42 – Hilferuf und Hilfestellung
Erik zitterte. Am liebsten wäre er rausgestürmt. Aber wie hätte das denn ausgesehen? Erst dieser lächerliche, kindische um nicht zu sagen jämmerliche Ausbruch und danach auch noch weglaufen? Nein, das hätte dieser Blamage nur die Krone aufgesetzt. Erik kniff die Augen zusammen, während er sich nach vorn beugte. Vielleich würde das gegen den beschissenen Schmerz helfen.
‚Es soll endlich aufhören!‘
Um ihn herum schien es aus jeder Ecke heraus zu tuscheln. Scheiße, warum konnte er nie seine verdammte Klappe halten? Der Schmerz in Eriks Brust war unerträglich. Es fühlte sich an, als würde ihm etwas von innen den Brustkorb aufsprengen wollen. Der Versuch die Arme noch fester, um sich zu ziehen scheiterte. Da war kein Platz mehr.
„Erik?“
Bergers Stimme war leise und ruhig. Das genaue Gegenteil von dem, wie Erik sich im Augenblick fühlte. Warum konnte der Kerl ihn nicht einfach in Ruhe lassen?! Und wenn nicht, dann sollte Berger ihn wenigstens anblaffen. Weil der Problemschüler mit diesem beschissenen Ausbruch wieder einmal den Unterricht störte. Ärger machte. So wie immer. In jedem Fall hatte der Blödmann doch seine Antwort bekommen. Reichte das denn immer noch nicht?!
„Erik“, sprach Berger ihn ein weiteres Mal an, diesmal deutlich fordernder.
„Was?“, keifte er unwirsch zurück, nur um prompt weiter in sich zusammen zu sinken.
„Die Stunde ist zu Ende. Alle anderen raus.“ Für einen Moment passierte gar nichts – zumindest hörte Erik nichts. Womöglich lag das aber auch am Rauschen in seinen Ohren. „Jetzt!“, rief Berger noch einmal, diesmal mit mehr Nachdruck.
Ein Teil von Erik wollte der Anweisung Folge leisten. Schließlich wollte er nur zu gern dieser Qual endlich entkommen. Aber sein Körper verweigerte sich.
Rascheln, Gemurmel, Stühle, die quietschend über das Linoleum geschoben wurden. Dann waren da Schritte – hastig. Mehr Getuschel. Erik verstand die Worte nicht, aber es war nicht schwer sich auszumalen, was sie sagten.
‚Scheiße ...‘
Noch einmal versuchte Erik, seinen Körper dazu zu überreden, sich endlich ebenfalls aus diesem beschissenen Raum heraus zu bewegen. Aber es fühlte sich noch immer an, als würde er jeden Moment auseinanderbrechen, sobald er dazu ansetzte, die Arme zu senken.
Erik brauchte seinen Blick nicht heben, um zu wissen, dass Berger direkt vor seinem Tisch stand. Schweigend. Wartend. Worauf auch immer. Vielleicht darauf, dass Erik sich endlich in den Griff und keinen verdammen Nervenzusammenbruch bekam.
‚Dann reiß dich gefälligst zusammen. Viel fehlt da ja nicht mehr‘, fauchte Erik sich innerlich an. Aber es half nichts.
War er tatsächlich genauso erbärmlich, wie dieser Trottel von Werther? Tom hatte oft genug gesagt, dass er keine Beziehung wollte. Da war nicht einmal ansatzweise etwas wie Freundschaft. Tom blockte jeden Versuch ab. Alles, was sie hatten, war Vögeln und ein ‚wir kotzen uns nicht an‘. Zusammen mit ein paar Grenzen, die Tom in Bezug auf den Sex gesetzt hatte. Genau die, welche Erik mehr als nur einmal verletzt hatte. Sah man also davon ab, dass sie überhaupt Sex gehabt hatten, verband sie im Grunde weniger als diesen Vollpfosten Werther und seine Lotte.
Das Klacken, als die Tür des Klassenraumes geschlossen und ein Schlüssel in eben dieser herumgedreht wurde, riss Erik aus den Gedanken. Als er aufblickte, stand da Berger wieder vor ihm. Hinter diesem konnte Erik die Tür sehen. Der Schlüssel steckte.
