30 – Zukunft und Aussichten
Es gelang Erik Sandro und dessen Affen bis zum nächsten Tag aus dem Weg zu gehen. Zumindest begegnete er ihnen weder im Schulgebäude noch auf dem Heimweg. Der Vorfall nach dem Matheunterricht ließ Erik trotzdem keine Ruhe.
Deshalb saß er am Abend am Schreibtisch und grübelte, nachdem er die Hausaufgaben erledigt hatte, darüber nach, warum Sandro ausgerechnet jetzt wieder auf ihn losging. Gerade wollte Erik genervt aufgeben, da dämmerte es ihm allmählich.
„Ines“, wisperte er keuchend. Die hatte heute in Mathe nicht neben Sandro gesessen. Für einen kurzen Moment war Erik sich nicht einmal sicher, ob sie da gewesen war.
‚Krank oder haben die sich wieder getrennt?‘, fragte er sich automatisch. Nicht, dass ihn Sandros Liebesleben einen feuchten Dreck interessieren würde. Aber der kausale Zusammenhang zwischen der miesen Laune vom Affenkönig und der fehlenden Hand in dessen Schritt war schließlich durchaus wahrscheinlich.
Mit einem Stöhnen ließ Erik den Kopf auf den Schreibtisch fallen. Dabei war die Schule, nachdem Berger die Pornopoesie eingestellt hatte, einigermaßen erträglich geworden. Hoffentlich war Ines nur krank.
Erik drehte den Kopf zur Seite und starrte auf das Handy, das neben dem Block lag und den ganzen Abend keinen Piep von sich gegeben hatte. Zugegeben, er hatte nicht wirklich gehofft, dass Tom sich melden würde. Der hatte am Vorabend recht deutlich gesagt, dass er heute keine Zeit hätte wegen irgendeines blöden Referats, das er morgen früh halten sollte. Aber im Augenblick wünschte Erik sich, er würde es trotzdem tun.
‚Toms Gesellschaft wäre sicherlich in mehrerlei Hinsicht hilfreich.‘
Kaum war der Gedanke entstanden, schämte Erik sich dafür. Schnell stand er auf und stapfte in den Flur. Er brauchte kein Licht, um den Gang entlang zur Küche zu kommen. Die Lampe im geöffneten Kühlschrank war genug, um darin ein paar Reste zu finden, die seine Mutter Erik scheinbar für heute übrig gelassen hatte.
Das schummrige Leuchten der Mikrowelle, als sich die Plastikdose darin drehte, um das Essen zu erhitzen, wirkte merkwürdig. Trotzdem konnte Erik den Blick nicht abwenden. Je länger er darauf starrte, desto klarer wurde die Stimme in seinem Kopf. Dieses verfluchte Flüstern, das immer drängender zu werden schien. Versuchte Erik einzureden, dass er nur zu Tom hinüber fahren müsste, um sich seine Ablenkung zu holen. Der würde nicht ‚Nein‘ sagen.
„Hör auf“, flüsterte Erik kaum hörbar und erschrak trotzdem über die eigene Stimme.
Hastig trat er einen Schritt zur Wand und schaltete das Licht an. Aber es half nicht. Denn am Ende des Tages war er weiterhin alleine hier.
✑
Zusammengesunken saß Erik am nächsten Morgen auf dem Stuhl im Klassenzimmer. Eigentlich hatte er sich mit Beginn des neuen Kalenderjahres vorgenommen gehabt, nicht mehr unnötig früh hier aufzutauchen. Aber die innere Unruhe, die letzte Nacht in Erik aufgetaucht war, wollte ihn nicht loslassen. Selbst jetzt spürte er das Hämmern in der Brust.
Dabei gab es dafür nicht einmal einen Grund. Jedenfalls keinen, der physisch anwesend gewesen wäre. Denn wie immer saß Erik zwanzig Minuten vor Beginn der Stunde allein hier. Wer außer ihm würde freiwillig derart früh hier auftauchen? Immerhin saß Erik dank des Bibliotheksbesuchs vor Kurzem nicht sinnlos wartend hier, sondern versuchte sich auf die stetig verschwimmenden Zeilen eines Buches zu konzentrieren.
„Guten Morgen, Erik.“
Erschrocken fuhr er zusammen und sah auf. Irgendwie war es zu erwarten gewesen, dass Berger hier ebenfalls zu früh auftauchte. Trotzdem schaffte der Kerl es immer wieder, Erik mit seinem plötzlichen Auftauchen zu erschrecken.
