39 – Gruppentherapie und Einzelsitzung
Frustriert und genervt saß Erik im Gras und starrte auf das dämliche Heftchen vor ihm. In den letzten zwei Wochen hatte er zehnmal so viel gelesen, wie im gesamten Jahr davor, auf die Art von Literatur, mit der er sich hier gerade befassen musste, konnte Erik allerdings gut und gerne verzichten. Erst recht, da er sich ihr in Gesellschaft widmen musste.
„Wir sollten langsam mal mit den Aufgaben vorwärtskommen“, drängelte Ines unruhig.
Erik verzog das Gesicht, sparte sich aber jeden Kommentar. Denn auch wenn er dafür sicher andere Gründe hatte als sie, konnte Erik sich deutlich Schöneres vorstellen, als mit den vier Weibern auf der Wiese im Schulhof zu hocken und über dieses dämliche Buch zu reden.
‚Schlimm genug, dass du den Mist lesen musstest.‘
„Wir sind mit der ersten Aufgabe aber noch immer nicht fertig“, beharrte Hanna hartnäckig.
‚Berger hat dich garantiert mit Absicht in diesen Vorhof der Hölle gesteckt‘, dachte Erik bei sich, während er vorsichtig aus dem Augenwinkel eine der Damen nach der anderen prüfend ansah.
Da waren Hanna, Ines, deren beste Freundin Jenny und ein weiteres Mädchen. Erik war sich nicht einmal sicher, wie die hieß. Aber er würde einen Teufel tun und fragen. Zum Einen würde er dann erst recht wie ein sozialer Totalversager dastehen, zum anderen interessierte es ihn ohnehin nicht. Obwohl die wenigstens den Mund hielt und damit deutlich sympathischer war als die anderen drei.
„Keiner hier interessiert sich dafür“, fuhr Ines auch schon wieder Hanna an und wischte sich genervt die Haare zurück hinter das Ohr. „Können wir nicht einfach die Punkte durchgehen und das hier beenden?“
„Dein Stecher wird sicherlich weitere dreißig Minuten ohne dich überleben“, kam es mit einem Mal emotionslos von der noch immer namenlosen Dame an Eriks Seite.
Sie sah nicht einmal auf und damit entging ihr das wutentbrannte Schnauben von Ines, das Erik seinerseits ausgesprochen genoss. Das kurze Grinsen, das sich auf seine Lippen legte, entging Ines allerdings ebenso wenig und deshalb war mit einem Mal Erik das Ziel ihrer Wut.
„Was grinst du da so blöd rum? Hast du etwa Spaß dran, hier zu hocken?“
„Es dürfte hinlänglich bekannt sein, dass ich mit euersgleichen selten meinen Spaß habe“, entgegnete Erik kühl.
„Keine Sorge liegt nicht an dir“, fiel Miss Unbekannt mit einem eigenen kurzen Lachen ein.
Etwas irritiert, sah Erik zu ihr. Bisher war sie ihm nie aufgefallen, weder im Unterricht noch außerhalb. Meistens sagte sie kein Wort, saß mit Kopfhörern irgendwo rum und kritzelt in Notizbücher. So wie jetzt – sah man davon ab, dass die Ohrstöpsel fehlten. Allerdings hatte Erik die starke Vermutung, dass was sie da notierte, nichts mit ihrer Aufgabenstellung zu tun hatte. Irgendwie wäre ihr Name jetzt doch durchaus interessant.
„Berger“, zischte es in diesem Moment von Jenny und hastig sah Erik sich um. Tatsächlich kam eben der von einer weiteren Gruppe Schüler zu ihnen hinüber.
„Und? Kommen Sie voran?“, fragte Berger mit einem Lächeln, das Erik ihm ganz und gar nicht abkaufte.
Als der Kerl dann auch noch zu Erik sah, hätte der schwören können, dass es kurzzeitig zu einem Grinsen wurde. Der Mistkerl hatte diese Folterrunde definitiv nur dazu einberufen, um Erik damit zu quälen. Dabei war er in den letzten zwei Wochen nicht einmal negativ aufgefallen. Berger hatte sogar auf irgendwelche doofen Strafarbeiten verzichtet. Und mit Sandro gab es jetzt, wo es auf das Ende ihrer Schulzeit zuging, auch kaum Ärger.