Warum verschwand der Kerl nicht einfach? So wie alle anderen. So lange Erik zurückdenken konnte, war er alleine gewesen. Und das hatte nie gestört. Es gehörte dazu. War okay. Musste so sein. Würde immer so sein. Und damit war Erik stets gut klargekommen. Warum jetzt nicht mehr?
„Erik, was ist los?“, fragte Berger stattdessen. Der gleich neutrale Ton wie eh und je und trotzdem glaubte er, dass da mehr mitschwang. Irgendetwas, was Bergers Stimme zum Vibrieren brachte. Und damit auch etwas in Erik selbst
„Nichts“, krächzte er.
Erik hatte keine Ahnung, wie er es schaffte, aber er löste die Arme um seine Mitte und griff mit zittrigen Händen nach seinen Sachen auf dem Tisch. Nachdem diese im Rucksack gelandet waren und Erik sich schwankend erhob, trat Berger allerdings zwischen die Tische und versperrte ihm den Weg. Forschende Augen, deren Farbe Erik nicht kennen sollte, weil ihm andere genauso am Arsch vorbei gingen, wie er ihnen.
Er sollte Berger egal sein. Diesem Blödmann mit den dämlichen Hemden und den zu engen Jeans. Dem Mistkerl, der Erik so lange vorwärts getrieben hatte, bis er sogar den Weg in eine mögliche Zukunft gefunden hatte. Dieser dämliche Lehrer, der Erik jeden kranken Scheiß verziehen und jeden beschissenen Ausraster akzeptiert hatte.
‚Du bist genauso ein Vollidiot wie Werther‘, hallte es immer und immer wieder durch Eriks Kopf.
Er musste hier weg.
Aber Berger ließ ihn nicht, stand weiter zwischen den Tischen vor ihm, sodass Erik nicht zur Tür kam. Mit zusammengepressten Lippen senkte Erik den Kopf. Warum stand der Arsch da noch?! Hatte Berger mit diesem ganzen Scheiß nicht schon genug angerichtet?!
So sehr er sich bemühte, den Kerl dafür zu hassen, dass er ihm einmal mehr die Wahrheit vor Augen geführt hatte, Eriks Wut schaffte es nicht am Schmerz vorbei, schien stattdessen darin zu ertrinken, als wäre sie überhaupt nicht mehr existent.
„Erik ... wenn Sie Probleme haben, dann reden Sie darüber.“
Bergers Stimme war so überraschend leise, dass Erik den Kopf hob und ihm ins Gesicht sah. Aber sofort bereute er auch das, denn nun sah er sich einem besorgen Blick gegenüber, dem er nicht ausweichen konnte.
‚Warum ...?‘, setzte es in Eriks Kopf zu einer Frage an, nur um prompt abzubrechen. ‚Er interessiert sich nicht für dich!‘, belehrte er sich sofort. ‚Du bist nur der dämliche Schüler, der mal wieder Probleme macht.‘ Denn ganz sicher wollte Erik nicht, dass ausgerechnet dieser Mistkerl sich um ihn Sorgen machte. Berger sollte ihm doch genauso scheiß egal sein!
„Mit ihren Eltern.“ Erik zuckte zusammen, woraufhin Bergers Stirn sich in Falten legte. „Ihren Freunden?“
Diesmal war es ein Zittern, das durch Erik lief. Wieso schaffte der dämliche Lehrer es eigentlich, in jeder verfluchten Wunde zielgerichtet mit dem Finger zu bohren?
Die Furche zwischen Bergers Augenbrauen wurde tiefer. „Wenn Sie re...“, setzte er an, aber da trat Erik einen Schritt zurück. Ein Seufzen, dann zuckte Berger mit den Schultern. „Frau Vansen ist die Vertrauenslehrerin. Reden Sie wenigstens mit ihr.“
„Ich habe keine Probleme“, meinte Erik, darum bemüht, seine Stimme ruhig zu halten.