„Morgen“, gab er leise zurück, während er aus dem Augenwinkel Berger dabei beobachtete, wie der seine Sachen aus dem Rucksack packte und auf dem Lehrertisch verteilte.
‚Alles wie immer.‘
Und genau wie sonst auch, schaffte Erik es nicht, die Augen von diesem Blödmann zu nehmen. Viel zu enge Jeans und gebügeltes Hemd. Glatt rasiert und die Haare ordentlich gekämmt – im offensichtlich sinnlosen Versuch, die kleinen Locken zu verstecken, die sich insbesondere bei feuchtem Wetter wie heute zeigten.
Schnell senkte Erik den Blick ab und stattdessen zurück auf das Buch. Wenn er Berger nicht ständig anstarrte, blieben diese verdammten Fantasien da, wo sie hingehörten. Trotzdem schaffte Erik es nicht, sich auf den Text im Buch zu konzentrieren. Schon gar nicht, als er den Stuhl am Lehrertisch über den Boden schrammen hörte.
Mit dem Geräusch kamen die Bilder, diese verfluchte Vorstellung davon, wie Erik Berger von dem Stuhl zerrte und gegen die Tafel presste. Er konnte das herausfordernde Grinsen geradezu vor sich sehen. Das Blitzen in den grünen Augen, die ihn verhöhnten, weil er es nicht wagen würde, noch weiter zu gehen.
Krampfhaft versuchte Erik, sich auf den nächsten Satz zu konzentrieren, aber die Worte verschwammen, wurden zu etwas Neuem, völlig anderen. Keine Kopie dieses ersten Aufsatzes. Eher dessen Fortsetzung.
Schnell schlug Erik das Buch zu und fuhr sich über die Augen. Wieso konnte sich dieser Blödmann ständig in seinen Kopf schleichen? Berger hatte da nichts zu suchen. Der Kerl war verdammt noch einmal ein Lehrer! Über die konnte man Vieles denken, aber sicherlich nicht so etwas.
‚Ist halt ein verflucht gut aussehender Lehrer.‘ Ja, aber das sollte keinen Unterschied machen!
Als Erik erneut zu Berger schielte, bemerkte er, dass der direkt zu ihm zurückblickte. Für einen winzigen Augenblick glaubte Erik die grünen Augen, zu dem Buch vor ihm zucken zu sehen. Schon begann es in ihm zu gären. Vermutlich dachte der Kerl das Gleiche, was alle immer gedacht hatten, was Tom förmlich ins Gesicht geschrieben gewesen war.
‚Jungs wie du lesen nicht und wenn dann Comics oder Pornoheftchen.‘
Im Grunde konnte es Erik egal sein, was Berger von ihm dachte, genau wie bei den ganzen anderen Schwachmaten. Dem blöden schwarzen Loch in Eriks Bauch war es aber offenbar nicht egal. Wahrscheinlich war das der Grund, warum er kurz darauf das Buch näher zu sich heranzog, allerdings nicht wieder aufschlug.
„Ich wollte Sie nicht stören“, gab Berger mit einem kaum merklichen Lächeln zurück.
„Haben Sie nicht“, murmelte Erik verhalten, während er das Buch in den Rucksack gleiten ließ.
„Lesen Sie ruhig weiter. Wegen mir müssen Sie nicht aufhören.“
Sofort spürte Erik den Trotz und den Widerwillen in sich aufsteigen. „Mach ich nicht“, platzte es entsprechend aus ihm heraus. „Das Kapitel war eh zu Ende“, fügte Erik nach einer kurzen Pause hinzu, damit es nicht ganz so jämmerlich klang. Obwohl die Tatsache, dass es gelogen war, in einem recht deutlichen Gegensatz zu diesem Vorsatz stand. Aber das wusste Berger schließlich nicht.
Es dauerte quälend langsame sieben Minuten bis endlich noch jemand aus seinem Kurs auftauchte. Eine gefühlte Ewigkeit, in der Erik quasi jede Sekunde auf die Uhr an der Wand schielte. Dass es ausgerechnet Hanna war, die den Raum betrat, Berger freundlich grüßte und sich dann zufrieden lächelnd auf ihren Platz begab, machte die eigentlich willkommene Unterbrechung allerdings eher unangenehm. Genau wie das anschließend erneut einsetzende Schweigen. Wenigstens trudelten in den folgenden Minuten stetig mehr Leute ein, sodass von der Ruhe nichts übrig blieb.
‚Du solltest ernsthaft aufhören, immer so früh hier zu sein‘, ermahnte Erik sich erneut. Als er ein weiteres Mal zu Berger schielte und dessen Augen sich förmlich in ihn hinein zu bohren schienen, geriet dieser Entschluss jedoch umgehend ins Wanken.
