für Sie wird sich nicht wirklich etwas ändern“, erklärte Berger hastig, was das anhaltende Geschnatter allerdings auch nicht wirklich abflauen ließ.
Er lief zum Lehrertisch zurück und hob von dort einen Zettel hoch, der nicht einmal von Eriks Platz in der vordersten Reihe aus zu erkennen war. Ein tiefes Luftholen, das erneut zu einem Herzstolper bei Erik führte.
Da fuhr Berger fort: „Leider ist die erste Aufgabe, die mir dabei zufällt eine, die etwas unangenehm ist.“
Erik riss die Augen auf. In seiner Brust hämmert es. Das aufkommende Gemurmel im Kurs vermischte sich mit dem anhaltenden Rauschen in Eriks Ohren. Ein ohrenbetäubender Lärm, durch den er nur eines ganz klar und deutlich hören konnte: Den Mistkerl in seinem Kopf, der Erik sagte, wie sehr er gerade am Arsch war.
„Augenscheinlich gab es Probleme mit der Buchung für Ihre Abschlussfahrt.“
Erik runzelte die Stirn. Irgendwie klang das nicht nach etwas, das er verbockt haben könnte.
„Ein geradezu lächerlicher Fehler des Reisebüros“, fuhr Berger mit einem reichlich humorlosen Lachen fort, während er abwechselnd zwischen dem Zettel in der Hand und dem Kurs vor ihm hin und her blickte. „Scheinbar wurde statt der Woche Ende März, vom Reisebüro die Fahrt für Ende April gebucht. Und da das mitten in Ihren Prüfungen liegt ...“
„Was heißt das?“, fragte jemand von weiter hinten.
„Können wir etwa nicht fahren?!“
„Was ist mit unserer Anzahlung?“
„Scheiß auf das Geld, was ist mit der Fahrt?!“
„Beruhigen Sie sich!“, rief Berger, als die Rufe lauter und eindringlicher wurden. „Ihre Abschlussfahrt wird stattfinden.“
Allgemeine Erleichterung breitete sich aus, der sich nicht einmal Erik verschließen konnte. Obwohl er sich nicht immer sicher war, warum er unbedingt mitfahren wollte, änderte das nichts daran, dass Erik diese Fahrt auf keinen Fall mehr verpassen wollte. Erst Recht nicht, nachdem er so viel Zeit investiert hatte, um das Geld dafür zusammen zu bekommen.
„Natürlich nicht während der Prüfungszeit, das ist klar“, erklärte Berger weiter. Allmählich schien der Kerl sich wieder im Griff zu haben, wirkte zwar weniger unsicher, aber immer noch so, als hätte ihn diese Verschiebung ebenso kalt erwischt. Blieb allerdings die Frage, was genau das für ein Problem sein sollte.
Mit einem gequälten Lächeln winkte Berger erneut ab: „Die geplante Unterkunft konnte zwar Ausweichtermine zur Verfügung stellen, allerdings gab es nur einen, der nicht mit Ihren Prüfungsterminen kollidiert“, erklärte Berger mit überraschend ruhiger Stimme.
Der Kurs schwieg, während Erik immer deutlicher das Gefühl hatte, als würde ihm die Antwort auf diese unausgesprochene Frage erst recht nicht gefallen.
Noch einmal atmete Berger tief ein und hob entschuldigend die Schultern: „Die Fahrt findet jetzt in der Woche vor der Zeugnisübergabe statt. Ende Juli.“
„Das versaut mir die ganze Sommerplanung!“
„Da will ich schon mit meinem Vater ans Mittelmeer zum Segeln!“
„Da sind die Prüfungen doch längst vorbei!“
Mit einem auf Erik reichlich verzweifelt wirkenden Lächeln, versuchte Berger erneut den Kurs zu beschwichtigen: „Dann ist es für Sie ja in der Tat ein ‚Abschluss‘, nach dem Abitur.“
„Das können die doch nicht machen!“
Diesmal zuckte Berger lediglich mit den Schultern: „Die Alternative ist überhaupt nicht zu fahren.“
Eigentlich hatte Erik mit einem weiteren Ausbruch an Zwischenrufen gerechnet, aber zu seiner – und scheinbar auch Bergers – Überraschung, herrschte für sicherlich zwei Minuten im Raum eisiges Schweigen.
Eines, das erst von einem Räuspern ihres Lehrers unterbrochen wurde. „Es ... gibt in diesem Zusammenhang noch eine Änderung.“
Damit war das Schweigen dann doch unterbrochen. Einsprüche sparte man sich allerdings. Dafür war aus allen Reihen genervtes Stöhnen zu hören. So hatte sich vermutlich niemand ihre Abschlussfahrt vorgestellt. Selbst Erik fand es allmählich lächerlich, wie viel bei der Planung so einer dämlichen Fahrt scheinbar schiefgehen konnte.