Die Lüge kam ihm überraschend leicht über die Lippen. Vielleicht, weil es ja kein ‚Problem‘ war, dass Tom ihn nicht wollte. Jedenfalls brauchte er Erik für nichts, was er nicht mit dem nächstbesten Kerl aus dem Rush-Inn genauso haben könnte. Das war eine Tatsache. Eine, die Erik endlich akzeptieren sollte. So wie Werther Lottes Abweisung hätte akzeptieren sollen.
Erik hatte Tom am Anfang doch ebenso benutzt. Wahrscheinlich sogar mehr. Scheiße. Wie oft hatte er beim Sex eine andere Stimme gehört? Sich einen anderen Körper vorgestellt? Für einen Moment zuckte Eriks Blick über Berger. Dieser Blödmann, der da weiterhin stand und ihn besorgt ansah. Also ob er sich tatsächlich für ihn interessieren würde.
Ein Ziehen an Eriks Eingeweiden, als es in seinem Kopf flüsterte: ‚Niemand interessiert sich für ein Arschloch wie dich.‘
„Es ist keine Schande, wenn man ab und an Hilfe braucht, Erik.“
„Ich. Habe. Keine. Probleme!“, brüllte Erik erneut zurück. Nur um postwendend zusammenzucken, weil er sich allmählich selbst nicht mehr verstand.
Es war kein beschissenes Problem, dass er endlich erkannt hatte, was er für ein Trottel war. Wenn Tom nur Sex wollte, war das ebenso kein Problem. Eher ein Segen. Erik sollte es mitnehmen. Wer brauchte schon diesen Gefühlsscheiß? Oder Freunde, die einen, wenn es hart auf hart kam ohnehin nur hängen lassen würden? Das alles machte doch überhaupt erst Probleme. Dieses beschissene schwarze Loch im Bauch, das Flattern, Kribbeln und der ganze andere Mist. Das hatte in Eriks Körper nichts zu suchen – jedenfalls nicht oberhalb der Gürtellinie.
‚Werther hat der ganze Mist ins Grab gebracht.‘
Das würde ihm sicher nicht passieren. Zeit, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Einer Realität, die Erik schlicht nicht hatte sehen wollen. Dass er einer Illusion nachrannte, die nie hatte real werden können. Genau wie Lotte ihrem Werther, hatte Tom ihm von Anfang an erklärt, dass zwischen ihnen nie das sein würde, was Erik sich den letzten Monaten immer mehr gewünscht hatte. Da war nichts. Er war immer nur das gewesen, was Mario in ihm gesehen hatte. Ein Spielzeug zum Zeitvertreib.
‚Zeit aufzuwachen‘, sagte Erik sich und atmete einmal tief durch. Ganz bestimmt würde er nicht so enden wie dieser Vollidiot in dem Buch.
„Sind Sie sicher, dass Sie in Ordnung sind?“ Da war weiter diese Furche zwischen Bergers Augenbrauen. Allerdings schien sie nicht mehr so tief zu sein, wie zuvor.
Schnell nickte Erik und versuchte, sich an Berger vorbei zu drängen. Als er die Hand nach diesem ausstreckte, schreckte Berger jedoch hastig einen Schritt zurück.
Erik riss die Augen auf. Sein endlich ruhiger gewordener Herzschlag schnellt erneut in die Höhe. Genau wie seine Mutter. Die war vor Kurzem ebenso zurückgewichen. Der Gedanke, dass sie Angst vor ihm hatten, weil er am Ende ein Arschloch wie sein Vater war, versetzte Erik einen weiteren Stich in die Brust. Wie ein Wasserfall brach noch einmal der ganze Scheiß, den er Berger in den letzten Monaten vorgesetzt hatte, über Erik herein.
‚Kein Wunder, wenn der Kerl Angst hat, dass du am Ende doch irgendwas davon wahr machst.‘
Erik schlug das Herz bis zum Hals. Er sah die Bilder aus seinem letzten Aufsatz vor sich. Spürte das Gefühl in sich aufsteigen, diesen Drang danach sich zu nehmen, was er brauchte. Weil es ihm gewährt werden würde. Freiwillig. Dazu zu gehören. Gewollt zu sein. Von einem Menschen, dem Erik wichtig genug war, der ihm vertraute. Jemand, dem er nicht egal war. Für den Erik mehr als ein akzeptabler Körper und eine nette Abendunterhaltung sein würde. Zumindest in dieser weiteren, beschissenen Illusion. Aber es war eben nur das.