Es war dumm, unvorsichtig und vermutlich reichlich dämlich. Mal davon abgesehen, dass Erik keine Ahnung hatte, warum diese beschissene Flattern in seinem Bauch danach verlangte. Es war egal, wie oft Erik sich sagte, dass er den Kerl da drüben nicht leiden konnte. Diese paar Minuten jeden Dienstag und Donnerstag Morgen, in denen Berger ihn stumm anstarrte, gehörten nur Erik. Die konnte er nicht einfach aufgeben.
„Bitte setzen Sie sich“, forderte Berger mit ruhiger Stimme den Kurs auf, kaum dass die Schulglocke die Stunde eingeleitet hatte.
Ein kurzer Seitenblick über die Schulter und Erik stellte fest, dass Ines heute nicht bei Sandro saß. Allerdings war sie ebenso wenig krank. Zumindest sah sie nicht sonderlich angeschlagen aus, wie sie da neben ihrer Freundin Jenny hockte. Wirklich wütend jedoch auch nicht. Im Gegensatz zu Sandro, der angefressen auf dem Stuhl in der letzten Reihe fläzte und Ines mit finsteren Blicken den Nacken malträtierte.
„Nachdem wir uns in den vergangenen Wochen ausgiebig mit verschiedenen Rollenmodellen und der Identifikation von Beziehungsgeflechten befasst haben, gehen wir heute zum nächsten Abschnitt über“, begann Berger und erhob sich.
Ein kurzes Murmeln wanderte durch die Klasse, das ihr Lehrer geflissentlich ignorierte. Stattdessen trat Berger zur Tafel und schrieb mit geübtem Schwung das Thema der heutigen Stunde an.
„Lebensziele“, las er kurz drauf vor und drehte sich wieder zur Klasse.
Weiteres Gemurmel, während Erik in sich zusammensank. Als ob er von dem Scheiß nicht bei seiner Mutter schon genug hörte. Jetzt musste Berger auch noch damit anfangen. Missmutig fing Erik an, auf dem Block vor ihm die Karos auszumalen, um sich abzulenken.
„Sie werden in absehbarer Zeit Ihren Abschluss machen. Zumindest darf man das bei den meisten von Ihnen annehmen“, fuhr Berger mit einem viel zu attraktiven Grinsen fort.
Prompt erntete er dafür von den Damen Gekicher und von den Herren eher grummelndes Gemurmel.
Von beidem ließ Berger sich nicht aus der Fassung bringen. Ungerührt fuhr er fort: „Wer von Ihnen hat vor nach dem Abschluss eine Ausbildung zu beginnen?“
Zaghaft meldete sich ein Teil der Klasse und erinnerte Erik ein weiteres Mal daran, dass er bisher nicht einmal eine grundsätzliche Ahnung hatte, was er nach dem Sommer machen wollte.
„Gut. Hat der Rest von Ihnen vor zu studieren?“
Prompt kamen ungefragt die ersten Antworten in Form von Studiengängen und Abschlüssen. Selbst Sandro schien zu planen, die berufliche Zukunft an der Uni fortzusetzen. Die Tatsache, dass der Affenkönig wusste, was er mit seinem Leben anfangen wollte, versetzte Erik einen weiteren Schlag in den Magen. Kein Wunder, dass seine Mutter allmählich ungeduldig wurde.
Berger ließ sie einige Minuten diskutieren, nach fast einer halben Stunde brach er allerdings ab mit den Worten: „Bitte kommen Sie wieder zur Ruhe, damit wir fortfahren können.“
Es dauerte weitere fünf Minuten, bis der Rest der Kurses, der Aufforderung tatsächlich nachgekommen war. Erik malte derweil Karos auf dem Block an. Diese Diskussion wollte er nicht mit seiner Mutter führen. Sicher würde er sich hier keine Blöße geben, was die eigene Planlosigkeit anging.
„Nachdem Sie scheinbar eine gewisse Vorstellung, ihrer beruflichen Zukunft haben, können Sie die Aufgabenstellung dieser und der nächsten Stunden hoffentlich schnell umreißen.“ Er deutete auf die Tafel. „Zu Lebenszielen gehört allerdings mehr als eine berufliche Zukunft. Was genau?“
„Familie“, schoss es umgehend von Hannas Seite heraus. Als Berger mit einem gequälten Lächeln nickte, strahlte sie über das ganze Gesicht. Eriks Blick hingegen wurde finsterer.
