16 – Herausforderung und Einladung
Zwei Wochen waren seit der Prügelei mit Sandro vergangen. Als Erik am Tag danach von Toms Wohnung aus in die Schule gefahren war, hatte er finstere Blicke vom Affenkönig und dessen Schergen geerntet. Allerdings hatte Erik wohl genug Eindruck hinterlassen, dass sie es nicht gewagt hatten, ihn sofort wieder herauszufordern.
‚Zumindest nicht körperlich.‘
Abgesehen davon, dass Sandros blaues Auge dem gezeigt hatte, dass er sich besser nicht auf eine Schlägerei mit Erik einließ, hatte es an der Situation allerdings bis heute nicht wirklich etwas geändert. Im Sportunterricht nach der Prügelei hatte ihr Lehrer sowohl Erik als auch Sandro kritisch angesehen und hinterher beiseitegezogen gehabt.
Was kam, war nicht etwa die Frage danach, was passiert gewesen war, sondern ein recht ruppiger Vortrag darüber, dass sie als Abiturienten gefälligst genug Verstand aufbringen sollten, sich an die Schulregeln zu halten. Und ganz vorn auf der List stand das ‚Keine Gewalt Konzept‘.
Dass sich Sandro deshalb nicht an ihm gerächt hatte, war ein netter Gedanke. Den Erik jedoch ziemlich rasch beiseiteschob. Wenn das den Affenkönig bisher nicht abgehalten hatte, dann tat das die Standpauke ihres Sportlehrers ganz sicher ebenso wenig.
Was es gewesen sein mochte, spielte am Ende sowieso keine Rolle. Sandro war weiterhin ein Arsch. Selbst wenn der Blödmann inzwischen Eriks Hausaufgaben in Ruhe ließ, fand der Mistkerl trotzdem ständig etwas, womit er Erik reizen konnte. Am Ende des Tages würden sie schlicht keine Freunde mehr werden.
‚Wen schert’s?‘
Erik schnaubte unhörbar und starrte wie in Trance auf den wie so oft vor der Tafel hin und her dackelnden Hintern seines Deutschlehrers. Dass der Anblick Dinge in gewissen Regionen von Eriks Körper auslöste, auf die der lieber verzichtet hätte, war inzwischen fast Gewohnheit geworden. Keine Deutschstunde, ohne dass da nicht wenigstens ein Kribbeln einsetzen würde – meistens deutlich mehr. Da konnte der Mistkerl dort vorne ihn noch so unterkühlt ansehen, Eriks Schwanz war das offenbar egal.
‚Nicht nur dem‘, flüsterte bereits, die gleiche beschissene Stimme, die Erik schon so oft über den Rand der Vernunft gestoßen hatte.
Erik unterdrückte das Stöhnen und sah statt zu Berger, auf seinen Block hinunter. Strahlendes Weiß, mit hellblauen Kästchen, verhöhnte ihn, da Erik es wie so oft nicht für nötig befunden hatte, irgendetwas mitzuschreiben. Warum auch? Diesen Pornoscheiß, den Berger weiterhin unter dem Deckmantel der Gedichtinterpretation ausgrub, brauchte Erik nicht zusätzlich aufs Papier zu bannen. Der war unauslöschlich in seine Retina eingebrannt.
Ganz ehrlich? Für die Art von Bildern, die der Sermon beschrieb, musste Erik nur die Augen schließen. Da war der Mist sofort da. In Farbe. Und neuerdings mit Ton. Erik biss die Zähne zusammen und versuchte gegen das einsetzende Pulsieren im Schritt anzukämpfen.
Trotzdem riskierte er einen weiteren Seitenblick Richtung Tafel, nur um festzustellen, dass der Mistkerl sich inzwischen umgedreht hatte. Nicht zum ersten Mal fragte die hinterhältige Stimme in Eriks Kopf lautstark, was sich wohl unter der so verflucht gut sitzenden Jeans verbergen mochte. Wütend über sich selbst senkte er prompt erneut den Blick.
‚Nicht darüber nachdenken!‘, ermahnte Erik sich immer wieder.