„Wir sind noch bei den Aufgaben zum ersten Teil“, verkündete Hanna mit einem schüchternen Lächeln, während sie ihr Top zurechtzupfte.
„Dann sollten Sie allmählich vorankommen. Die anderen Gruppen sind bereits deutlich weiter.“
„Ich hab ja gesagt, dass wir weitermachen sollten!“, zischte Ines prompt.
Mit einem kurzen Seufzen ließ Berger sich ausgerechnet neben Erik ins Gras fallen und diesen damit zu Stein erstarren. Als der Blödmann von Lehrer sich auch noch zu ihm herüberbeugte, um in seine Notizen zu sehen, hätte Erik ihn am liebsten von sich gestoßen. Dieses beschissene Aftershave war schon wieder dabei ihm jeden Sinn zu vernebeln.
Angesichts der Tatsache, dass es hier draußen keinen Tisch gab, unter dem man gewisse unterhalb der Gürtellinie angesiedelte Körperteile verstecken konnte, war das reichlich beschissenes Timing.
„Zeigen Sie mal her, was Sie schon haben.“
‚Wenn der Kerl noch einen Zentimeter näher kommt, sieht gleich jeder, was du hast – in voller Pracht und Größe.‘
Erik konnte das Wimmern, das ihm entkommen wollte gerade zurückhalten. Er brauchte dringend eine Ablenkung, die aus mehr als Pornofilmchen im Internet und Fantasien bestand, die leider viel zu oft genau diesen verfluchten Mistkerl neben ihm zeigten. Dummerweise würde Tom erst irgendwann am morgigen Samstag zurückkommen. Abgesehen davon, war Erik sich weiterhin nicht sicher, ob dieses ‚nur Sex‘, das er mit Tom pflegte, jemals wirklich für ihn funktionieren würde.
„Wir ... können uns nicht ... so recht einigen“, stammelte Erik, in der Hoffnung, dass Berger endlich von ihm wegrücken würde. Der tat ihm zwar nicht den Gefallen zu verschwinden, beugte sich jetzt allerdings zur anderen Seite.
„Was haben Sie denn bisher notiert, Christine?“ Die drehte ihren Block herum und hielt ihn Berger vor die Nase. Immerhin konnte Erik jetzt jedem hier einen Namen zuordnen.
‚Hättest du das gemacht, hätte der Kerl dir nicht in den Schoß kriechen müssen!‘, belehrte seine innere Stimme ihn. Dummerweise zu spät, als dass das irgendetwas ändern würde.
Wobei Erik mit einem Seitenblick auf Berger weiterhin nicht leugnen konnte, dass einige seiner Körperteile es nicht unbedingt problematisch finden würden, wenn Berger ihm tatsächlich in den Schoß kriechen würde. Das sanfte Kribbeln in eben der Region, hätte Erik zur Besinnung bringen sollen. In den letzten zwei Wochen war es ihm allerdings nur äußerst selten gelungen, den ‚vernünftigen‘ Gedanken in seinem Kopf den Vorrang zu geben.
‚Seit Tom bei seinen Eltern ist.‘ Betreten sah Erik auf seinen Block, schafft es aber so zumindest sich wieder auf das eigentliche Thema zu konzentrieren.
„Worüber sind Sie sich denn nicht einig?“, fragte Berger interessiert und blickte glücklicherweise nicht Erik an, sondern stattdessen in die Runde der Damen.
Aus dem Augenwinkel sah auch Erik die anderen an. Diese Christine hätte nicht uninteressierter in ihrem Notizbuch kritzeln können, Ines verdrehte genervt die Augen, Jenny seufzte und schüttelte den Kopf und Hanna sah mit tiefroten Wangen auf ihre eigenen Unterlagen. Wenn es nicht so erbärmlich gewesen wäre, hätte Erik es amüsant finden können. Der Nebel, den dieses verfluchte Aftershave in seinem Kopf auslöste, half allerdings nicht und so war er es, der irgendwann antwortete.
„Warum Werther am Anfang immer wieder zu Lotte gegangen ist, obwohl die ja offensichtlich nicht verfügbar war“, murmelte er.