„Ich ... würde nie ...“, stammelte Erik, unfähig es auszusprechen. Wieso hatte er diesen Scheiß im Kopf?! Was zum Teufel war falsch an ihm?
„Das weiß ich.“ Ungläubig starrte er Berger an, unfähig etwas zu erwidern. „Es ist nichts falsch an Ihnen, Erik.“
„Woher ...?“
Erik konnte es nicht aussprechen. Diese verfluchte Frage, wieso Berger wusste, was er dachte. Und warum zum Teufel der Kerl da weiter mit diesem verschissenen Lächeln stand. Anstatt Erik endlich zum Direktor zu schleifen, damit er von der Schule flog. Wieso hasste der Blödmann ihn nicht, so wie Erik es verdient hatte?
„Sie haben recht“, meinte Berger mit einem Mal und trat einen Schritt beiseite, um Erik endgültig Platz zu machen. „Werther ist verträumt. Und vielleicht auch ein Trottel, weil er nicht begreift, dass Lotte für ihn unerreichbar bleiben wird.“
„Es ist unmoralisch“, krähte Erik gequält. „Er denkt ständig an sie und macht Dinge, die ... nicht okay sind. In seinem Kopf sind noch viel mehr ... Sachen ... die da nicht sein dürfen. Weil sie nicht richtig sind. Jedenfalls für sie. Für niemanden.“
Unruhig zuckte Eriks Blick zwischen Berger und der Tür hin und her. Wie viel Zeit war inzwischen vergangen? Wie lange hatten sie Unterricht gehabt, bevor Erik angefangen hatte durchzudrehen? Wann würde es zur Pause klingeln? Die nächste Klasse reinkommen? Ihn auch so sehen?
Berger schien das alles nicht zu interessieren. Er verschränkte lediglich die Arme vor der Brust und sah Erik mit einem zaghaften Lächeln an: „Ein Beispiel.“
„Er küsst das kleine Mädchen.“
Berger nickte. „Richtig. Ist ein Kuss auf die Wange unmoralisch?“
Erik runzelte die Stirn. „Er ist es für Lotte. Und ... das Mädchen ist noch ein Kind. Werther ist erwachsen. Das ... gehört sich nicht.“
Wieder nickte Berger, diesmal deutlich langsamer. „Okay. Hatte er tatsächlich unmoralische Gedanken bezüglich des Mädchens?“
Wieder überlegte Erik, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, er hat nur nicht nachgedacht.“
„Warum nicht?“
„Er denkt nie nach!“, rutschte es Erik lautstark heraus, bevor er sich bremsen konnte.
Als Berger daraufhin leise lachte, konnte auch Erik sich ein eigenes Lächeln nicht verkneifen. Der Schmerz in seinem Inneren ebbte allmählich ab, genauso wie die Zerrissenheit. Stattdessen fühlte Erik sich mit jeder verstreichenden Sekunde wieder normaler. Jedenfalls so, wie sonst auch.
Er bekam jedoch keine weitere Antwort – nicht einmal eine Frage. Berger nickte und schien mit Eriks Antworten zufrieden zu sein. Überzeugt genug, dass er sich beruhigt hatte. Zumindest trat der Kerl zum Lehrertisch hinüber und packte die eigenen Sachen zusammen. Mit geschultertem Rucksack ging Berger zur Klassenzimmertür und drehte den Schlüssel herum.
Hatte es inzwischen geklingelt? Ein Blick auf die Uhr an der Wand hätte genügt, aber Eriks Blick hing lediglich an dem schwarzen Haarschopf, der gerade den Raum verließ.
Wie automatisch ließen Eriks Schritte ihn folgen. Berger trat hinter der Tür beiseite. Im Gang war es ruhig, keine anderen Kinder, niemand war zu sehen oder zu hören. Scheinbar war der Unterricht noch nicht vorbei.
„Besser?“, meinte Berger mit einem kurzen Lächeln.
Erik war sich nicht sicher, worauf Berger sich bei der Frage bezog, aber egal, was es war, die Antwort schien im Augenblick immer die Gleiche zu sein, also nickte Erik schwach.