Mit dem üblichen Erfolg – nämlich gar keinem. Selbst der Versuch, die Bilder, gegen welche von Tom auszutauschen, scheiterte – mal wieder. Jedenfalls kam das immer häufiger vor. Egal wie sehr Erik sich bemühte, Ablenkung zu finden, es wurde zunehmend schwerer. Denn im Lichte des Tages war Tom nun einmal nicht Berger. Egal wie ähnlich die sich von hinten auf den ersten Blick gesehen hatten. Dem zweiten hielt der Vergleich nicht einmal ansatzweise stand.
‚Du willst ja auch nichts von dem Idioten da vorn, sondern von Tom!‘, ermahnte Erik sich.
Selbst wenn Berger kein beschissener Mistkerl wäre, würde er dem Blödmann ganz sicher nicht wie eines von den dämlichen Mädchen hinterherhecheln!
‚So toll sieht er nun auch wieder nicht aus!‘
„Bitte überlegen Sie noch einmal“, meinte Berger gerade. Und schaffte es damit, überraschenderweise den Nebel in Eriks Hirn zu durchdringen. „Worum genau geht es in diesen Zeilen aus Brechts ‚Drittem Sonett‘?“ Während in der Klasse verhaltenes Gemurmel hochkam, versuchte Erik geradezu verzweifelt nicht an die Tafel zu starren. „Oliver?“
Aus der hintersten Reihe kam betretenes Schweigen. Erik konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Immerhin hatte es diesmal nicht ihn getroffen. Allein bei dem Gedanken daran, was der Mistkerl von Lehrer an die Tafel geschrieben hatte, wurde Erik erneut ganz anders. Dabei war es heute nicht einmal sonderlich deutlich. In den letzten Wochen waren da wesentlich heftigere Bilder ausgelöst worden.
„Ich bitte Sie!“, fuhr Berger fort und Erik hätte schwören können, dass da ein fettes Grinsen in der Stimme von dem Blödmann lag.
Verstohlen wagte Erik nun doch einen scheuen Blick nach oben, aber Berger war bereits weitergegangen, stand jetzt vor Hannas Tisch, die mindestens ebenso verzweifelt auf ihr Blatt starrte, wie Erik es getan hatte.
Ein weiteres Grinsen huschte über seine Lippen, als ihm einmal mehr bewusst wurde, dass es wenigstens nicht nur ihm so mit dem Mistkerl ging. Wobei Berger stets nur Erik böse anblickte, während er Weibern wie Hanna ein Lächeln schenkte. So wie jetzt gerade.
‚Scheißkerl!‘
In dem Moment trat ebendieser einen Schritt zurück und deutete auf die Tafel. „Erik?“, versuchte Berger es nun bei ihm. Sofort zuckte er zusammen. „Strengen Sie sich bitte an! Sie alle. Was ist Thema dieses Sonetts?“
Mit einem Auge schielte Erik zur Tafel. Die Worte flimmerten vor seinem Geist vorbei, als wollten sie ihn verhöhnen. Schon verwandelten sie sich in das peinliche dauergeile Kribbeln im Schritt, als das Blut Erik pochend nach unten sackte und so wenigstens nicht seine Wangen färben konnte.
„Ficken ...“, presste Erik schließlich heraus und erntete dafür ein Feixen und Kichern, das durch die ganze Klasse wanderte.
Mit einem Schlag saß Erik doch mit hochrotem Kopf da und starrte sofort wieder auf das viel zu leere Blatt vor ihm. Innerlich verfluchte er den Mistkerl von Lehrer zum sicherlich tausendsten Mal dafür, dass Berger ihnen das hier antat. Gelobt seien Montage, da hatten sie ein Deutsch.