„Da Frau Less im fraglichen Zeitraum bereits für eine Projektwoche ihrer zehnten Klasse verplant ist, wird Frau Hirvi sie vertreten.“
Erik zog die Augenbrauen hoch und war damit sicherlich nicht der Einzige im Kurs. Mal abgesehen davon, dass die Frau erst Anfang dreißig sein dürfte, unterrichtete sie nicht grundlos nur in der Unterstufe – und das auch noch Kunst.
Es dauerte nicht lange, bis allen anderen, genau wie Erik, klar wurde, dass diese weitere Änderung dazu führte, dass ihr Kurs somit von drei Leuten begleitet werden würde, die alle noch jung und nach aktuellem Gerüchtestand zumindest nicht verheiratet waren. Denn Frau Farin, die dritte vorgesehene Begleitung, dürfte ebenso erst Anfang dreißig sein.
‚Das kann ja heiter werden ...‘
Die Diskussion darüber, was die Verschiebung – abgesehen von der Personaländerung – für sie alle bedeutete, ignorierte Erik wohlweislich. Genau wie Berger. Der stand zwar gezwungen lächelnd vor dem Kurs, schien mit der Situation nicht glücklicher zu sein, als die meisten der Anwesenden. Etwas verwundert runzelte Erik die Stirn.
‚Das bildest du dir nur ein‘, versuchte er sich einzureden, aber je länger er Berger ansah, desto sicherer war Erik sich, dass sein Lehrer reichlich unglücklich über diese Nachricht zu sein schien. ‚Warum?‘
„Jetzt haltet doch mal den Mund!“, fuhr irgendwann eines der Mädchen aus der Planungstruppe für die Abschlussfahrt dazwischen und verschaffte sich somit Gehör. „Wir fahren ans Meer, Leute. Da ist Ende Juli garantiert deutlich schöneres Wetter als im März.“
Schlagartig veränderte sich die Stimmung im Kurs zum Besseren als die ersten Jubelrufe über Sonne, Strand und die erhoffte Freizügigkeit der französischen Damenwelt ertönten. Hätten Eriks Augen nicht weiterhin geradezu an Berger geklebt, wäre das kurze Zucken, das durch dessen Körper lief ihm womöglich entkommen. So fragte Erik sich lediglich erneut, warum der Kerl derart unglücklich über die Verschiebung zu sein schien.
‚Der Blödmann sollte sich doch eigentlich freuen, dass er all die netten jungen Mädels in der Klasse endlich mal im Badeanzug sehen wird. Die werden an ihm hängen wie die Kletten.‘
Von Freude war bei Berger allerdings wenig zu entdecken. Auch nicht, als der den Zettel zurück auf den Lehrertisch legte und stattdessen die Diskussion im Kurs für einige weitere Minuten weiterlaufen ließ. Erik selbst war sich nicht sicher, was er von der Verlegung der Fahrt halten sollte. Im Grunde war es egal, wann sie fuhren. Das Argument mit der Sonne, dem Strand und den Badehosen konnte Erik allerdings nachvollziehen. Primär den letzten Teil. Vor allem, da ein gewisser Körperteil von ihm den Kerl da vorn gern endlich ohne das gebügelte Hemd sehen wollte.
„Sind wir mit Ende Juli nicht mitten in der Urlaubssaison?“, fragte es mit einem Mal leise von links und schreckte damit auch Erik auf. Schlagartig verstummte die Diskussion und alle sahen zu Hanna hinüber. Deren Augen zuckten nervös hin und her, nur um schlussendlich erneut auf Berger zu landen. „Was ... heißt das denn für die Kosten?“
„Keine Sorge“, gab der mit einem beruhigenden Lächeln zurück. „Das Reisebüro hat versichert, dass die Kosten sich durch die Verschiebung nicht ändern werden.“
Erleichtert atmete nicht nur Erik auf.
„Ich denke, wir haben dieses Thema jetzt endlich geklärt“, meinte Berger rasch, als das Geplapper erneut einsetzte. „Ich möchte deshalb dann mit dem Unterricht fortfahren.“
Der Vorsatz gestaltete sich jedoch schwierig. Konzentrieren konnten sich offenbar die wenigsten. Und auch Erik hatte damit so seine Probleme. Allerdings aus anderen Gründen als der Rest des Kurses. Jedenfalls nahm Erik an, dass abgesehen von Hanna kaum jemand hier damit zu kämpfen hatte, das Bild ihres mit knapper Badehose bekleideten, Deutschlehrers aus dem Kopf zu bekommen. Daran hätte sich vermutlich nur etwas geändert, wenn Berger sich in der nachfolgenden Stunde, anstatt über irgendwelchen Selbstdarstellungsmist zu reden, direkt hier die Hüllen fallen gelassen hätte.