„Was glauben Sie denn? Hanna?“
Die zuckte kurz zusammen, bevor sie nuschelnd antwortete: „Weil er verliebt war.“
„Jenny?“
Die zuckte mit den Schultern. „Er hatte keine Freundin und war vermutlich wie alle Kerle reichlich notgeil.“
„Hey!“, fuhr Erik sofort dazwischen, obwohl er sich im Moment eher zurückhalten sollte, was das betraf. Zumindest war das Kribbeln bisher konstant geblieben und nicht durch die anhaltende Nähe Bergers in etwas deutlich Peinlicheres übergangen.
„Ich stimme Erik zu“, bemerkte der mit einem belustigten Grinsen. „Zumal wenigstens in literarischer Hinsicht solche Aussagen auf Goethes Helden hier eher nicht zutreffen dürften. Ines?“
„Er fand sie sicherlich interessant ...“
„Ihm war langweilig und er wollte jemand, der dem ganzen Müll, denn er labert, zuhört ohne dabei ins Koma zu fallen“, fiel Christine Ines sofort ins Wort.
Das kurze lachende Schnauben konnte Erik nicht zurückhalten, auch wenn er sich dafür beinahe umgehend fünf Augenpaaren ausgesetzt sah, die seine Belustigung sofort ins Gegenteil verkehrten.
„Was sagen Sie, als einziger Mann in Ihrer Gruppe denn dazu?“, fragte Berger mit einem deutlich zu amüsierten Ausdruck auf den Lippen.
Erik zuckte lediglich mit den Schultern. „Werther ist ein Trottel, der nur an sich selbst gedacht hat.“
„Wieso das?“
Unsicher linste Erik zu Berger. Dessen Stimme klang mit einem Mal überhaupt nicht mehr amüsiert. Die Tatsache, dass er dafür verantwortlich war, versetzte Erik einen Stich in die Brust. So sehr er es leugnen wollte, er mochte es deutlich lieber, wenn Berger gute Laune hatte, lächelte und das am Besten in Eriks eigene Richtung. Im Augenblick sahen ihm die grünen Augen aber mit Verwunderung entgegen. Und das zusätzlich mit zu wenig Abstand. Schon begann es in Eriks Brust viel zu heftig zu hämmern. Zwar verschwand das verfluchte Kribbeln aus seinem Schritt. Dafür war das deutlich unangenehmere Ziehen im Bauch wieder da.
„Lotte ist mit Albert verlobt. Es ist Werther völlig egal, dass er sie damit vielleicht in Probleme bringen kann. Er sollte sie in Ruhe lassen, anstatt ihr nachzuschleichen“, murmelte Erik verhalten, schaffte es aber nicht, den Kopf zu heben.
„Na ja, sie war doch nur so gut wie verlobt. Und das bedeutet ja nicht, dass sie sich nicht in Werther verliebt hat“, meldete sich Hanna wieder zu Wort. Mit dem gleichen Argument, über das sie bevor Berger kam, schon eine ganze Weile diskutiert hatten. „Auf dem Ball hat man doch gesehen, dass sie Seelenverwandte sind.“
„Vielleicht empfindet sie wirklich etwas für Werther, aber sie heiratet schlussendlich Albert“, unterbrach Ines vehement. „So viel Seelenverwandtschaft kann da also nicht gewesen sein.“
Das passte wiederum Christine nicht und so waren sie mit den nächsten Worten genau an dem Punkt, an dem sie bereits vor zwanzig Minuten gewesen waren: „Woher willst du das wissen? Werther verschwindet einfach, weil er nicht klarkommt. Kein Schwein weiß, was Lotte empfunden hat.“
„Eine interessante Diskussion“, fiel diesmal Berger den Damen ins Wort. Dann drehte er sich wieder zu Erik. „Warum glauben Sie, sollte er Lotte in Ruhe lassen?“
Zwar kam er sich reichlich dämlich vor, als er die nächsten Worte nuschelte, aber eine bessere Antwort fiel ihm nicht ein: „Es ist nicht anständig.“
„Er redet doch nur mit ihr“, meinte Hanna leise. „Und sie liebt ihn ja schließlich auch.“
„Tut sie nicht“, widersprach Erik kühl.