‚Er tut den Mist hier nur dir an!‘, wisperte der Verräter in Eriks Kopf und er konnte nicht anders, als aus dem Augenwinkel zu Berger zu schielen. Nur zu gern würde Erik den Kerl spüren lassen, wie es war, wenn man sich derartig vorgeführt fühlte. ‚Oder wie sich ganz andere Sachen anfühlen ...‘
„Da haben Sie einen durchaus sehr passendenden Reim auf ‚schicken‘ für den unvollendeten letzten Satz gefunden, Erik“, gab Berger mit einem überraschend unverhohlenen Schmunzeln zu. „Mich interessiert aber, worum es inhaltlich geht.“
‚Was?‘
Erik schluckte, als sich die ersten ganz anderen Bilder wieder vor sein inneres Auge schoben. Hände, die über dieses verfluchte Hemd wanderten, langsam Knopf für Knopf öffneten, um die helle Haut freizulegen. Berger hatte schwarze Haare. Ob sich da ebenso welche auf der Brust finden würde? Wenn man von dem offenbar nicht vorhandenen Bartwuchs ausging wohl eher nicht. Also wäre da nur nackte Haut. Nicht samtig weich, sondern hart und fest. Denn der Kerl hatte garantiert kein Gramm Fett zu viel irgendwo an diesem für einen Lehrer so unverschämt gut aussehenden Körper.
Eriks Atem beschleunigte sich, als er im Geist die Hände weiter wandern sah, hinunter zum Hosenbund. Hatte die Hose einen Reißverschluss oder Knöpfe? Er wagte nicht, so genau hinzusehen. Aber Eriks Finger würde es schon herausfinden, sich hinter den Stoff der Jeans schieben, wo sich ihnen bereits ihr rosiges Ziel verlangend entgegenstreckte.
Hastig wandte Erik sich ab und starrte nach unten auf den Block. Mit zusammengekniffenen Beinen kämpfte er gegen das heftige Pochen in Brustkorb und Schritt. Damit war jede zur Antwort benötigte Hirnzelle anderweitig beschäftigt. Dunkel nahm Erik im Hintergrund wahr, wie jemand aus der Klasse meinte, dass es halt um Sex in dem Gedicht gehen würde.
Kaum war das Wort in Eriks Kopf, sah er wie sich die Hand nach der Jeans, nun in eine so verflucht eng anliegende Unterhose schob. Und ja, er war sich sicher, dass Berger keine locker sitzenden Boxershorts trug – das würde sich in der engen Jeans abzeichnen. Eriks Blick wurde glasig, als er sich zwang, weiter auf den Block und nicht schon wieder zu den Knöpfen an Bergers Hemd zu sehen.
Was würde Erik wohl noch alles hinter dieser gepflegten Außenfassade finden? Der Mistkerl war definitiv schlank und deutlich weniger muskulös als Erik selbst, aber Berger machte nicht den Eindruck, als wäre er schwach.
Es war so beschissen schwer nicht zu schauen, deshalb lagen Eriks Augen kurz darauf schon wieder auf dem verfluchten Hemd. Leider gab eben das nie wirklich etwas Preis von dem, was Erik sehen und wissen wollte. Ein T-Shirt würde deutlich enger anliegen, daran könnte man erkennen, wie kräftig Bergers Oberkörper tatsächlich war. Und eine Einschätzung des Gegners war essenziell.
Mit zunehmend schnellerem Atem zuckten Eriks Augen an der Knopfreihe entlang. Wie ein Flummi sprangen sie dabei automatisch nach oben, kaum dass sie den Hosenbund der verfluchten Jeans erreichten.
‚Hör auf zu starren!‘, ermahnt Erik sich, während er gleichzeitig die zunehmend genervte Stimme Bergers wahrnahm.
„Mir ist durchaus bewusst, dass insbesondere bei den Herren unter Ihnen die pubertären Hormone ... nachwirken. Aber Sie sind keine Kinder mehr. Sehen Sie sich die Zeilen genau an und denken Sie bitte mit dem Kopf auf Ihren Schultern. Hanna?“
Wie zuvor bekam Berger nur ein Schweigen als Antwort. Ein kurzer Seitenblick zeigte Erik, dass es eben jener Hanna weiterhin genauso ging, wie ihm selbst. Mit hochrotem jedoch gesenktem Kopf saß sie da und starrte auf ihren Block.
‚Konzentrier dich! Oder willst du genauso jämmerlich sein, wie die?!‘
Genervt davon, dass er sich selbst nicht unter Kontrolle hatte, sah Erik erneut zur Tafel. Sein Blick wanderte über die Worte und ehe er sich versah, sagte er: „Sie ... reden nur darüber.“
Schweigen.
