22 – Jobs und Angebote
Es war fünf nach neun, als Erik noch immer alleine im Rush-Inn saß. Die Cola vor ihm war seit mindestens fünfzehn Minuten nicht mehr so kalt, wie er es gern gehabt hätte. Aber nachdem Erik sich ein kurzes Abendessen gegönnt und seine Mutter sich auf den Weg gemacht hatte, war er ihrem Beispiel gefolgt.
Deshalb saß er inzwischen seit über einer Stunde hier – weiterhin bei der ersten Cola. Weniger weil Erik sparen wollte, wobei das in Anbetracht der anstehenden Abschlussfahrt angebracht wäre. Nein, der Grund war schlicht und ergreifend, dass er bei Tom ja irgendwie immer ein Bier in die Hand gedrückt bekam. Zur Gewohnheit musste die Trinkerei nicht werden. Zu was das führen konnte, hatte Erik oft genug bei seinem Vater gesehen.
Auch wenn Erik sich sehr sicher war, dass er, zumindest was den Alkoholkonsum anging, nicht annähernd so wie sein alter Herr war, wollte er sich diesem Mistkerl nicht weiter annähern. Deshalb die Cola. Und die erste weil Zucker und Koffein Erik ansonsten zu sehr aufputschen würden.
Irritiert, dass Tom weiterhin nicht da war, prüfte Erik die Anzeige auf dem Handy. Aber da war bisher keine Nachricht. Vielleicht sollte er einfach rübergehen. Schließlich wohnte Tom gleich um die Ecke. Langsam drehte Erik das Glas zwischen den Händen. In einer Beziehung wäre es normal, wenn er bei Tom klingen würde. Zumindest nachfragen, warum der Kerl sich verspätete. Oder?
„Was ist los, Kleiner?“, fragte Alex plötzlich und riss ihn aus der Grübelei.
Erik zwang sich ein Lächeln ab und schüttelte mit dem Kopf. „Warte nur auf jemanden.“
Einen Moment lang schien Alex zu überlegen, dann grinste er und wedelte mit dem Zeigefinger vor Eriks Gesicht rum. „Tom, oder? Dieser Student, mit dem ich dich hier in letzter Zeit öfters gesehen hab.“
Schweigend zuckte er mit den Schultern. Erik hatte ja schon häufiger gehört, dass Alex jeden hier zu kennen schien, aber so genau hatte er das bisher nie herausfinden wollen.
„Hm. Du siehst nicht aus, als ob es super läuft, Erik“, murmelte Alex plötzlich stirnrunzelnd.
„Was?“
„Entschuldige“, wiegelte der Mann hinter der Bar jedoch schnell ab. „Ich wollte nicht ...“
„Nein. Schon gut“, murmelte er und schüttelte langsam den Kopf.
Für einen Moment war Erik versucht, Alex zu fragen, woran der eine Beziehung festmachte. Wann hatte man eine? Also so richtig. Nicht irgendeine. Was würde es brauchen, damit das mit Tom mehr als nur Sex mit einem Kumpel war? Aber kaum war der Gedanke in Erik hochgekommen, versetzte er ihm einen harten Schlag in den Magen. Einen bei dem er regelrecht physisch zusammenzuckte. Etwas, das offenbar auch Alex nicht entging.
„Wirklich alles okay mit dir?“, fragte er misstrauisch erneut nach.
Hastig nickte Erik. „Ja.“
Wieder sah Alex aus, als wollte er nachhaken, aber diesmal ließ er es. „Willst du noch was?“
Betreten schüttelte Erik den Kopf. „Sorry, sollte sparen“, nuschelte er verlegen. Zugegeben auch, weil er nicht sicher war, ob Alex ihn vor die Tür setzen würde, wenn er hier nicht bald etwas mehr Umsatz als eine dämliche Cola generierte.
„Geldprobleme?“, hakte Alex allerdings mit einem Lächeln und deutlich interessierter zurück.
Er zuckte mit den Schultern. Alex schien ein netter Kerl zu sein, Eriks Finanzen gingen den Typ allerdings rein gar nichts an. Alex sah ihn aber weiter so komisch an. So wie die anderen es viel zu oft taten. Fragend, forschend.