‚Konzentrier dich auf den Unterricht!‘, versuchte Erik sich immer wieder zu ermahnen. Der Erfolg war mäßig. Immerhin schaffte er es, sich innerhalb dieser Stunde nicht völlig in seiner Fantasie zu verlieren. Das Zurechtrücken seines Schritts fiel hoffentlich niemandem auf.
„In diesem Zusammenhang war es im Übrigen äußerst interessant zu lesen, wie unterschiedlich Sie Ihre persönliche Entwicklung innerhalb der nächsten fünf Jahre betrachten“, sagte Berger irgendwann gegen Ende der Stunde und riss Erik damit endlich grausam zurück in die Gegenwart.
‚Scheiße!‘, zuckte es durch seinen Kopf, während Erik Berger mit seinem Blick folgte, wie der zum Lehrertisch trat und einen Stapel Hausarbeiten von dort holte. Zwischen der Abschlussfahrt und dem dazugehörigen Kopfkino hatte Erik daran nicht mehr gedacht.
Ein kurzer Blick auf die Uhr an der Wand versicherte ihm jedoch, dass die Stunde quasi vorbei war. Und als Berger anfing, durch die Reihen zu gehen und die Hausaufgaben weitestgehend kommentarlos zu verteilen, blieb Eriks Hoffnung weiter erhalten. Darauf, dass er auch diesmal wieder durch die reichlich unverdiente Gnade seines Lehrers vor dem Rauswurf bewahrt werden würde. Immerhin war Erik heute bisher nicht zum Direktor zitiert worden.
Es klingelte, noch während Berger die Zettel verteilte. Der ließ sich davon nicht beirren und machte im gleichen Tempo weiter. Wer seine Hausarbeit bekam, schob sie nach einem kurzen Blick wortlos in den eigenen Rucksack und verschwand postwendend aus dem Klassenzimmer.
Erik war der Letzte, der – unruhig zappelnd – auf seinem Platz saß, als Berger vor ihn trat und ihm ebenso wortlos wie bei den anderen die Hausaufgabe reichte. Erik schlug das Herz bis zum Hals. Aber Berger stand schweigend vor ihm, während die verbliebenen Mitschüler den Raum verließen.
‚Warum sagt der Kerl nichts?!‘
Erst als Berger schließlich vom Tisch wegtrat – wohlgemerkt weiterhin, ohne etwas gesagt zu haben – wagte Erik es, durchzuatmen. Als er den Blick senkte, fiel ihm sofort die rote Zahl oben rechts in der Ecke auf.
„Eine Drei?!“, rutschte ihm überrascht, um nicht zu sagen entsetzt heraus.
‚Schon wieder?‘, bemerkte zeitgleich eine Stimme in Eriks Kopf. Eben den hob er gerade rechtzeitig, um das kurze Grinsen von Bergers Gesicht verschwinden zu sehen. ‚Der Mistkerl macht sich über dich lustig!‘
Erik wollte gerade zu einer giftigen Bemerkung ansetzen, als er mit einem Mal innehielt. Berger hatte ihn auch diesmal nicht verpfiffen. Dabei wäre das genauso gerechtfertigt, wie bei den Arbeiten zuvor. Er sollte mit der blöden Drei zufrieden sein. Betreten sank Erik in sich zusammen, während er erneut auf die Note der Hausaufgabe starrte.
Das Brodeln im Bauch wurde trotzdem stärker. Erik konnte es nicht einfach ruhen lassen, weil Berger den Mist erneut als Nichtigkeit abtat, anstatt darauf zu reagieren. Egal wie. Hauptsache, der Blödmann würde aufhören, ihn zu ignorieren!
„Goethe und Schiller?“, murmelte Erik verhalten.
Er hörte, wie die Klassenzimmertür geschlossen wurde. Anstatt sie hinter sich zu schließen und ihn wortlos zurückzulassen, stand Berger allerdings mit einem Mal vor Erik. Den Rucksack über der Schulter – im Grunde bereit zu verschwinden. Und trotzdem tat Berger es nicht. Stattdessen lächelte er sogar. Dieses verschissene ehrliche Lächeln, das Erik nicht sehen wollte, weil es das Flattern in seinen Bauch brachte. Eben jenes Kribbeln, was da nichts zu suchen hatte, bei dem Gedanken an einen verdammten Lehrer! Also wandte Erik sich ab und sah zurück auf das Blatt in seiner Hand.