Irritiert blinzelte Erik bevor er einen geradezu schüchternen Blick zu Berger wagte. Als er das Blitzen in den grünen Augen entdeckte, sah Erik hastig wieder auf den blöden Schreibblock. Trotzdem war ihm das zufriedene Lächeln auf diesen verfluchten Lippen nicht entgangen.
„Sehr gut, Erik.“
Etwas flatterte in seinem Bauch. Ein Gefühl, dass er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Aber es breitete sich in Erik aus, wie ein Lauffeuer und brachte sein Herz erneut zum Rasen. Dieses Kribbeln in der Brust, das sich langsam im ganzen Körper ausbreitete. Wie eine Welle, die von innen aus ihm heraus nach außen schwappte, bis sie ihn förmlich unter sich zu begraben schien.
‚Das Wort, das du suchst, ist Stolz ...‘, tönte die zunehmend verhasste Stimme. Erik spürte, wie seine Ohren anfingen zu brennen.
Ganz sicher war er nicht ‚stolz‘ drauf, dass dieser Mistkerl von Lehrer ihn gelobt hatte! Und erst recht ging es Erik am Allerwertesten vorbei, dass der Fatzke ausnahmsweise einmal zufrieden mit ihm war! Was scherte ihn dieser Blödmann? Berger war nur ein verdammter Lehrer! Ein Scheißkerl, der nie nett zu ihm war. Folglich, auch jetzt nicht!
„Erik hat recht“, meinte besagtes Arschloch jedoch in diesem Moment und ließ Erik damit erneut zusammenzucken.
Eine zweite Welle schlug über ihn herein. Egal, wie sehr Erik versuchte, sich dagegen zu wehren, es fühlte sich so beschissenen gut an, dass jeder Widerstand darunter förmlich in sich zusammenkrachte.
„Brecht schreibt in diesem Gedicht weder über Geschlechtsverkehr als solchen, noch den Vollzug des Aktes. Es geht darum, wie – und folglich auch ob – man darüber spricht.“
Der Kurs schwieg – was in den letzten Wochen öfter vorgekommen war, als man gemeinhin annehmen mochte. Aber im Moment wirkte es geradezu unheimlich. Als Erik zu Berger schielte, wandte der sich ab und ließ den Blick über die Klasse schweifen. Da war eine Zufriedenheit in seinem Ausdruck, die man dort nur selten sah.
Entgegen jeder Vernunft gefiel Erik der Anblick sogar. Und das machte es umso schlimmer. Er wollte nicht, dass Berger zufrieden war. Seit über drei beschissenen Monaten musst Erik diesen Mistkerl, dessen dämliche Pornopoesie und die Ignoranz gegenüber Sandro und den Affen ertragen. Ganz sicher würde Erik nicht auch noch ‚stolz‘ drauf sein, wenn Berger mit ihm zufrieden war!
Und trotzdem fühlte Erik genau das. Der Blödmann hatte ihn sogar angelächelt. Nicht dieses höfliche, mitunter aufgesetzt wirkende Lächeln, das Berger den Weibern schenkte. Nein, das hier war echt gewesen. Und es hatte Erik gegolten.
Mit einem Blick auf die Uhr trat Berger einen Schritt zurück. „Ich möchte, dass Sie darüber nachdenken, was das für ein Gespräch sein könnte, auf das Brecht sich bezieht.“
Schon meldeten sich zaghaft die ersten Schülerinnen – und ja, es waren ausschließlich die Damen, wie Erik dank eines kurzen Blicks über die Schulter mitbekam. Als er zu Berger sah, war der zufriedene Ausdruck verschwunden und war der gleichen Emotionslosigkeit gewichen, die ihn täglich anzustarren schien.