Wie immer konnte Erik es nicht ertragen. Weder den Blick an sich, noch konnte er sich überwinden, diesen zu erwidern. Erik senkte den Kopf und starrte stattdessen auf das fast leere Colaglas. Wenn Tom nicht bald hier auftauchte, würde er ihn anrufen. Oder vorbeigehen. Irgendwas. Hauptsache er kam hier raus.
Erik schloss die Augen, kämpfte darum, den stetig schneller werdenden Puls wieder auf ein angemessenes Maß zurückzudrängen. Es gab keinen Grund für die Aufregung. Alex sah ihn nur an. Und Tom würde kommen. Er war nur etwas spät dran.
Sie hatten vereinbart, dass sie nicht einfach mit anderen schlafen würden. Und Tom war es gewesen, der das vorgeschlagen hatte. Ganz bestimmt ließ der Kerl sich nicht gerade woanders ficken, während Erik hier auf ihn wartete.
‚Sicher?‘
Ja, verdammt noch einmal! Tom war nicht so. Er war nicht Dominik. Seufzend fuhr Erik sich durch die Haare, weil er keine Ahnung hatte, was Tom tatsächlich war – außer offensichtlich nicht hier.
„Interesse an einem Job?“
Überrascht fuhr Erik zusammen: „Wie bitte?“
Alex grinste breit. „Eine meiner Aushilfen hat gekündigt und die anderen können nicht alle Schichten übernehmen. Oder wollen nicht.“ Das Lachen klang ehrlich.
„Ich weiß nicht“, murmelte Erik, während er einen Seitenblick durch den Schankraum warf. Als Gast hierher zu kommen war das eine, aber auf der anderen Seite der Bar zu stehen? Das fühlte sich falsch an. Zumal seine Mutter es eh nicht erlauben würde. Immerhin war er gerade einmal achtzehn und Alex machte erst abends auf. Am Nachmittag konnte Erik hier nicht einfach mal ein paar Stunden abreißen, wie er das bei Herrn Ceylan tat.
„Du gehst noch zur Schule, richtig?“, hakte Alex weiter nach und Erik nickte. „Das ist okay. Du könntest Freitag oder Samstag arbeiten. Die anderen sind mit ihren Schichten flexibler. Acht bis zwölf.“
Die Zeiten würden passen, damit Eriks Mutter keine Einwände hatte. Und er hatte ihr schließlich versprochen, dass er sich einen zweiten Job suchen würde. Der hier sprang einen ja förmlich an. Trotzdem zögerte Erik. Freitag und Samstag waren die Tage, an denen er mit Tom ausgehen konnte. Sollte das wegfallen, würde Erik Tom nur noch an den Abenden treffen können, wenn seine Mutter zur Nachtschicht war.
„In den Ferien jetzt kannst du gern auch unter der Woche oder länger arbeiten, wenn das für dich und deine Eltern passt. Könnte über die Feiertage echt dringend jemand brauchen. Erfahrungsgemäß ist da die Hölle los. Also selbst falls es nur für die eine Woche bis Sylvester ist ...“ Als Erik weiterhin zögerte, fügte Alex mit einem kurzen Grinsen hinzu: „Ich zahle übrigens bei Feiertagen extra.“
Allmählich klang es nicht einfach nur interessant, sondern geradezu perfekt. Jetzt, wo Erik für die Klassenfahrt zugesagt hatte, musste er irgendwie das Geld dafür aufbringen. Falls er das Angebot annahm, würde das, selbst wenn er im neuen Jahr hier weiterhin arbeitete, nicht mit der Arbeit bei Herrn Ceylan kollidieren. Alles in allem eine Chance, die Erik nicht ausschlagen sollte.
„Wie viel zahlst Du?“
✑
Erik hätte nicht einmal sagen können, wie lange er mit Alex dort saß und den zukünftigen Nebenjob besprach. Denn dass er den annehmen würde, war spätestens zwei Sekunden, nachdem Alex Erik den Stundenlohn genannt hatte klar. Herr Ceylan zahlte Mindestlohn, hier würde er deutlich mehr verdienen. Zuzüglich Trinkgeld.
