4 - Herzrasen und Stillstand
Als Erik zum sicherlich zehnten Mal in dieser Nacht aufwachte, fühlte er sich wie gerädert. Jedes Mal war er aufgeschreckt, als die Bilder des Aufsatzes anfingen, ihn in seinen Träumen immer mehr zu verhöhnen. Erik hatte das verdammte Ding geschrieben, weil er Berger eins auswischen wollte. Aber je länger diese ‚Illusion‘ in seinen spätpubertären und offensichtlich inzwischen gestörten Hirnwindungen herumschwirrten, desto mehr begannen sie sich zu verändern.
In dem Aufsatz hatte der Schüler, hatte Erik die Kontrolle gehabt. Doch je weiter die Nacht fortschritt, desto mehr veränderte sich das Szenario. Irgendwann war es Berger, der das Ganze provozierte, ihn aufforderte, endlich nicht nur wie ein dummer Junge herumzustehen, sondern ein Mann zu sein. Es ging so weit, dass dieses Arschloch ihm förmlich den nackten Hintern präsentierte. Zusammen mit einem verbalen Befehl, endlich nicht mehr zu starren. Stattdessen sollte Erik sich das zu nehmen, was er wollte und was ihm so bereitwillig angeboten wurde.
Und ja, zumindest in seinen Träumen wollte Erik diesen Hintern – auf jede beschissene Art, die ihm einfiel. Was unweigerlich die Frage aufwarf, wie Berger auf den Aufsatz reagieren würde. Wäre er am Ende ähnlicher zu dem Kerl, der Erik in seiner Fantasy anstachelte, endlich alle falschen Hemmungen fallen zu lassen?
‚Scheiße, nein! Natürlich wird der Typ ausrasten!‘
So einen Mist konnte schließlich nicht einmal an einem aalglatten Arsch wie Berger einfach abperlen. Die Protagonisten waren zu nah an ihnen beiden angelehnt. Man konnte beim besten Willen nicht überlesen, dass es Erik war, der in dieser ‚Illusion‘ über Berger herfiel, bis der halb nackt auf dem Tisch lag – darum bettelnd, dass ihn endlich jemand vögelte.
Langsam döste er ein weiteres Mal weg, während er darüber nachdachte, wie der Aufsatz bei Berger ankommen würde. Und wie sehr er selbst tatsächlich am Arsch war, um diese Worte aufs Papier gebracht zu haben.
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Am nächsten Morgen wachte Erik vollkommen übermüdet auf. Recht träge fiel sein Blick auf die Anzeige des Digitalweckers: Acht Uhr siebzehn.
„Scheiße, schon so spät!“, fluchte Erik lautstark und sprang hastig aus dem Bett.
Was jedoch nur dazu führte, dass er sich postwendend auf die Fresse legte, als sich ein Fuß in der am Vorabend achtlos auf den Boden geschmissenen Hose verhakte. Der Schmerz im Knie war erträglicher als das anhaltende Pochen in Eriks Schwanz.
„Hormone sind kacke“, wimmerte er – blieb aber dennoch einen Moment stöhnend liegen. Wann war sein Leben eigentlich derartig beschissen geworden?
‚Ah. Ja. Richtig. Das Besäufnis am Lagerfeuer.‘
Langsam richtete Erik sich auf und schaffte es ohne weitere Unfälle ins Bad. Rasch drehte er das warme Wasser der Dusche auf, stellte sich darunter. Der Versuch sich gleichzeitig zu waschen und zu erleichtern war mehr als ungelenk. Zumal Erik in der Hinsicht letzte Nacht ja bereits recht aktiv gewesen war. Danach fühlte er sich allerdings besser und diesmal waren nicht einmal erneut die Bilder des Aufsatzes in ihm aufgestiegen.
‚Fortschritte.‘
Kurz darauf kam Erik ungekämmt, aber gewaschen, angezogen und mit geputzten Zähnen wieder aus dem Bad. Kaum war er zurück in seinem Zimmer, schnappte er sich das beige Shirt und die Jeans vom Vorabend, die auf dem Boden lagen. Seine Mutter war vermutlich noch nicht von ihrer Nachtschicht zurück.
Tatsächlich standen ihre Schuhe nicht im Flur, wie Erik zufrieden registrierte, als er kurz in die Küche flitzte, um sich einen raschen Kaffee zu gönnen, bevor er sich auf den Weg zur Schule machte. Ein Blick auf die Wanduhr ließ ihn jedoch diese Pläne überdenken.