„Nein“, meinte Berger. Für einen Moment glaubte Erik, ein kurzes Lachen in dessen Stimme zu hören. „Um ehrlich zu sein, hat sich Ihr Sprachstil überraschend eindeutig weiterentwickelt. Ihre war eine von sehr wenigen Arbeiten, die auch tatsächlich als Kurzgeschichte bezeichnet werden können. Grammatik und Rechtschreibung waren nahezu fehlerfrei. Sie zeigen immer deutlicher ein gewisses Maß an ... Talent, was Sprache angeht.“ Eine kurze Pause, bevor Berger mit einem garantiert nicht eingebildeten Lachen fortfuhr: „Man konnte Ihre Schrift sogar bis zum Ende entziffern.“
Eriks Hand zitterte leicht, als er weiterhin auf die Arbeit starrte. In seinem Inneren brodelte es. Gern hätte er sich eingeredet, dass Berger sich über ihn lustig machte, aber der klang nicht danach. Vielmehr schien er ehrlich amüsiert zu sein. Was die Situation zugegeben nicht besser machte.
„Warum dann die Drei?“, presste Erik heraus.
Berger schwieg, blieb jedoch stehen. Vorsichtig linste Erik erneut nach oben, fuhr allerdings sofort zusammen, als er weiterhin auf ein Lächeln traf.
„Sie haben die Aufgabenstellung verfehlt.“
„Was? Warum?“
Für einen Sekundenbruchteil wurde das Lächeln zu einem Grinsen. Da waren jedoch vor der Tür Stimmen der nachfolgenden Klasse zu hören und somit verschwand es augenblicklich.
Stattdessen zuckte Berger mit den Schultern und deutete mit einem Finger auf Eriks Hausaufgabe. „Sie sollten sich selbst in fünf Jahren darstellen. Sie beschreiben da aber primär ... jemand anderen.“
Berger wandte sich ab und schritt auf die Tür zu. Anstatt zu verschwinden, drehte er sich allerdings erneut zu Erik herum. Der konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie Berger sich gedankenverloren durch die Haare fuhr.
„Haben Sie vor, das Schreiben zu Ihrem Beruf zu machen?“, fragte er plötzlich.
‚Pornodrehbücher oder was?‘, Erik musste sich auf die Zunge beißen, um keinen blöden Kommentar abzulassen, was er von dieser Idee hielt. Stattdessen sah er Berger lediglich ungläubig an.
„Ihr Stil, Ihr ganzes Schreiben hat sich so merklich verbessert. Bei Ihrem offensichtlichen Desinteresse an meinem Unterricht nehme ich an, dass es dafür andere Gründe gibt. Die Uni hier hat einen sehr bekannten medienwissenschaftlichen und journalistischen Zweig“, fuhr Berger unbeeindruckt fort. „Dort wäre Ihre Begabung nicht völlig verschwendet.“
Verwundert, und mit einer Spur Schamesröte im Gesicht, runzelte Erik die Stirn. In diese Richtung hatte er bisher nie gedacht. Die Eignungstests, die er in den letzten Wochen und Monaten gemacht hatte, waren im Fokus stets eher auf das Mathematische bezogen gewesen.
„Sie sind noch jung, Erik“, meinte Berger plötzlich und riss damit wieder seine Aufmerksamkeit auf sich. „Sollten sich Ihre Entscheidungen – egal in welchem Bereich – als falsch herausstellen, lassen sie sich stets revidieren. Sie müssen nur gewillt sein, ihren gewählten Weg zu hinterfragen.“
Bevor Erik dazu kam, erneut nachzuhaken, klopfte es an der Tür und ein Schüler der nachfolgenden Klasse steckte kurz darauf den Kopf herein: „Sind Sie fertig, Herr Berger?“
Dessen Mundwinkel zuckte, er bewegte sich jedoch nicht weiter in Richtung Tür. „Sind wir fertig, Erik?“ Er schwieg, wusste nicht, was er sagen wollte – oder sollte. Berger nahm das als Zustimmung und verschwand.
„Was ist jetzt?“, fragte irgend so ein Stöpsel, kurz darauf genervt, als Erik sich weiterhin nicht bewegte, während der Klassenraum sich für die nächste Stunde füllte.
Wie in Trance stopfte Erik die Blätter der Hausaufgabe in den Rucksack und trat aus dem Klassenzimmer. Seine Schritte führten ihn automatisch zum nächsten Kurs. Er erreichte diesen vor dem Stundenklingeln. Weißes Rauschen verdrängte jeden klaren Gedanken aus Eriks Kopf. Zumindest reichte es, um die Stimmen, die sich sonst dort herumtrieben, verstummen zu lassen. Und während er nicht einmal versuchte, den Ausführungen der Lehrerin zu folgen, formte sich immer stärker eine neue Frage in Eriks Kopf.
Hatte Berger ihn eben ernsthaft für diesen Schweinkram als ‚talentiert‘ gelobt?