Hanna beharrte allerdings weiter auf dem gleichen Standpunkt, der seit mehr als einer halben Stunde diese Diskussion im Kreis drehen ließ: „Es ist doch offensichtlich, dass sie ihn mag! Du kapierst so etwas nur nicht.“
Genervt verdrehte diesmal Erik die Augen. Dieses Gesülze ging ihm auf den Keks, genau wie das beschissene Buch. „Mögen ist nicht Liebe“, zischte Erik schließlich, auch wenn ihm die eigenen Worte schmerzhaft die Eingeweide zusammenzogen.
„Dazu passt Punkt sieben“, sagte Berger, bevor Hanna ein weiteres Mal das Karussell ihrer Diskussion auf Anfang bringen konnte. Er deutete auf den Zettel mit den Aufgaben zum Buch, der zwischen ihnen allen im Gras lag. „Falls Lotte Werther liebt, warum lässt sie ihn einfach gehen, ohne ihm das zu sagen?“
Erik schluckte. Irgendwie fing diese Diskussion und das dämliche Buch an, ihn an Tom zu erinnern. Der war auch mal wieder zu seinen Eltern gegangen. Und im Grunde genommen hatte Erik da genauso geschwiegen wie Lotte bei Werther. Nur dass in ihrem kleinen Drama Tom ganz sicher nicht Werther war. Vielleicht wäre Tom ja aber geblieben, wenn Erik ihm erklärt hätte, dass es sein Geburtstag gewesen war, an dem er mit Tom ausgehen wollte.
Betreten senkte Erik den Kopf und starrte auf den Block in seinem Schoß. Im Grunde wusste er sehr genau, warum er nichts gesagt hatte. Obwohl Erik sich das ungern eingestehen wollte. Wäre Tom denn wenigstens bis Sonntag geblieben, wenn er etwas gesagt hätte? Wahrscheinlich nicht.
‚Weil du es ihm nicht wert bist.‘ Schmerz breitete sich in Erik aus. ‚Er hat schließlich auch nur davon gesprochen, dass er dich mag.‘
„Nehmen wir an, Lotte wäre tatsächlich zumindest ein bisschen in Werther verliebt“, meinte Berger plötzlich und riss Erik damit aus seinen eigenen Gedanken wieder zurück in die Gegenwart. „Woher hätte sie denn wissen sollen, dass Werther ebenso empfindet?“
„Der Kerl ist ständig um sie herumgeschlichen“, meinte Jenny genervt.
Dass sie das Buch genauso dämlich fand, wie Erik hatte sie bereits am Anfang dieser Stunde klargestellt. Christine schloss sich mit einem kurzen Grummeln ihrer Meinung an. Ines fand weiterhin, dass es vollkommen egal war, und Hanna protestierte natürlich umgehend, dass es doch wohl auf der Hand liegen würde, dass die beiden sich hervorragend verstanden und folglich absolut ineinander verliebt waren.
Am liebsten hätte Erik sie angepflaumt, dass man nicht gleich jemanden liebte, nur weil man sich mit dem gut verstehen würde. Aber kaum war der Gedanke in seinem Kopf, krampfte sich etwas in Eriks Brust erneut zusammen. Denn ganz offenbar war das ja ebenso ein Punkt, der auf ihn und Tom zutraf. Mit dem verstand Erik sich auch gut – aber für mehr schien es dennoch nicht zu reichen. Nicht einmal für eine wirkliche Freundschaft.
‚Bist du denn in Tom verliebt?‘, fragte Erik sich selbst und runzelte die Stirn.
„Erik?“
Überrascht sah er zu Berger. „Was?“
„Es ist in gewisser Weise beruhigend, dass es Ihren Mitschülerinnen ebenso wenig gelingt, Ihre Aufmerksamkeit auf sich zu halten, wie mir. Vielleicht möchten Sie dennoch die Frage beantworten?“
Autsch, das hatte gesessen, auch wenn das amüsierte Grinsen, das Berger bei diesen Worten auf den Lippen hatte, die Zurechtweisung minimal erträglicher machte. Dafür hatte es eine recht eindeutige Wirkung auf andere Körperregionen, denn anstatt Berger in die Augen zu schauen, hatte es Erik mal wieder nur bis zu den Lippen geschafft.