Erik runzelte die Stirn und sah wieder auf den unbeschriebenen Block vor ihm. Es sollte einfacher sein, Berger zu hassen. Je weiter das Schuljahr voranschritt, desto schwerer fiel es Erik, allerdings eben das zu tun. Dabei war Berger weiterhin ein Arschloch. Aber im Moment war es nicht sein Lehrer oder der Unterrichtsstoff, die Erik irritierten, sondern die Tatsache, dass ein lächerliches Lob von dem Blödmann ihm für einen Augenblick etwas bedeutet hatte.
‚Hat es nicht!‘, versuchte Erik sich einzureden. Der Erfolg war jedoch im Mindesten zweifelhaft.
„Sie können die Hände runternehmen“, fuhr Berger derweil unbeirrt fort und riss Erik damit wieder aus den Gedanken. „Ich möchte, dass Sie alle sich bis morgen diese Zeilen genau ansehen. Verfassen Sie ein Gespräch zwischen zwei beliebigen Personen, das Brecht dazu hätte bewegen können, dieses Sonett zu schreiben.“
Ein kollektives Stöhnen ging durch die Klasse, dem Erik sich nur zu gern angeschlossen hätte. „Wie lang muss das denn sein?“, fragte einer der anderen Jungen genervt.
„Es gibt kein Minimum“, erklärte Berger mit einem kurzen Lachen, das sogar Erik wieder aufblicken ließ. Genau in dem Moment verwandelte das Lächeln zu einem Grinsen. „Sie müssen sich nicht unbedingt über tausend Worte auslassen. Aber wenn Sie darauf bestehen, werde ich auch das lesen.“
Diese beschissenen grünen Augen, die sich auf Erik legten, fachten nicht die Wut in ihm wieder an, sondern etwas anderes, das er sich sicher nicht eingestehen würde. Schlagartig war die Unsicherheit verraucht, jede Sympathie, die sich für diesen Blödmann in Erik geregt haben mochte, von einer Sekunde auf die andere verschwunden.
‚Der Mistkerl fordert dich heraus!‘, tönte es in Eriks Kopf. ‚Das wird er bereuen!‘
✑
Am späten Nachmittag gärte es weiter in Erik. Zwar hatte sich die Wut in den restlichen Stunden des Tages weitestgehend gelegt, ganz verschwunden war sie jedoch nicht. Mochte aber womöglich daran liegen, dass Berger mit dieser beschissenen Hausaufgabe voll ins Schwarze getroffen hatte. Noch dazu hatte Herr Darian verkündet, dass er bis zum Ende der nächsten Woche die Anmeldungen für die Klassenfahrt brauchte.
Grummelnd schob Erik sich einen weiteren Löffel Erbensuppe in den Mund. Seit Tagen gab es nichts als Suppe, weil seine Mutter für das Weihnachtsessen sparte. Wie sollte Erik ihr da verklickern, dass er auf Klassenfahrt fahren wollte? So ganz ohne ihre finanzielle Hilfe würde das garantiert nicht gehen. Und wie Erik seine Mutter kannte, würde die sich lieber den Arm abschneiden, als irgendwelche Almosen anzunehmen, indem sie Gelder bei der Schule oder irgendeinem Amt dafür beantragte.
Nicht zum ersten Mal fragte Erik sich, ob er diesen ‚Plan‘ für die Abschlussfahrt durchziehen wollte. Hatte das überhaupt jemals einen Sinn gemacht? Mal abgesehen von den finanziellen Aspekten. Als Erik den Entschluss gefasst hatte, mit den anderen diese beschissene Fahrt anzutreten, hatte er geglaubt, dass es die Gelegenheit sein würde. Eine Chance, Berger zu zeigen, wie es war, wenn man jemandem komplett ausgeliefert war.
Körperlich, geistig, beruflich. Bergers Schicksal in seiner Hand. Der Gedanke war so verführerisch, dass er kribbelnd durch Eriks Schritt wanderte.
Kaum wurde ihm diese Tatsache bewusst, verwandelte sich das Kribbeln jedoch in ein geradezu schmerzhaftes Ziehen, das sich durch seine Eingeweide arbeitete. Angewidert legte Erik den Löffel beiseite. Der Appetit war ihm mal wieder gründlich vergangen. Und das alles nur, weil dieser Mistkerl Berger sich weiterhin in seinen Gedanken herumtrieb. Wütend über sich selbst, schüttelte Erik den Kopf.