‚Zum Kotzen, die blöde Kuh.‘
„Auch Familie kann ein Teil Ihrer Lebensplanung sein. Was noch?“
Diesmal schwieg die Klasse, was Berger ein Seufzen abzwang. „Sind Karriere und Familie alles, was Sie im Leben erreichen möchten?“
„Was soll es da denn noch geben?“, fragte Oliver eher murmelnd zurück.
Bergers eiskaltes Lächeln war alles andere als freundlich. „Haben Sie keine Hobbys?“
„Doch, natürlich“, meinte Oliver daraufhin murrend. „Aber ein Hobby ist ja kein Lebensziel.“
„Wenn Sie in Ihrem Leben in diesem Bereich noch etwas Bestimmtes erreichen wollen, dann ist doch ein Ziel. Oder nicht?“ Oliver überlegte kurz und nickte daraufhin. „Fangen wir zunächst mit Familie an“, lenkte Berger ein und trat zur Tafel.
Erik ahnte Schlimmes. Am liebsten wäre er abgehauen, denn das Thema ‚Familie‘ erschien in ihm Zusammenhang mit seiner eigenen Person ein mehr als gefährliches Pflaster. Abgesehen davon, dass er einen kriminellen und gewalttätigen Vater hatte, der im Knast saß und eine Mutter, die ihre Zeit mit Arbeiten verbrachte, besaß Erik schließlich keinerlei ‚Familie‘. So gern er etwas anderes behauptet hätte, Tom zählte sicher nicht in die Kategorie. Und auch Alex oder Benny konnten sich dort nicht einsortieren.
„Wir haben in den letzten Stunden verschiedene Beziehungstypen durchgesprochen.“, fuhr Berger fort, während er an der Tafel eben jenes Wort notierte. „Ich möchte, dass Sie zunächst nur für sich selbst notieren, welche familiären Beziehungsmodelle Sie in den nächsten Jahren anstreben. Formulieren Sie sie entsprechend aus. Sie haben zwanzig Minuten für diese Aufgabe.“
Verwundert runzelte Erik die Stirn und sah auf. „Modelle?“, fragte er zögerlich. Berger hielt im Schreiben inne und sah über die Schulter zu Erik zurück. „Mehrzahl?“
Ein kurzes, diesmal deutlich ehrlicher wirkendes Lächeln zog für eine Sekunde an den Mundwinkeln seines Lehrers. „Glauben Sie denn daran, dass ihre nächste Liebesbeziehung die einzig verbleibende in Ihrem Leben sein könnte, Erik?“
Das Lachen, das schlagartig durch die Klasse wanderte, ließ ihn zusammenzucken. Erik konnte förmlich spüren, wie ihm das Blut in den Kopf schoss, seine Ohren unter dem darin hämmernden Blutfluss begannen zu glühen. Betreten senkte er den Blick. Der dämliche Lehrer musste Erik natürlich gleich vor dem ganzen Kurs vorführen.
Da half es auch nichts, dass Berger bei dem aufkommenden Lachen und den hämischen Bemerkungen aus der letzten Reihe, umgehend zur Ordnung aufrief. Mit garantiert hochrotem Kopf sank Erik immer weiter in sich zusammen, verzweifelt darum bemüht, sich auf die verfluchten Karos zu konzentrieren, um nicht die Kontrolle zu verlieren.
„Als ob Typen wie der nicht nur dauergeil auf den nächsten Arsch wären“, hörte Erik plötzlich, zwischen den anderen, Sandro heraus.
Da half auch keine Ablenkung mehr. Keine Vernunft oder gar die winzig kleine Stimme von Eriks Verstand, die ihm zurief, dass er sich von dem Affenarsch nicht provozieren lassen sollte. Eriks Hirn setzte komplett aus. Ehe er wusste, wie ihm geschah, war der Stuhl nach hinten geflogen und Erik auf dem besten Weg, das gleiche Schicksal in Bezug auf die Schule zu nehmen.
Bevor er Sandro erreichen konnte, legte sich allerdings ein überraschend kräftiger Arm um Eriks Brustkorb und hielt ihn fest. Er bäumte sich auf, aber eine zweite Hand kam hinzu und bevor Erik begriff, was geschah, wurde er herumgerissen und zurück in Richtung seines Platzes gestoßen.
Keuchend lag Erik mit dem Gesicht auf dem Fußboden und wusste, weder wie er dort gelandet war, noch wer ihn zu Boden gerissen hatte. Anstatt demjenigen dankbar zu sein, dass er Erik von einem wahrscheinlich fatalen Fehler abgehalten hatte, knurrte er erbost. Hastig sprang Erik auf und wirbelte herum, nur um direkt in die wütend funkelnden Augen seines Lehrers zu starren.