Irgendwann legte sich aber doch eine Hand auf Eriks Schulter und ein heftig schnaufender Tom bat verlegen um Entschuldigung dafür, dass er zu spät kam und sich nicht gemeldet hatte.
„Wir waren mitten im Stoff und ich habe überhaupt nicht auf die Zeit geachtet“, erklärte er außer Atem und winkte Alex grinsend zu. „Ein Bier, bitte.“
Lächelnd holte der ein Glas hinter der Bar hervor und stellte es gefüllt vor Tom ab. „Geht heute aufs Haus. Deine Cola auch. Wir sehen uns am Freitag, Erik.“
Damit verschwand Alex, um endlich seiner heutigen Aushilfe zur Hand zu gehen, der während ihres Gesprächs hier den Laden hatte alleine schmeißen müssen.
„Was meint er?“, fragte Tom irritiert.
„Ich hab einen neuen Job“, erklärte Erik breit grinsend. „Alex hat mir angeboten, für ein paar Stunden die Woche auszuhelfen.“
Stirnrunzelnd sah Tom sich um. „Du willst hier arbeiten?“
„Alex zahlt echt gut“, antwortete Erik, durch Toms Ton etwas verunsichert. Richtig begeistert wirkte Tom nicht. „Ich brauch das Geld für die Abschlussfahrt“, fügte Erik leise nuschelnd hinzu.
„Richtig!“, rief Tom grinsend und hob das Bierglas zum Toast. „Ist ja dein letztes Jahr. Wo geht die Fahrt denn hin?“
„Südfrankreich“, murmelte Erik, während er das eigene Glas leerte. Einen Augenblick überlegte Erik, ob er noch etwas bestellen sollte, aber womöglich wollte Tom ja gleich wieder verschwinden. Im Grunde genommen hätte Erik heute allerdings nichts dagegen, wenn sie blieben.
„Nett“, gab Tom lachend zurück und nahm einen großen Schluck aus seinem Glas. „Also willst du die Ferien nutzen, um dir etwas zusätzliches Taschengeld für die Fahrt zu verdienen?“
Ein kurzes Stechen im Bauch ließ Erik zusammenzucken. „So in etwa.“
Normalerweise schämte er sich nicht dafür, dass das Gehalt seiner Mutter keine sonderlich großen Sprünge erlaubte. Immerhin rackerte die sich seit Jahren alleine ab, damit er Abitur machen konnte – auch wenn Erik keine Ahnung hatte, was er danach mit seinem Leben anfangen sollte.
„Hey, ist schon okay.“ Tom feixte weiter und wieder spürte Erik dieses Ziehen im Magen, das er so gar nicht leiden konnte. „Wir waren auf Malle. Der beste Urlaub meines Lebens.“
Erik verzog den Mund und schwieg. Auf der einen Seite wollte er ja unbedingt mit, weil es eben die Abschlussfahrt war. Auf der anderen war da die Sorge, dass es am Ende grauenhaft laufen würde. Allerdings war bis März ja jede Menge Zeit und vielleicht legten sich die ohnehin deutlich weniger gewordenen Probleme mit Sandro ja bis dahin komplett.
‚Na klar. Und demnächst kann der Affe fliegen.‘
Tom deutete mit dem Kopf in Richtung Tür. „Wollen wir gehen oder willst du noch was trinken?“
Für einen Augenblick war Erik sich nicht sicher. Aber er hatte um dieses Treffen gebeten. Weil er Gesellschaft wollte. Und wenn es um Tom ging, dann schien das zwangsläufig auf Sex hinauszulaufen.
‚Und wenig andere Sachen‘, flüsterte die hämische Stimme in Eriks Kopf. Er schluckte und wünschte sich, das blöde Glas wäre nicht schon leer.
„Wie du willst“, murmelte Erik ausweichend. Nicht sicher, wie eine ehrliche Antwort lauten würde.