„Verdammt!“, fluchte Erik lautstark, als er zähneknirschend den Wasserkocher wieder ausschaltete und zurück in den Flur stürzte. ‚Die Dusche hat eindeutig zu lange gedauert.‘
Hastig zog Erik sich die Schuhe an. Für einen Augenblick überlegte er, ob er eine Jacke brauchen würde, da fiel ihm ein, dass er etwas ganz anderes brauchte als eine beschissene Jacke.
„Idiot!“, entkam Erik zischend, während er zurück in sein Zimmer stürzte. Die Blätter des Aufsatzes lagen über den Boden verstreut. Also sammelte er sie fluchend wieder ein und heftete sie erneut mit einer Büroklammer zusammen.
Wie viele Seiten waren es gewesen? Erik war sich nicht sicher, aber es war nirgendwo ein weiteres Blatt zu finden. Ein Blick zur Uhr sagte ihm, dass er jetzt definitiv keine Zeit mehr zum Suchen hatte. Es musste einfach alles beisammen sein, eine andere Wahl hatte er nicht.
„Scheiß drauf!“
Bei dem Inhalt war es letztendlich egal. Berger würde die Quintessenz schon verstehen. Im Augenblick lief Erik die Zeit davon. Hastig stürzte er aus dem Zimmer, verlies die Wohnung – natürlich ohne Jacke – und stürmte in Richtung Schule.
Draußen wehte ihm direkt ein ungewohnt kalter Wind entgegen. Ende September war das Wetter morgens eben doch nicht mehr jeden Tag herrlich warm. Das übliche Pech verfluchend stürmte Erik dennoch weiter. Der Dauerlauf würde ihm nicht nur guttun, sondern auch die Kälte davon abhalten allzu sehr in seine Knochen zu kriechen.
Eine Minute vor neun kam Erik schließlich, mit neuer Bestzeit, an der Schule an. Der Seiteneingang war jedoch verschlossen, also rannte er zum Haupteingang. Glücklicherweise war der geöffnet. Aber jetzt musste Erik quer durchs halbe Schulhaus, um zu dem Klassenzimmer zu gelangen, in dem sie immer Deutsch hatten. Als er endlich ankam, war es bereits zwei Minuten nach neun.
‚Mal wieder zu spät! Das fängt ja gut an!‘, murrte er innerlich.
Allerdings war Samstag. Wenn Berger ihn unbedingt am Wochenende hierher bestellen musste, dann durfte er nicht mit allzu viel Enthusiasmus und Pünktlichkeit rechnen.
Ein weiteres Mal zog Erik das Shirt zurecht, atmete tief durch, um nicht ganz so stark zu keuchen, und öffnete die Tür. Ein Blick nach rechts zeigte ihm, dass Berger bereits dort saß und wartete.
‚Mist!‘, dachte Erik.
Er hatte zuerst hier sein wollen, um den Arsch triumphierend anfunkeln zu können, wenn der durch die Tür trat. Na ja, letztendlich war es egal. So lange Erik sehen konnte, wie dem Mistkerl die Gesichtsmuskeln entglitten, sobald er den Aufsatz las, würde er zufrieden sein. Dann hatte Erik sein Ziel erreicht. Und dass genau das passieren würde, stand außer Frage.
Berger sah auf, kaum dass Erik durch die Tür getreten war. Augen in einem Grün, das ihn förmlich aufzuspießen schien, bevor sie zu dem üblichen, desinteressierten Blick wechselten. Schon konnte Erik die Wut in sich aufsteigen spüren. Nicht nur, weil er überhaupt wusste, welche beknackte Augenfarbe der Typ hatte. Sondern vor allem, weil es dem Arsch von Lehrer vollkommen an selbigem Hinterteil vorbei ging, was Erik in dem verdammten Kurs seit Schuljahresbeginn ertrug.
Nein, es war noch schlimmer. Denn Berger machte in gewisser Weise doch sogar mit. Oder warum sonst war Erik heute hier wegen einer beschissenen Strafarbeit, während Sandro, dessen kindisches Verhalten sie verursacht hatte, im Bett lag und schlief?
Aber noch immer ruhten Bergers Augen auf ihm. Erik spürte nur zu gut, was diese erneut in ihm auszulösen begannen. Ohne dass er sich dagegen wehren konnte, fing Eriks Herz an, schneller zu schlagen. Unwillkürlich fuhr er mit der Hand über das Shirt vor seiner Brust, um es ein weiteres Mal glatt zu streichen. Vielleicht auch, um zu überspielen, dass sich unterhalb der Gürtellinie schon wieder ein freudiges Kribbeln einstellte.