„Was ein Mist ...“, murmelte er und räumte den Tisch ab.
So sehr Erik sich bemühte, die verfluchten Bilder kamen ständig in ihm hoch. Und wie so oft hatte er keine Ahnung, was er mit dem Mist anfangen sollte. Auf der einen Seite war es unbestreitbar, dass diese verdammten Bilder ihn erregte, auf der anderen war es schlicht ziemlich kranker Scheiß, der sich da abspielte.
Erik stöhnte resignierend, als er bei dem mentalen Anblick eines halb nackten und über den Tisch gebeugten Bergers schon wieder das Pulsieren im Schritt spürte. Dabei hatte er nicht einmal eine Ahnung, wie der Kerl ohne das verdammte Hemd und die viel zu enge Jeans tatsächlich aussah. Trotzdem schaffte Erik es nicht, die Bilder loszuwerden. Diese Fantasie, die er seit dem ersten Aufsatz für diesen Mistkerl mit sich herumschleppte.
„Reiß dich zusammen!“, zischte Erik, erbost über sich selbst.
Wenigstens war seine Mutter nicht da und konnte keine dämlichen Fragen stellen. Warum Erik mitten am Nachmittag mal wieder unter der Dusche verschwand zum Beispiel. Glücklicherweise hatte er sich danach einigermaßen im Griff und schafft es, sich an die Hausaufgaben zu setzen.
Kaum war Erik mit allem anderen außer Deutsch fertig, hatte sich das allerdings erneut erledigt. Geradezu verzweifelt klopfte er mit dem Stift auf den Block und versuchte, nicht zu sehr daran zu denken, was er da für einen Text zu Papier bringen sollte.
„Der Mistkerl hat das extra gemacht“, brummte Erik unzufrieden. Schon konnte er erneut das wohlbekannte Pulsieren in seinem Schwanz spüren. „Scheiß drauf!“
Hastig sprang Erik auf und kramte im Rucksack nach dem Handy. Glücklicherweise fand er es recht schnell. Mit einem weiteren Grummeln ließ er sich rückwärts auf das Bett fallen und rief die Messengerapp auf.
『Heute schon was vor?』, tippte Erik hastig im Chat mit Tom und starrte dann wartend auf den kleinen Bildschirm.
Als die Nachricht zwei Minuten später nicht gelesen worden war, ließ Erik missmutig das Handy sinken. Was ein Mist. Er hatte gehofft, dass Tom ihm auf seine ganz eigene Art mit dieser speziellen Hausaufgabe hätte helfen können.
Ein Grinsen huschte über Eriks Gesicht, als er sich ausmalte, wie ein Gespräch zwischen ihm und Tom ablaufen würde. Für einen Moment war er versucht, genau das für Berger aufzuschreiben. Schließlich hatte der gesagt, dass es kein Minimum geben würde. Im Grunde war die Aufgabe verflucht einfach zu lösen. Wie sah denn ihr übliches Gespräch beim Sex aus?
„Zieh die Klamotten aus.“ Eine Auswahl, respektive Kombination aus: „Blas mir einen.“ – „Fick mich.“ – „Mehr Zunge.“ – „Weiter.“ – „Mach endlich.“ Und ab und an ein „Ich komme gleich.“
Eriks Grinsen wurde breiter. Dummerweise wäre das ein Gespräch beim Sex und die Aufgabe bestand darin, eines über Sex zu Papier zu bringen. Seufzend schloss Erik die Augen, während er versuchte, sich an überhaupt irgendwelche Unterhaltungen der letzten Wochen zu erinnern, die er mit Tom geführt hatte. Also abgesehen von denen, die abklären sollten, wo sie sich wann trafen um am Ende des Abends im Bett zu landen. Recht schnell verschwand das Grinsen. Nachdenklich öffnete Erik die Augen wieder und starrte auf die Zimmerdecke.
‚Erbärmlich‘, zuckte es ihm durch den Kopf und ein merkwürdiger Druck sammelte sich in Eriks Bauch.