„Dann lass uns abhauen“, ging Tom sofort darauf ein und trank mit einem kräftigen Zug das Bier aus. „Na komm. Ich habe heute noch das eine oder andere mit dir vor.“
Erik nickte und folgte Tom kurz darauf aus dem Rush-Inn hinaus. Der Rucksack mit den Schulsachen über der Schulter fühlte sich plötzlich jeder Schritt, den Erik sich der WG näherte schwerer an. Er hatte Tom eine Nachricht geschickt, weil er sich mit ihm treffen wollte. Gesellschaft, ein netter Abend und natürlich gehörte da der Sex dazu.
Trotzdem kamen Erik Bergers Worte in den Sinn und zogen ihm die Eingeweide weiter zusammen. Das erste Mal war er mit Tom mitgegangen, um sich an dem abzureagieren. Auch bei ihrem zweiten Aufeinandertreffen war es am Ende immer nur um Sex gegangen. Erik schluckte. Aber es war Tom gewesen, der aus ihren Treffen eine tiefere Bedeutung hatte geben wollen. Oder nicht?
Der Ausflug zum Weihnachtsmarkt war nett gewesen. Trotz der kleinen Klette, die an Erik geklebt hatte wie ein alter Kaugummi unter der Schuhsohle. Womöglich hatte der Rotzbengel Luis sogar einen gewissen Anteil daran gehabt, dass der Nachmittag gut verlaufen war. Eben weil sie beide zur Abwechslung von dieser einen Sache abgelenkt gewesen waren.
Trotzdem stapfte Erik schweigend und mit gesenktem Kopf neben Tom her, bis sie dessen Wohnung erreichten. Kaum hatte der die Tür hinter ihnen geschlossen, lugte ein irritierend blauhaariger Haarschopf aus der Küche.
„Tommy! Und sein hübscher Junior.“
Erik war sich verflucht sicher, dass seine Ohren sofort in Flammen aufgingen. Und er hasste es, hätte der blöden Tussi am liebsten irgendeinen Rotz an die Stirn geknallt, der ihn nicht derartig lächerlich dastehen ließ. Aber Erik fiel nichts ein. Wie so oft. Und vermutlich hasste er das im Moment am meisten.
„Lust auf ein Spielchen, Jungs“, fuhr Nora breit grinsend fort, während sie aus der Küche trat. Erik wollte nicht einmal ansatzweise wissen, auf was für Spiele die Frau stand.
„Was hast du zu bieten?“, fragte Tom jedoch lachend zurück und zog damit Eriks vermutlich recht entsetzten Blick auf sich – was der Kerl aber offenbar nicht bemerkte, denn er folgte stattdessen seiner Mitbewohnerin in die Küche.
Als Erik etwas irritiert ebenfalls hinzutrat, stellte er fest, dass Nora, der ebenfalls hier wohnende Riese namens Mario, und noch ein weiterer Kerl, den Erik nicht kannte, es sich bereits am Küchentisch bequem gemacht hatte. Tom stand hinter seiner Mitbewohnerin und sah dieser eben über die Schulter auf das Spielbrett, das auf dem Tisch aufgebaut war.
‚Der Kerl hat jetzt aber nicht vor, da mitzuspielen?!‘
„Wollt ihr einsteigen?“, fragte Mario und sah grinsend auf.
Schon breitete sich auf Toms Lippen ein Lächeln aus, woraufhin Erik die Stirn weiter in Falten zog. Auf dem Weg hierher hatte er darüber nachgedacht, dass er eigentlich ganz gern mal etwas mehr Zeit so mit Tom verbringen wollte. Wenigstens ein paar Stunden, in denen es nicht nur um Sex ging. Aber das hätten Eriks Stunden sein sollen. Nicht die von diesen blöden Typen hier.
„Bleibst du über Nacht?“, fragte Tom jedoch weiter grinsend und deutete auf den Tisch. „Macht echt Spaß.“
Erik zwang sich ein Lächeln ab, das er nicht einmal ansatzweise fühlen konnte. Was würde passieren, wenn er jetzt ‚Nein‘ sagte? Würde Tom dann mit ihm im Zimmer verschwinden, um in einer Stunde oder sogar weniger doch hier in der Küche zu sitzen. Neben seinen Mitbewohnern, die natürlich alle ganz genau wissen würden, was sie in dem verdammten Zimmer getrieben hatten? Während Erik auf dem Weg nach Hause war, denn er hätte in diesem Fall ja gesagt, dass er nicht bleiben würde.