„Wie war die Frage?“, murmelte er langsam, während es in seinem Kopf danach brüllte, dass er gefälligst woanders hinsehen sollte, damit die Weiber, die keinen Meter von ihm entfernt hockten nicht auf falsche Ideen kommen würden.
‚Eher die Richtigen.‘
Bergers Grinsen wurde zu einem geradezu mitleidigen Lächeln, das er sich sonst lediglich für Oliver aufzuheben schien. Sofort konnte Erik spüren, wie sich seine Wangen erhitzten.
‚Scheiße, worum ging es gerade?!‘, fragte Erik sich verzweifelt. In den Untiefen seines Hirns fand er nur wenig hilfreiche Bilder aus den letzten Nächten, anstatt einer Antwort. Den hilfesuchenden Blick in die Runde sparte Erik sich. Von den Damen würde er kaum irgendwelche Unterstützung erhoffen können.
„Wir sind immer noch bei der Frage, ob Lotte die Gefühle von Werther kannte oder nicht.“
Erik schluckte und zuckte dann mit den Schultern. Vorsichtig schielte er zu Berger, der ihn weiterhin fragend ansah. „Macht das einen Unterschied?“, fragte er schließlich zurückhaltend. Wofür Erik ein paar hochgezogene Augenbrauen seines Lehrers erntete.
„Eine ausgesprochen interessante Frage, Erik.“
Schlagartig war sein Puls zurück auf hundertachtzig. Zumindest fühlte es sich so an. Vielleicht lag das auch daran, dass da gefühlt innerhalb von ein paar Nanosekunden einige Liter Blut südwärts gepumpt werden mussten. Damit das verdammte Kribbeln sich in ein deutlich gefährlicheres Pulsieren und Ziehen verwandeln konnte. Zusammen mit dem fiesen Flattern, das drohte, Erik den Magen umzudrehen.
„Nehmen Sie diese Frage doch als Aufhänger für die übrige Aufgabenstellung“, erklärte Berger mit einem Lächeln, dass das Flattern wie auch das Pulsieren ein weiteres Mal anschwellen ließ. Nicht mehr viel und da würden völlig andere Dinge ‚anschwellen‘. Solche, die Erik sicher nicht vor den Damen in dieser Runde präsentieren wollte.
In diesem Moment rief jemand aus einer der anderen Gruppen nach Berger. Der sah in die Runde: „Brauchen Sie noch Hilfe?“
In der Tat wäre eine hilfreiche Hand nicht schlecht und die dunkle Seite in Erik hatte prompt den einen oder anderen visuellen Vorschlag, wobei Berger behilflich sein konnte. Allerdings würden die Mädels dabei reichlich stören. Also schüttelte Erik hastig den Kopf.
„Wird ... schon“, presste er heraus. Auch von den anderen kam zustimmendes Gemurmel.
Kaum war Berger daraufhin aufgestanden und zur nächsten Gruppe geschlendert, setzte Hanna an, den Fragenkatalog weiter durchzugehen. Jenny seufzte genervt und Ines jammerte, dass sie jetzt hoffentlich einfach ein paar Antworten aufschreiben würden, ohne da ewig drüber diskutieren zu müssen.
Erik schwieg, kam aber nicht umhin, aus dem Augenwinkel zu bemerkten, dass Hannas Augen Berger sehnsüchtig folgten. Wenigstens die Peinlichkeit hatte er sich erspart.
„Ihr seid doch alle bescheuert“, murmelte Christine in diesem Moment und klappte ihr Notizbuch zu.
„Was soll das denn jetzt?“, fragte Hanna irritiert, als ihr das Aufgabenblatt aus den Händen gerissen wurde.
Statt zu antworten, rutschte Christine erstaunlicherweise näher zu Erik heran und deutete auf dessen Block. „Fang an zu schreiben, Großer.“ Dann sah sie herausfordernd zu Ines und Jenny. „Oder habt ihr beide vor hier länger rumzuhängen?“
Die schüttelten hastig den Kopf. Bevor Hanna zu einem weiteren Protest ansetzen konnte, fing Christine an zu lesen. Eine Frage nach der anderen wurde heruntergerattert und wahlweise von Ines, Jenny oder ihr selbst mit einer Antwort versehen, die Erik hastig notierte. Zwar war er mit so einigen davon nicht einverstanden. Allerdings wollte Erik die Sache nur noch hinter sich bringen und von hier verschwinden.