Der Protagonist in Eriks Aufsatz würde sich nicht derartig kindisch aufführen. Der wäre nicht unsicher – oder gar zurückhaltend. Er würde vortreten, Berger angrinsen und ihn anschließend auf den verdammten Tisch drücken, um es ihm zu besorgen. So wie er es wollte. Ja, Eriks Alterego würde sich nehmen, was er begehrte, so wie Bergers bekam, was der brauchte. Erik stockte bei dem Gedanken und biss sich auf die Lippe.
‚Hör auf, so einen Scheiß zu denken!‘, ermahnte er sich selbst. ‚Ganz sicher hast du kein Interesse daran, dieses Arschloch von Lehrer zu vögeln! Schon gar nicht so!‘
Berger sollte schließlich nur begreifen, wie es war, wenn man jemandem hilflos ausgeliefert war. Der Rest ergab sich aus einer Kombination pubertärer Hormone seinerseits und verboten engen Jeans seitens dieses blöden Lehrers. Mühsam unterdrückte Erik ein Stöhnen, als sein Blick für eine Sekunde zu Bergers Schritt glitt – nur um direkt wieder nach oben zu zucken.
‚Lass dir nichts anmerken, du Trottel!‘
Fehlte noch, dass das Arschloch merkte, was er letzte Nacht bei Erik ausgelöst hatte. Der Mistkerl würde das am Ende als gefundenes Fressen sehen. Dann wäre die Wirkung des Aufsatzes dahin – würde sich in das völlige Gegenteil verwandeln.
‚Scheiße!‘
Daran hatte er noch gar nicht gedacht! Was, wenn Berger das verfluchte Ding gegen ihn verwendete, anstatt in Angst zu versinken, weil es vielleicht eben nicht einfach nur eine Fantasie bleiben würde? Plötzlich schien es eine saudämliche Idee zu sein, ausgerechnet einen emotionslosen Arsch wie Berger mit so etwas demütigen zu wollen. Konnte man diese kühlen und berechnenden Typen überhaupt beschämen?
Sofort schob Erik den Gedanken von sich. Der Kerl war nicht einfach nur ein Lehrer. Er war ein Gegner und denen musste man sich stets geradeherausstellen. Das hatte der Coach beim Ringen ständig gesagt.
„Was ist jetzt?“, fragte Berger lapidar als er aufstand und sich vor Erik aufbaute. Jedenfalls soweit das dessen Größe überhaupt zuließ.
Das arrogante Lehrerarschloch strahlte hier so viel Selbstvertrauen aus, als könnte der Zwerg Erik körperlich auch nur annähernd das Wasser reichen. Dabei war der Mistkerl garantiert mindestens zehn Zentimeter kleiner als Erik. Ja, Berger war sicher kein Schwächling. Trainiert, sportlich in gewisser Weise. Aber rein physisch wäre er für Erik trotzdem ein leichter Gegner. Jedenfalls in einem fairen Kampf.
„Hier“, murmelte Erik und reichte seinem Lehrer die Zettel. Herausfordernd sah er Berger an und wartete darauf, dass der anfing zu lesen.
Gleich würde Erik es sehen. Nur noch ein paar Augenblicke und dann würde das Arschloch erkennen, was für eine ‚Illusion‘ er da in seinem Schüler hervorgerufen hatte. Ein kurzes Grinsen huschte über Eriks Lippen. Es dauerte allerdings keine zwei Sekunden, denn Berger nickte lediglich, drehte sich um und lief zurück zum Lehrertisch. Ohne einen Blick auf den verdammten Aufsatz zu werfen.
Erik stand unschlüssig neben der Tür und wusste nicht, was er tun sollte. Gehen kam nicht infrage. So würde er ja nicht das Gesicht von dem Arschloch genießen können, sobald er zu den entscheidenden Stellen kam. Was war diese verdammte Rache denn wert, wenn Erik nicht sehen konnte, wie sie auf sein Ziel wirkte?!
Berger schien ihm jedoch diese Freude nicht machen zu wollen. Stattdessen setzte er sich auf den Stuhl, schob den Aufsatz beiseite und zog einen Stapel zu kontrollierender Aufgaben heran. Entsetzt starrte Erik ihn an. Das war doch wohl nicht sein Ernst! Der Typ kam samstags in die Schule, um Arbeiten zu kontrollieren? War das überhaupt erlaubt? Wie krank konnte ein Mensch eigentlich sein?
„Ist noch etwas?“, fragte Berger, ohne sich umzudrehen, und riss Erik damit aus seinen Gedanken.