Berger zögerte dennoch, dann hakte er erneut nach: „Sind Sie sicher, das Sie erst einmal klarkommen, Erik?“
Gern hätte er in diesem Moment gelächelt, aber mehr als ein kurzes Zucken seiner Mundwinkel brachte Erik nicht zustande. „Ich ko...“, flüsterte er, nur um direkt wieder abzubrechen.
Die Worte wollten ihm nicht über die Lippen. Dieses ‚ich komme alleine klar‘, mit dem Erik gefühlt sein ganzes Leben jemandem auf diese Frage geantwortet hatte. Es war eben reichlich offensichtlich gewesen, dass er nicht alleine klarkam. Die Lüge wirkte falsch – unangebrachter als je zuvor.
„Es tut mir leid“, nuschelte Erik stattdessen. Obwohl er keine Ahnung hatte, wofür er sich entschuldigte.
„Braucht es nicht.“ Überrascht sah Erik erneut zu Berger. Der lächelte weiter. Schwächer als zuvor, aber es wirkte ehrlich.
Ein zartes Flattern meldete sich in Eriks Bauch und fragte, warum der Kerl noch immer hier stand. Weshalb er weiterhin lächelte und ihn nicht irgendwann im Verlauf dieses Schuljahres abgeschrieben hatte. Aber anstatt eine dieser Fragen zu formulieren, stand Erik nur da und schwieg.
„Gehen Sie einen Moment raus. Schnappen Sie frische Luft. Die Stunde ist gleich vorbei. Soweit ich mich erinnere, kommen Sie ungern zu spät.“
Der Kommentar hätte bei jedem anderen hämisch geklungen, aber bei Berger hörte es sich nicht so an. Erik konnte sogar schmunzeln, als ihm einfiel, wie oft er Anfang des Jahres zu spät dran gewesen war, weil eben dieser Blödmann hier ihn aufgehalten hatte. Für einen Augenblick hatte Erik den Eindruck, Berger würde erneut zögern. Aber schließlich drehte er sich herum und trat auf die Treppe zu.
„Werther ist ein Tagträumer“, meinte Erik plötzlich, die Stimme fester und lauter als zuvor. „Einer, der sich einbildet, da wären Gefühle bei ... Lotte. Wo nichts ist. Und nie sein wird.“
Berger hielt inne, drehte sich aber nicht um. „Vielleicht sucht er nur etwas. Oder jemanden. Und verliert sich in der Hoffnung, dass er es bei Lotte findet oder es ihr zumindest genauso geht. Womöglich ... hat er Angst davor, diese Hoffnung loszulassen. Selbst wenn er weiß, ... dass sie sich nie erfüllen darf.“
Wieder war sich Erik nicht sicher, warum er weitersprach: „Und was sucht er?“
Diesmal sah Berger über die Schulter zu Erik zurück, zögerte für einen weiteren Moment, bevor er antwortete: „Ein Zuhause. Einen Ort, wo er einfach der sein kann, der er nun einmal ist. Und so akzeptiert wird. Bedingungslos. Mit all seinen ... Fehlern und Schwächen.“
Erik runzelte die Stirn. Das erschien ihm eine recht freie Interpretation dieses Schundheftes zu sein, das es garantiert nur auf den Lehrplan geschafft hatte, weil es aus Goethes Feder stammte.
„Steht das wirklich irgendwo da drinnen?“
Mit einem breiten Grinsen zuckte Berger mit den Schultern. „Ist das wichtig?“
✑
Erik kam zu spät zu Physik. Deutlich. Im Grunde hätte er sich den Gang dorthin komplett sparen können. Denn nachdem Berger ihn im Treppenhaus hatte stehen lassen, waren sicherlich gut fünfzehn Minuten vergangen, bevor die Pausenglocke Erik endlich aus seiner Starre riss.
Anstatt zur nächsten Stunde war er jedoch erst auf den Schulhof gegangen. So wie Berger es gesagt hatte. Erik hatte die Augen geschlossen und die Frühlingsluft eingeatmet, bis sich das schwarze Loch in seiner Brust so anfühlte, als wäre es zumindest notdürftig abgedeckt.