Da war nichts. Er konnte sich an kein echtes Gespräch mit Tom erinnern. Abgesehen vielleicht von der mehr kurz als deutlich ausgefallenen Standpauke, nachdem Erik sich mit Sandro geprügelt hatte. Dabei waren sie doch in der Zwischenzeit ein paarmal im Rush-Inn gewesen und er war sich verflucht sicher, dass sie sich da auch unterhalten hatten. Aber das war kaum als Gespräch zu bezeichnen.
Ein paar Floskeln darüber, wie der jeweilige Tag war. Erik hatte Tom gefragt, wie es in der Uni lief. Eine wirkliche Antwort war nicht gekommen. Und da er nicht gerade das Gefühl bekommen hatte, Tom hätte sonderlich großen Redebedarf, hatte Erik nicht weiter nachgefragt.
Gedankenverloren schob er das Handy auf der Brust hin und her. Weiterhin keine Nachricht von Tom. Was genau war das jetzt eigentlich zwischen ihnen? Manchmal erinnerte es Erik an das, was er mit Dominik gehabt und Beziehung genannt hatte. Aber im Grunde musste er sich allmählich eingestehen, dass es definitiv weniger als das war. Domi hatte immer davon gesprochen, dass er eine Beziehung führen wollte. Für Tom schien das Thema gar nicht zu existieren. Was Erik nicht gerade störte. Und wenn er daran dachte, wie diese sogenannte Beziehung zu Dominik geendet hatte, war da am Ende auch nicht wirklich viel gewesen.
Diese Zusage, nicht ohne das Wissen des jeweils anderen mit irgendwelchen Typen zu schlafen, war schließlich keine Beziehung. Aber Tom war nett, sie verstanden sich gut – nicht nur was den Sex anging. Sie hatten einen ähnlichen Filmgeschmack. Erik hob das Handy von der Brust und starrte auf den Bildschirm. Was erwartete er eigentlich von Tom?
‚Dass er sich meldet‘, zuckte es Erik als Erstes durch den Kopf. Und dann? ‚Mehr.‘
Erik runzelte die Stirn. Aber was genau? Sicher war er sich nicht. Allerdings fühlte er sich bei diesem Gedankenspiel zunehmend unwohl. Zumal Erik in dem Fall auch etwas dafür tun müsste, dass es ‚mehr‘ wurde.
Diesmal hielt die dämliche Stimme in Eriks Kopf den Mund, hatte keinen blöden Kommentar parat. Missmutig richtete er sich auf und sah zum Schreibtisch.
„Ein Gespräch übers ‚Ficken‘ ...“, murmelte Erik.
Warum sollte jemand ausgerechnet dieses Gesprächsthema wählen? Wenn es darum ging, Sex zu haben, brauchte man nicht auch noch darüber sprechen, oder? Da konnte doch zwangsläufig nur das Gespräch rauskommen, das Erik regelmäßig mit Tom führte, wenn sie im Bett waren.
Zögerlich erhob er sich und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Bei all den Strafarbeiten und Hausaufgaben, die Erik für Berger in den letzten Monaten geschrieben hatte, waren die Worte wie von selbst aus ihm herausgeflossen. Und auch jetzt konnte Erik die ersten Gedanken im Hinterkopf spüren. Ein Gespräch, das er ehrlich gesagt durchaus ganz gern mit Berger führen wollte. Direkt, ungeschönt. Die ungekürzte Originalfassung des Prologs zu diesem ersten Aufsatz – inklusive Audiokommentar des Regisseurs.
Erik hatte den Stift schon angesetzt, als ihn ein Piepen des Handys plötzlich aus den Gedanken riss. Hastig stürzte er zum Bett und griff nach dem Smartphone.
『Sorry, Kumpel 』, prangte da in der Pushnachricht. Als Erik die App öffnete, um sich den Rest anzusehen, konnte er das unangenehme Ziehen im Bauch deutlich spüren. 『Ich habe am Montag ein Referat und werde wohl noch das ganze Wochenende dafür brauchen. 』
Es war eine Mischung aus Enttäuschung und Wut, die in Erik aufstieg, aber er schluckte beides hinunter. Tom war Student und natürlich musste er lernen. Vielleicht sollte Erik sich da ebenso ab und zu ein Beispiel dran nehmen.