Nachdem sie ihre Antworten Berger am Ende der Stunde gegeben hatten, bekam Erik das verdammte Buch und die noch viel beschisseneren Fragen seines Lehrers aber weiterhin nicht aus dem Kopf. Wenigstens war er ohne allzu peinliche Momente aus der dieser Stunde rausgekommen.
✑
Nachdenklich stand Erik am gleichen Abend hinter dem Tresen im Rush-Inn und trocknete die Gläser ab, die er eben gespült hatte. Bisher war sein Dienst recht ruhig gewesen, was leider nicht nur zu weniger Trinkgeld, sondern vor allem dazu führte, dass Erik eindeutig zu viel über andere Sachen nachdachte.
„Wenn du noch schweigsamer wirst, muss ich prüfen, ob du einen Puls hast“, feixte eine inzwischen angenehm vertraut gewordene Stimme neben ihm und brachte Erik damit zum Grinsen.
„Du bist blöd, Benny.“
Der seufzte theatralisch, während er seinerseits zur Spüle trat und ein Glas hineingleiten ließ. „Ach ja, das höre ich ständig. Vielleicht ist ja doch was dran.“
Wieder musste Erik lachen. Benny war ein wirklich komischer Kerl, allerdings war es erstaunlich einfach, mit ihm auszukommen. Vor allem aber schaffte er es immer wieder, Erik zum Lachen zu bringen. Etwas, das speziell in den letzten Wochen nicht einfach gewesen sein dürfte.
„Sag mal, Benny ...“, setzte Erik an. „Hast du deinen Vorsatz für das neue Jahr inzwischen umgesetzt?“
Der runzelte die Stirn. „Was meinst du?“
„Na, dass es das ‚beschissen beste Jahr‘ deines Lebens werden soll.“
Benny überlegte einen Moment, dann zuckte er grinsend die Schultern. „Weiß nicht, bisher ist es zumindest kein schlechtes Jahr. Und wir gehen ja gerade einmal auf den April zu.“
‚Ein Viertel des Jahres ist fast vorbei‘, zuckte es Erik dabei durch den Kopf. Mit dem Gedanken setzte das Ziehen in seinen Eingeweiden ein. ‚Ein halbes Jahr ...‘
So lange war er inzwischen mit Tom ... Ja, was eigentlich? Seit der vor zwei Wochen weggefahren war, hatte Erik öfters darüber nachgedacht. Was er gern hätte, stand außer Frage, aber wie er ihre Beziehung tatsächlich definieren sollte, zunehmend unklarer.
„Hast Du inzwischen einen neuen Freund?“, fragte Erik leise, traute sich aber nicht, Benny dabei anzusehen.
Der lachte bevor er ihn scherzhaft in die Seite knuffte. „Soll das ein Angebot sein?“
Feixend schüttelte Erik den Kopf. „Keine bange, du bist nicht mein Typ. Und wie wir beide wissen, ich auch nicht deiner.“
„Was?!“, gab Benny gespielt entrüstet zurück, während er auf die eigene Brust deutete. „Willst du etwa behaupten, das hier wäre kein Umdenken wert?“ Erik schnaubte und sah seinen Kollegen nun seinerseits mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Okay, okay ...“, murmelte Benny und atmete tief durch. „Ich weiß nicht“, meinte er dann und Erik brauchte einen Moment, um zu kapieren, dass er gerade eine Antwort auf seine eigentliche Frage bekommen hatte.
„Wie meinst du das?“
Benny zuckte mit den Schultern. „So weit sind wir noch nicht.“ Plötzlich zeigte sich ein breites Grinsen in Bennys Gesicht. Er schlug sich selbst einmal mit der Faust gegen die Brust und streckte den Rücken durch. „Aber ich arbeite dran. Also ist für das Jahr noch nichts verloren.“
Bevor Erik dazu kam, zu fragen, wie Benny das meinte, war der von einem Gast in Beschlag genommen. Auch für den Rest des Abends ergab sich keine wirkliche Gelegenheit mehr, um nachzuhaken.