„Weiß nicht“, nuschelte er verhalten, bevor ihm klar war, was er tat.
„Na komm schon. Ich versprech dir, es macht Spaß“, gab Tom lachend zurück und zog bereits einen Stuhl von der Wand heran, damit Erik sich ebenfalls an den ansonsten mit nur vier Plätzen versehenen Esstisch setzen konnte.
„Ich ... stell meine Sachen erst einmal weg“, antwortete Erik stattdessen ausweichend und stapfte in Toms Zimmer.
Dort angekommen sah Erik einen Moment zum Bett, bevor er den Rucksack auf dem Schreibtisch abstellte. Das Pochen in seiner Brust wurde mit jeder Sekunde, die Erik hier stand stärker. Nicht vor freudiger Erwartung, auch nicht vor Angst. Warum genau konnte er nicht sagen. Aber da war wieder dieser Drang, dieses Gefühl der Enge in seiner Brust, dem Erik nur entkommen konnte, falls er hier verschwand.
‚Wenn du mehr von Tom willst, kannst du nicht davonlaufen‘, ermahnte Erik sich selbst. Er war es doch, der sich zur Abwechslung mal nicht nur wegen des Sex‘ hatte treffen wollen. ‚Reiß dich zusammen!‘
Es war nur ein blödes Spiel. Und vielleicht hatte Tom ja nach einer Runde genug. Immerhin wäre es zur Abwechslung tatsächlich Zeit, die sie nicht mit Sex verbrachten. Selbst wenn Erik diese lieber exklusiv von Tom gehabt hätte. In zwei Tagen würde Tom vorerst zu seinen Eltern verschwinden und somit außer Reichweite sein. Aber in Beziehungen machte man so was. Oder? Man traf sich mit anderen. Bei dem Gedanken verkrampfte sich Eriks Magen ab. Er kannte diese Leute da draußen nicht, hatte keine Ahnung, was die von ihm halten würden. Dieses Wissen allein machte die Situation noch unerträglicher.
„Erik? Alles klar?“, fragte es mit einem Mal hinter ihm.
Überrascht drehte er sich um und lächelte Tom an. „Natürlich. Warum nicht?“, beeilte Erik sich, zu versichern.
Es sollte nicht nur beim Sex bleiben. Also musste er sich in der Tat zusammenreißen. Vielleicht hatte Berger ja tatsächlich recht. So lange Erik diesen Typen da draußen derartig abweisend gegenüber rüberkam, würden sie ihm auch keine Chance geben. Er musste lediglich in diese Küche gehen, sich hinsetzen und irgendein dummes Spiel mitspielen.
Konnte doch nicht so schwer sein.
✑
Kurz vor Mitternacht saßen sie noch immer an dem beschissenen Brettspiel und allmählich hatte Erik die Schnauze voll. Er war müde, erschöpft und wollte ins Bett. Auf Sex hatte er jedenfalls nach dem bisherigen Verlauf des Abends keinerlei Lust mehr. Das hieß schon etwas.
Zumal Erik offenbar verflucht mies in dem Spiel war und keine Ahnung hatte, was er tat. Das wiederum führte dazu, dass ihn insbesondere Mario und der zweite Kerl, der scheinbar Lukas hieß, immer wieder verspotteten oder auslachten.
‚Bestimmt ist es nicht einmal böse gemeint‘, versuchte Erik sich einzureden.
Es war das beschissene Gefühl, dass die beiden ihn wie ein Kind belächelten, weil er zu dumm war, bei den Erwachsenen mitzuspielen, was Erik immer mehr zusetzte. Zumal der Blödmann Mario sich im Spiel mit Tom verbündet hatte und die beiden auffallend häufig die Köpfe zusammensteckten. Das gefiel Erik erst recht nicht.