„Wo...llen Sie ihn gar nicht lesen?“, gab Erik verstört zurück. ‚Der Kerl macht den ganzen Plan zunichte!‘
Er wollte das Entsetzen sehen, das Grauen, den Ekel und die Abscheu - und danach die Scham. Horror darüber, dass Berger solche Gedanken in einem Schüler hatte auslösen können. Das hätte Eriks Triumph sein sollen! Er hatte ihn verdammt noch einmal verdient!
Aber Berger drehte sich lediglich mit ausdruckslosem Gesicht um und sah ihn schweigend an. Es mochten Sekundenbruchteile oder auch Minuten gewesen sein, die sie sich stumm anstarrten. „Ich lese es später. Sie können gehen. Ein schönes Wochenende, Herr Hoffmann.“
Die Worte trafen Erik, wie ein Blitz und er konnte fühlen, wie sich seine Augen gegen seinen Willen weiteten.
‚Nein! Nicht später! Jetzt!‘, schrie es förmlich in Eriks Kopf.
Doch keines der Worte schafften es über die Lippen. Das Brodeln in ihm war unerträglich. Dieses Arschloch sollte den verdammten Aufsatz lesen. Damit Erik sich wenigstens an dem Entsetzen weiden konnte!
„Wollen sie doch noch etwas?“
Oh ja. Da war so einiges, was Erik wollte. Aber offenbar würde er das heute nicht bekommen. Mit jeder verstreichenden Sekunde wurde ihm klarer, dass ihn weiteres Zögern nur noch mehr in Schwierigkeiten bringen würde. Hatte Berger ihn am Ende schon vorher durchschaut? Wusste der Mistkerl, was Erik vorhatte?
„Nein ...“
Seine Stimme war tonlos und Erik selbst überrascht, dass er überhaupt ein Wort herausgebracht hatte. Trotzdem schaffte er es nicht sofort, sich zu bewegen. Mit starrem Blick sah er noch immer auf Bergers Profil. Der blickte Erik allerdings nicht einmal mehr an. Es fühlte sich falsch an. Das hier hatte ein Triumph werden sollen. Stattdessen stand Erik hier wie bestellt und nicht abgeholt, während das Arschloch von Lehrer gewonnen hatte, ohne überhaupt in den Kampf gezogen zu sein.
Selbst wenn Berger den dämlichen Aufsatz zu Hause lesen würde – und vielleicht sogar so reagierte, wie Erik es sich erhofft hatte. Er würde die Scham nicht in dem Mistkerl aufsteigen sehen, wenn dessen Wangen sich röteten, während er vor Entsetzen laut keuchte. Dieses verdammte Keuchen, das Erik letzte Nacht gefühlte hundert Mal gehört hatte. In zugegeben völlig anderem Kontext. Es war bedeutungslos, wie Berger reagierte, wenn Erik es nicht sehen konnte. Er biss die Zähne zusammen, seine Hände ballten sich zu Fäusten.
‚Vielleicht solltest du dem Kerl einfach mal direkt demonstrieren, was in dem verdammten Aufsatz nur Fantasie gewesen ist!‘
Erik erschrak und wich entsetzt einen Schritt zurück. Was dachte er denn da? Sein Herz schlug kräftig in der Brust, als Berger verwundert auf- und ihn erneut direkt ansah. Diese beschissenen grünen Augen schienen sich ein weiteres Mal in Erik hinein zu bohren. Er musste hier weg, bevor dieses Arschloch ihn zu einem Menschen machte, der Erik definitiv nicht sein wollte. Also drehte er sich hastig um und stürmte aus dem Klassenzimmer. Im Laufschritt rannte er durch das menschenleere Gebäude, um endlich rauszukommen.
Kaum war Erik draußen, atmete er erleichtert durch, aber sein Herzschlag wollte sich nicht beruhigen. Dieser ganze Mist war vollkommen falsch! Er hätte niemals so einen Müll schreiben, geschweige denn, ihn Berger geben sollen. Fluchend marschierte Erik weiter in Richtung zu Hause. Wieso war er so ein Idiot gewesen? Hatte er nicht genug Probleme?
‚Der Arsch wird den Mist gegen dich verwenden!‘, hämmerte eine penetrante Stimme in seinem Kopf. ‚Du hast ihm eine Angriffsfläche gegeben.‘
Ja. Erik hatte dem Mistkerl deutlich gezeigt, dass er den netten Arsch nur zu gern vögeln würde. Und selbst wenn das nicht mal gelogen war, würde es Erik am Ende noch mehr zum Opfer machen.
„Verdammt!“