‚Trotzdem scheiße.‘
Das dämliche Ziehen wurde stärker, genau wie der Drang nach diesem verdammten ‚Mehr‘, das Erik nicht einmal benennen konnte.
『Montag?』, tippte Erik wie automatisch, bevor ihm klar wurde, was er tat.
『Gern. Rush-Inn?』
Erik überlegte. Wenn er wirklich herausfinden wollte, was er in dieser Sache mit Tom vermisste, dann war das Rush-Inn wohl eher nicht der geeignete Ort dafür. Aber was sonst?
‚Ein echtes Date‘, zuckte es Erik durch den Kopf. Und schon wieder flogen seine Finger über das Display: 『Weihnachtsmarkt? Wann hast Du Zeit?』
Gebannt starrte Erik auf das Handy, aber für die nächsten fast zehn Minuten kam keine Antwort. Mit jeder verstreichenden Sekunde kam er sich zunehmend dämlicher vor. Welcher halbwegs vernünftige Kerl hatte denn Lust auf etwas so Bescheuertes wie einen Weihnachtsmarkt? Glühwein konnten sie deutlich billiger selbst kochen und von dem Nippes, den es dort gab, hielt Tom vermutlich genauso wenig wie Erik.
Das beschissene Ziehen breitete sich immer weiter aus – vom Magen, nach oben in die Brust. Je länger Erik auf das Handy starrte, desto deutlicher brannte es hinter seinem Brustbein. Es war dämlich gewesen, überhaupt zu fragen. Er sollte irgendetwas schreiben, damit er sich nicht weiter wie ein Volltrottel aufführte. Erik schluckte, denn im Grunde genommen widerstrebte es ihm noch mehr, zurückzurudern. Das wäre doch erst Recht ein Eingeständnis der Schwäche.
『Okay. 16 Uhr? Wo?』
Erleichtert atmete Erik auf, als sich beim Blick auf die Nachricht der Schmerz in seiner Brust schlagartig löste. Nur um kurz darauf zusammenzuzucken, als Erik klar wurde, dass er sich tatsächlich wegen etwas so Albernem freute. Trotzdem stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen, als er Tom schrieb, wo sie sich treffen würden.
『Alles klar. Bis Montag!』
Erleichtert sank Erik auf dem Bett zusammen und ließ das Handy erneut auf die Brust fallen. Die Aussicht darauf, mit Tom tatsächlich Zeit zu verbringen, fühlte sich gut an. Wobei der Gedanke daran, dass er somit fast vier volle Tage vor sich hatte, Tom zu sehen, ziemlich beschissen war.
„Reiß dich zusammen“, murmelte Erik, während er zum Schreibtisch zurückkehrte. Seine Schulsachen waren noch immer darauf verteilt. Es fehlte nur dieser beschissene Aufsatz für Deutsch.
Erik nahm den Stift und überlegte. Erneut wanderte der Blick zum Handy. Nein, die Gespräche mit Tom waren privat, so unbedeutend sie erscheinen mochten. Und egal wie unsicher sich Erik im Moment war, was ihn dazu getrieben hatte, sich für Montag mit Tom zu verabreden. Er würde den Mistkerl Berger sicher nicht an den Gesprächen mit oder seine Gedanken zu Tom teilhaben lassen. Ein kurzes Grinsen huschte über seine Lippen. Da waren aber ja noch genug andere Dinge in Eriks wirren Kopf, die Berger vielleicht eher aus der Reserve locken würden.
Zögerlich setzte er den Stift an. Kaum hatte Erik die ersten Worte geschrieben, kam der Rest wie von allein. Mal sehen, was der Mistkerl von einem Gespräch zwischen einem gewissen Deutschlehrer und dessen Schüler hielt.
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A/N: Die Werke von Bertold Brecht sind nicht gemeinfrei, weshalb ich das Sonett nicht hier zitieren kann und werde. Wer sich dafür interessiert, kann die betreffenden Zeilen im Internet finden oder auch gern von mir privat zugeschickt bekommen ;)