Gedankenverloren schob er die Spielfigur über den Plan und hoffte, dass das blöde Spiel endlich enden würde. Erik hatte ja gedacht, das hier wäre schnell erledigt. Dreißig Minuten, vielleicht eine Stunde und danach hatte er mit Tom in dessen Zimmer verschwinden wollen. Scheiß drauf, dass die anderen genau wussten, was sie da trieben. Inzwischen saß Erik seit über zwei Stunden hier und kein Ende in Sicht.
‚Das Spiel ist doof.‘
„Mann, Erik. Bist du sicher, dass du das machen willst?“, fragte Tom mit einem fetten Grinsen im Gesicht.
Normalerweise wäre das durchaus ein interessanter und anregender Anblick gewesen. Im Augenblick wollte Erik aber nur, dass dieser Mist hier endete und er ins Bett konnte. Morgen war Donnerstag – erste Stunde Deutsch. Da wollte er nicht vollkommen unausgeschlafen erscheinen.
„Das war kein sonderlich schlauer Move, Kurzer“, fiel ebenso Mario lachend ein, während er die eigenen Figuren über das Brett schob. „Damit haben wir den ersten Verlierer des Abends.“ Die anderen stimmten in das Lachen ein, was wieder einmal dazu führte, dass Eriks Magen sich zusammenzog.
„Mach dir nichts draus“, versuchte Tom ihn aufzumuntern und klopfte Erik dabei auf die Schulter. „Man muss es schon ein paar Mal gespielt haben, bis man den Dreh raus hat.“
Eher würde die Hölle einfrieren, als dass Erik es sich zur Gewohnheit machen würde, mit diesen Leuten zusammen zu sitzen und ein blödes Brettspiel zu spielen. Zumal das hier ganz offensichtlich mehr Taktik und Strategie erforderte, als er zu bieten hatte. Aber das sagte Erik nicht. So wie er viele Dinge an diesem Abend nicht gesagt hatte.
Stattdessen rang er sich ein müdes Lächeln ab und zuckte mit den Schultern. „Es ist spät.“ Einen Moment lang zögerte er, dann deutete Erik beiläufig mit der Hand auf das Spielbrett, das für den Rest der Anwesenden vermutlich ein, zwei weitere Stunden ‚Spielspaß‘ versprach. „Ihr braucht sicherlich noch eine Weile. Aber für mich ist heute Schluss.“
Tom schien zu zögern und etwas in Erik schrie danach, dass der Kerl sich gefälligst für ihn entscheiden sollte. Sie waren für heute verabredet gewesen. Erst war Tom fast eine Stunde zu spät erschienen. Und kaum, dass sie hier waren, hatte er es interessanter gefunden, bei diesem blöden Brettspiel mitzumachen, als mit Erik ‚zu spielen‘.
„Ist es okay ...?“, setzte Tom zögerlich an.
Es war unübersehbar, dass der Blödmann lieber weitermachen wollte. Eine Schlinge zog sich um Eriks Hals und verhinderte zunächst, dass er einen Ton herausbrachte. Trotzdem lächelte er tapfer, während er seine Spielfiguren in die Packung zurücklegte. Erst als Erik schließlich mit einem Achselzucken gen Board nickte, brachte er endlich die Worte heraus.
„Klar. Warum nicht?“
‚Weil du gedacht hattest, dass das hier euer Abend wird.‘
Was hätte er denn sonst anderes erwarten sollen? Immerhin war es Tom, der ihren Treffen stets die gleiche Daseinsberechtigung aufdrückte. Und der würde in Kürze zu seinen Eltern fahren. Kam auch erst im neuen Jahr wieder.
Tom jedoch lächelte lediglich zufrieden, während er sich erneut dem Spielbrett zuwandte. Trotzdem zögerte Erik eine Sekunde, bevor er aufstand. Aber was sollte er denn jetzt noch sagen?
Nachdem er zugestimmt hatte, dass es okay für Tom war, mit seinen ‚Freunden‘ hier weiterzuspielen, konnte Erik schlecht zurückrudern. Also nickte er noch einmal den übrigen Leuten zu und verzog sich anschließend in Richtung von Toms Zimmer.
Wenigstens würde er die beschissene Decke vorerst nicht teilen müssen.