Als er es schließlich ins Physiklabor schaffte, betrachtete ihn seine Lehrerin kurz und fragte, ob es ihm gut gehen würde. Erik nickte stumm und setzte sich auf seinen Platz. Irgendwo in den Untiefen seines Hirns nahm er wahr, dass Sandro einen Kommentar abgab. Vermutlich irgendwas Dämliches, Fieses. Etwas, das Erik provozieren sollte. Und sicherlich dieses Ziel erreichten würde, wenn er Sandro zugehört hätte. Dafür war Erik jedoch zu abgelenkt.
„Einen Ort, wo er einfach der sein kann, der er ist. Und so akzeptiert wird.“
Hatte Berger das tatsächlich auf Werther bezogen oder ...? Den Gedanken schob Erik lieber schnell von sich. Aber je weiter er versuchte, sich geistig von ihm zu entfernen, desto stärker wurde das Blubbern in Eriks Magen. Letztendlich machte ihn das Werther schon wieder ähnlicher, als er wollte.
‚Hat Berger es deshalb gesagt?‘
Der Gedanke war angenehm und beängstigend zugleich. Denn auf der einen Seite hatte Erik ja jede Gelegenheit genutzt, um diesem Blödmann zu zeigen, was für ein Mist in seinem Hirn herumging. Auf der anderen hatte Berger das scheinbar weder als ‚krank‘ noch als beängstigend bewertet. Zumindest hatte er ihn nicht gemeldet.
Allerdings war Erik sich zunehmend unsicher, was er davon halten sollte. Oder von Berger. Dabei war es immer so einfach gewesen. Am Anfang des Schuljahres war der Kerl ein ziemliches Arschloch. Irgendwann nur noch ein Blödmann. Aber selbst diese Bezeichnung schien immer mehr an Bedeutung zu verlieren. Was zum Teufel war Berger dann?
‚Dein verdammter Lehrer!‘
✑
Seine Mitschüler ließen Erik in Ruhe. Zumindest kam es ihm so vor. Vielleicht bekam er es auch einfach nur nicht mit. Denn die übrige Zeit des Tages saß Erik gedankenverloren im Unterricht. Den Versuch, den Ausführungen seiner Lehrer zu folgen, hatte er bereits in der Physikstunde aufgegeben. Und besser wurde es auch im restlichen Verlauf des Tages nicht.
Dabei konnte Erik, als er sich auf den Weg nach Hause machte, keine abschließende Erkenntnis aus diesen Überlegungen vorweisen. Im Grunde genommen, war er sich nicht einmal sicher, ob er tatsächlich etwas gedacht hatte. Denn wenn er ehrlich war, dann kreisten seine Gedanken immer und immer wieder um diese eine Frage:
„Wie hat Berger das gemeint?“
Zu Hause angekommen ließ Erik sich aufs Bett fallen und starrte an die Zimmerdecke. Er war sich weiterhin nicht sicher, ob die Aussage auf Werther oder am Ende doch auf ihn selbst bezogen gewesen war.
„Macht das einen Unterschied?“, fragte Erik sich leise. Ein kurzes Lächeln huschte über seine Lippen. Auch diese Frage hatte Berger gestellt. Eriks Mundwinkel senkten sich und er runzelte die Stirn. „Mach es einen?“
‚Vielleicht.‘
Falsch. Im Grunde musste die Antwort hier ‚Ja‘ lauten. Denn obwohl Erik es nicht zugeben wollte, es machte einen verdammt großen Unterschied. Zumindest für das dämliche Flattern in seinem Bauch. Das, welches eigentlich gar nicht unangenehm und blöd war. Über das Erik besser nicht nachdenken sollte. Zum Beispiel, woher es kam. Und warum es da war. Oder weshalb dieser blöde Lehrer es immer wieder in Eriks Kopf schaffte. Mit nicht genug Klamotten und dafür wenig Interpretationsspielraum.
Da seine Gedanken erneut drohten, in die völlig falsche Richtung abzugleiten, stand Erik auf und ging in die Küche. Etwas zu essen würde ihn zumindest für eine Weile beschäftigen. Denn die eine andere Art von Ablenkung, die er seit Monaten gebrauchte, wollte Erik heute eher nicht in Anspruch nehmen.