„Daran arbeiten“, murmelte Erik leise, als er sich einige Stunden später im Hinterraum umzog, um nach Hause zu gehen.
„Woran?“, fragte Alex, der ihn offenbar trotz der kaum hörbaren Worte verstanden hatte.
Erik sah beschämt zur Seite und schüttelte den Kopf. Im Gegensatz zu nicht wenigen ihren Gäste, hatte er nicht vor, seinen Arbeitgeber als Beziehungstherapeuten zu benutzen. Wobei es nicht zu übersehen war, dass Alex damit scheinbar recht erfolgreich war. Und das obwohl der Kerl nicht einmal auf Männer stand. Zumindest hatte es bisher nie wegen falscher Ratschläge Ärger gegeben. Dafür reichlich strahlende Kundschaft, die sich bei Alex für den einen oder anderen Rat bedankt hatte.
‚Vielleicht solltest du einfach mal fragen‘, sagte Erik sich. Verwarf den Gedanken nach einem Seitenblick zu seinem Chef jedoch gleich wieder.
Plötzlich seufzte Alex und kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Weißt du, Erik ...“, setzte er an, nur um kurz darauf abzubrechen und seinerseits den Kopf zu schütteln. „Ich weiß, ich bin dein Boss, wenn wir da draußen an der Bar stehen. Aber hier hinten oder auch sonst ... Falls Du Probleme hast, kannst du jederzeit zu mir kommen. Okay?“
Etwas überrascht nickte Erik. „Okay“, antwortete er kaum hörbar, denn dass er das Angebot annehmen würde, stand für Erik weiterhin außer Frage. Außerdem hatte er ja keine Probleme. Nicht wirklich. Oder?
„Darf ich dir einen Rat meiner Mutter weitergeben, Erik?“
Er lächelte leicht: „Kann ich dich davon abhalten?“
Da musste auch Alex lachen. „Er ist kostenlos, also hast du nichts zu verlieren.“ Weiterhin grinsend winkte Erik, um zu zeigen, dass Alex fortfahren sollte. „Mein kleiner Bruder ist auch so ein verstockter Fisch wie du.“ Etwas überrascht zuckte Erik zusammen. „Wir sind, als Kinder immer aneinandergeraten, weil wir ständig dachten, wir wüssten, was der andere denkt oder meint oder tun würde. Und meine Mutter sagte in diesen Momenten immer: Menschen sind keine Gedankenleser. Wenn du wissen willst, was dein Bruder denkt, dann frag ihn. Und wenn du willst, dass er weiß, was du denkst, dann sag es.“
Zunächst hatte Erik keine Ahnung, was er darauf sagen sollte, aber Alex schien auch keine Antwort zu erwarten. Stattdessen legte er den Arm um Eriks Schulter und schob in ihn Richtung Tür.
„Und nur, damit du es weißt ... ich denke gerade, dass es höchste Zeit für dich wird, nach Hause zu gehen.“
Erik grinste und nickte. „Danke Alex.“
Dabei war er nicht einmal sicher, wofür er sich bedankte. Vielleicht für einen weiteren Rat. Auch wenn Erik nicht wusste, ob der für ihn geeignet war. Zutreffend vermutlich. Wahrscheinlich, sogar. Zwischen einem gut gemeinten Rat, dessen Umsetzung und der Realität lagen in Eriks Fall jedoch keine Welten, sondern ganze Galaxien.
Langsam schlenderte Erik die Straße entlang in Richtung Bushaltestelle. Bis der Nachtbus kam, würde es ein paar Minuten dauern. Wieder fiel ihm dieses dämliche Buch ein, das sie im Deutschunterricht durchnahmen. Werther hatte nichts gesagt, Lotte lediglich angeschmachtet und erwartet, dass sie merkte, was er empfand. Und was hatte Werther das gebracht? Eine unglückliche Liebe und am Ende der Freitod. Nicht, dass Erik sich auch nur annähernd auf dem Weg in diesen sehen würde.