Er hatte eben den Kühlschrank geöffnet, als das Handy in der Hosentasche vibrierte. Verwundert holte Erik es heraus. Tom schrieb normalerweise Nachrichten, das hier war ein Anruf.
„Hallo?“, fragte Erik irritiert, da die Nummer nicht in seinem Adressbuch gespeichert war und er somit keine Ahnung hatte, wer ihn da anrief.
„Erik? Mann, bin ich froh, dass ich dich erreiche!“
„Alex? Was ist los?“ Ein Schnaufen und Keuchen am anderen Ende verwunderte noch mehr. „Ich will nicht einmal aussprechen, wie du klingst“, meinte Erik daraufhin mit einem zaghaften Lächeln, während er eine Plastikdose mit Resten vom Wochenende aus dem Kühlschrank holte.
„Du hast ja keine Ahnung, Junge“, jammerte Alex, offenbar außer Puste.
Erik lachte. „Och, davon durchaus.“
Da musste selbst Alexander lachen, während er ihm ein gemurmeltes „Quatschkopf“, zurückgab. „Ich weiß, es ist unter der Woche und eigentlich würde ich dich nicht fragen. Mir sagt nur gerade einer nach dem anderen ab. Keine Ahnung, was los ist. Grippewelle. Frühlingsgefühle. Aber offenbar hat niemand Zeit ...“
„Du brauchst jemanden für die Schicht heute Abend?“, fragte Erik, während er die Kühlschranktür wieder zuschlug.
„Ja ...“ Alex klang zerknirscht. Scheinbar war es ihm in der Tat reichlich unangenehm, Erik zu fragen. Gut, sie hatten nicht grundlos vereinbart, dass er nur im Rush-Inn arbeitete, wenn am nächsten Tag keine Schule war. „Dienstags ist normalerweise nicht viel los“, fuhr Alex fort. Seine Stimme klang inzwischen ruhiger und nicht mehr so abgehetzt wie zuvor. „Ich verspreche, dass du deutlich vor Mitternacht gehen kannst.“
Erik überlegte. Er hatte keine Hausaufgaben, aber seine Mutter würde es vermutlich nicht sonderlich gern sehen, wenn er unter der Woche arbeiten ging. Allerdings hatte Alex eben versprochen, dass Erik pünktlich gehen konnte. Vor allem würde er auf diese Weise nicht den ganzen Abend hier herumsitzen und über Berger oder Eriks Aussetzer im Deutschunterricht nachgrübeln.
„Wann soll ich da sein?“
Alex atmete mit hörbarer Erleichterung auf. „Danke, Erik! Gegen acht reicht.“
Zufrieden legte er auf und wandte sich erneut der Plastikdose zu, die er zuvor aus dem Kühlschrank geholt hatte. Kartoffelsuppe. Mal wieder. Erik seufzte. Aber es wäre Verschwendung, wenn er sich etwas anderes besorgte, obwohl die Suppe übrig war.
Also kippte Erik sich eine Portion auf den Teller und schob den in die Mikrowelle. Er fand ein paar Semmeln, die das Backstein-Stadium bisher nicht erreicht hatten und somit essbar waren. Über ‚genießbar‘ hätte man sich streiten können.
Während Erik aß, hörte er einen Schlüssel in der Wohnungstür. Kurz darauf sah seine Mutter zur Küchentür herein, um ihn zu grüßen, bevor sie direkt in Richtung Bad verschwand. Nach der Schicht brauchte sie wohl erst einmal Erfrischung. Erik war längst fertig mit Essen und wieder in seinem Zimmer, als er seine Mutter aus dem Schlafzimmer kommen und in Richtung Küche schlurfen hörte.
„Es ist noch Suppe übrig“, rief er lautstark vom Schreibtisch aus.
„Danke“, schallte es ebenso laut allerdings wenig begeistert zurück.
Erik grinste und wandte sich wieder den Musteraufgaben für die Prüfung zu, über denen er brütete. Wenn er heute Abend schon arbeiten ging, sollte er die Zeit vorher wenigstens sinnvoll nutzen. Die Prüfungen standen quasi vor der Tür.
‚Außerdem erspart es dir das Grübeln darüber, was Berger gesagt hat.‘
Das auch.