‚Du weißt ja nicht einmal, was du für Tom empfindest.‘
Wütend auf sich selbst, sah Erik zu Boden. Dummerweise war er sich tatsächlich nicht sicher, was er empfand. Er mochte Tom und er wollte gern mehr Zeit mit diesem verbringen. Alleine, ohne störenden Mitbewohner, die Brettspiele spielten und DVD-Abende veranstalteten, auf denen Tom sich deutlich besser zu amüsieren schien als mit Erik.
‚Du hast ja außer Sex auch nichts zu bieten.‘
Seine Schritte stockten, als ein Zittern durch Eriks Körper lief. War das tatsächlich alles? Tom hatte gesagt, dass er ihn mochte. Aber was war das wert?
‚Zumindest kaum eine Nachricht in den letzten zwei Wochen‘, beantwortete Erik sich die Frage selbst, während er langsam weitertrottete.
Tom hatte ihm ein Mal geschrieben und das auch erst, nachdem Erik mehrmals gefragt hatte, wann Tom wiederkommen würde und ob sie sich dann treffen wollten. Natürlich hatte Tom das gleich als Frage danach interpretiert, dass Erik bei ihm vorbeikommen wollte. Wohin dieses Wiedersehen führen sollte und würde, stand dabei garantiert nicht zur Debatte. Was Erik zurück zu seinem ursprünglichen Gedanken führte. Nämlich, dass es eben nur Sex war, der von ihm erwartet wurde.
‚Bist du denn besser?‘
Wieder stockte Erik. Wenn das so weiterging, würde er es heute Nacht nicht mehr bis nach Hause schaffen. Aber irgendwie war die Frage durchaus berechtigt. Was wollte er denn von Tom? Spontan fiel Erik keine Antwort ein. Im Grunde erwartete er gar nichts mehr, weil er es nicht wagte, auf irgendetwas zu hoffen. Jedenfalls nicht ernsthaft.
Da war weiterhin dieser Wunsch, der Drang danach, dass da in irgendeiner Weise ‚mehr‘ zwischen ihm und Tom entstand. Aber die Hoffnung, dass das passieren würde, war gering bis nicht vorhanden. Erstaunlicherweise schmerzte dieser Gedanke nicht mehr so stark, wie vor zwei Wochen. Allerdings machte das die Sache nur noch schlimmer.
‚Willst du aufgeben?‘, fragte eine überraschend nüchtern klingende Stimme in Eriks Kopf. Rückzug war bei Wettkämpfen nie seine Art gewesen. Der Kampf gegen die Windmühlen jedoch auch nicht.
„Vielleicht hat Alex ja recht“, murmelte Erik verhalten. Um Tom sagen zu können, was er dachte, musste er sich erst einmal klar werden, was denn in seinem Kopf vorging. Leider war Erik sich in letzter Zeit nicht mehr sicher, wohin seine Gedanken ihn treiben wollten. Und ob ihn das am Ende wirklich zu Tom führen konnte.
---------
A/N: Der weise Rat von Alexanders Mama stammt von einer lieben Leserin und ich darf den mit ihrer Erlaubnis verwenden ;) Danke noch einmal dafür
Wer "Die Leiden des jungen Werther" (https://www.amazon.de/dp/B00CEMXADQ/ref=cm_sw_em_r_mt_dp_QeXxFbB81GN66 kostenloses Ebook bei Amazon) nicht in der Schule lesen musste und es sich (verständlicherweise) auch nicht antun will, der kann sich hier (Youtube: https://youtu.be/vhPr3A8Y-Wg ) eine meiner Meinung nach sehr unterhaltsam gemachte und zumindest für das, was ich hier verwende ausreichende Zusammenfassung mit nur 9,5 Minuten Laufzeit ansehen ;)
Ich habe inzwischen mehrmals gesagt bekommen, dass einige dieses ... Werk schon in unteren Klassenstufen lesen mussten. Vielleicht liegt es an unterschiedlichen Lehrplänen oder der Tatsache, dass meine Schulzeit schon etwas länger zurückliegt ^^` Ich kann mich dennoch noch sehr gut daran erinnern, dass das bei meinem Parallelkurs tatsächlich erst in der 11. oder 12. dran war. Mein Deutschlehrer war da vernünftiger und hat es gar nicht erst herausgekramt :-D Wahrscheinlich würde er mich dafür bedauern, dass ich es mir 20 Jahre nach der Schule doch noch angetan habe ^^`