„Erik? Ich geh einkaufen. Was möchtest Du gerne mal wieder essen?“, unterbrach ihn einige Aufgaben später seine Mutter.
„Fleisch“, rutschte Erik raus, bevor er überhaupt darüber nachgedacht hatte. Sie lachte und versprach, dass sie sehen würde, ob es etwas im Angebot gab.
Als sie über eine Stunde später wieder da war, saß Erik vor dem Fernseher, was ihm einen kritischen Blick seiner Mutter einbrachte. Sie sagte jedoch nichts und so blieb ihm die Ausrede, dass er eine Pause vom Lernen brauchen würde erspart.
So ganz gelogen wäre das zwar nicht, wovon Erik vor allem eine Ablenkung brauchte, waren nicht die Aufgaben, sondern der Kerl, der weiterhin durch seinen Kopf spukte. Missmutig drückte Erik den Knopf auf der Fernbedienung, um zum nächsten Kanal zu wechseln. Das Nachmittagsprogramm war grauenhaft, wie immer. Vielleicht sogar schlimmer als vor ein paar Jahren. Aber womöglich hatten sich ja auch nur die Ansprüche verändert.
Erik stockte. Ja, in gewissem Sinne war das wohl das Problem. Nicht nur mit dem Fernsehen, sondern ebenso in dem, was er mit Tom hatte. Oder besser, was er mit dem nicht hatte. Aber gern gehabt hätte.
„Was ein Mist ...“, murmelte Erik versonnen.
„Was ist los?“
Erschrocken zuckte er zusammen und sah zur Wohnzimmertür, wo seine Mutter stand und ihn verwundert anblickte.
„Das ... Programm ist ... Mist“, stammelte Erik hastig.
Inzwischen hatten sie zwar geklärt, dass er ihr niemals eine Schwiegertochter präsentieren würde, für mehr Wahrheiten seinerseits hatte es bisher trotzdem nicht gereicht. Und von einer reinen Sexbeziehung zu Tom wollte er seiner Mutter sicher nicht erzählen.
‚Was würdest du ihr denn sagen?‘, zuckte es Erik mit einem Mal durch den Kopf und ließ ihn die Stirn runzeln.
Seine Mutter war wieder in Richtung Küche verschwunden und konnte es somit nicht sehen. Oder nachfragen. Etwas, das sie zwar bisher nicht oft gemacht hatte – egal worum es ging – was aber immer mehr zu Eriks Schreckgespenst wurde. Zu viele Themen, über die er nicht reden wollte. Tom. Die eigene, offensichtliche Unfähigkeit, eine Beziehung zu führen. Schule.
‚Vergiss nicht den Deutschlehrer, den du in deinen schmutzigen Fantasien alle paar Tage flachlegst.‘
Erik stöhnte. Da war schon wieder dieser verfluchte Gedanke, den er einfach nicht loswerden konnte. Wenn es denn alle paar Tage wäre. Hatten heterosexuelle Jungen eigentlich das gleiche Problem? Also weniger mit Berger, das dürfte klar sein. Aber da gab es sicherlich die eine oder andere hübsche Lehrerin an ihrer Schule, die für Aufmerksamkeit sorgte. Zwei der nicht gerade hässlichen, jüngeren und zudem unverheirateten Exemplare würden sie ja auf die Abschlussfahrt begleiten.
„Wahrscheinlich würde so mancher die auch gern vögeln“, murmelte Erik leise. Kaum waren die Worte raus, sah er sich ängstlich im Wohnzimmer um, aber seine Mutter werkelte, den Geräuschen nach zu urteilen, weiterhin in der Küche. Damit dürfte sie ihn hoffentlich nicht gehört haben.
Da das Fernsehprogramm keine Ablenkung mehr darstellte, rappelte Erik sich auf und schlenderte ebenfalls zur Küche. Auch wenn das bei Tom wohl eher nicht mehr zum Einsatz kommen würde, schadete es sicherlich nicht, sein kochtechnisches Repertoire zu erweitern. Zumindest würde es Erik hoffentlich für die Zeit, die ihm blieb, bis er sich auf den Weg zu Alex machte, etwas ablenken.