„Setzen!“
Eriks Atem ging schwer. Das Herz in seiner Brust hämmerte wie wild, aber er konnte sich weder von diesen grün schimmernden Augen losreißen, noch dem Befehl gehorchen. Ein weiteres Knurren entkam Erik, als er zu Sandro schielte, der breit grinsend neben dem Stuhl stand und offensichtlich darauf wartete, dass Erik es sich anders überlegte. Im Grunde wäre das ziemlich einfach. Berger beiseiteschieben und Sandro das Grinsen aus der hässlichen Fresse schlagen. So wie er es verdiente!
„Setzen Sie sich“, forderte Berger Erik erneut auf, als er einen Schritt vor trat. Damit stand der Blödmann so nah vor Erik, dass der wieder einmal dieses verdammte Aftershave riechen konnte.
Er blinzelte und sah zurück zu Berger. Ganz allmählich kam Eriks Hirn wieder in Gang, als er bemerkte, dass es keine Wut war, die ihm da entgegenschlug. Sondern vielmehr etwas, das er nicht benennen konnte. Vielleicht eher nicht wollte. Weil er es zu oft als Kind in den Augen seiner Mutter gesehen hatte.
Bergers Mund bewegte sich, aber die Worte waren kaum verständlich: „Das ist es nicht wert, Erik.“
Für einen Moment war er sich nicht sicher, ob es am Rauschen in seinen Ohren lag, oder ob Berger tatsächlich so leise gesprochen hatte. Trotzdem erreichten ihn die Worte. Langsam trat Erik einen Schritt zurück. Noch einmal funkelte er den inzwischen nicht mehr grinsenden Sandro an. Aber Berger hatte recht. Der Affe war es nicht wert. Genau deshalb hatte Erik ihm doch gestern auch keine reingehauen. Also hob er den Stuhl auf und setzte sich zurück an seinen Platz.
„Und Sie setzen sich besser ebenso wieder, Herr Claasen“, zischte Berger reichlich ungehalten Sandro an. „Wenn ich noch einmal eine solche Entgleisung von Ihnen höre, können Sie sich vor dem Direktor erklären!“
Sandro gehorchte umgehend, allerdings nicht, ohne Erik seinerseits wütend anzusehen. Den Schulverweis wegen einer Prügelei so kurz vor den Prüfungen wollten sie aber wohl beide nicht riskieren.
‚Besser so. Sonst würde deine Mutter erfahren, warum es überhaupt dazu kam.‘
Der Gedanke ließ Eriks Herzschlag erneut in die Höhe schnellen. Natürlich würde bei einem Schulverweis auch ans Licht kommen, weshalb es zu diesem gekommen war. Das hieß, Eriks Mutter würde nicht nur erfahren, dass ihr in früheren Jahren so unauffälliger Sohn augenscheinlich mehr nach seinem cholerischen Vater schlug als gehofft. Sondern auch noch ganz andere Dinge.
Verunsichert schielte Erik zu Berger, der mit gerunzelter Stirn vor den Kurs trat. Der Blödmann hätte ihn auflaufen lassen können. Stattdessen hatte er Erik den Arsch gerettet, indem er eingegriffen hatte. Und schon wieder führte dieser Gedanke zu diesem beschissenen Flattern in Eriks Brust.
„So ein Verhalten werde ich nicht weiter tolerieren!“, fauchte Berger wütend in Richtung des Kurses, als er am Lehrertisch angekommen war und sich umdrehte. „Intoleranz, Aggressivität, Ignoranz und Gewalt. Halten Sie das für eine angemessene Verhaltensweise?!“ Betreten sank Erik in sich zusammen. „Ist das die Art Mensch, die sie sein wollen? Erik? Sandro?“
„Nein“, murmelte Erik verhalten. Den Affenkönig konnte er über das Rauschen in seinen Ohren nicht hören.
„Meinen Sie ernsthaft, dass eine Prügelei die Lösung für Ihre Konflikte ist?“
Schweigend schüttelte Erik den Kopf, obwohl ein Teil von ihm gern etwas anderes geantwortet hätte. Denn zumindest was das Problem mit Sandro anging, erschien ihm eine Tracht Prügel, eine durchaus geeignete Lösung dafür, dem Affenarsch endlich zu zeigen, dass Erik sich nicht alles gefallen ließ. Das in der Schule vor der ganzen Klasse zu tun, war allerdings ausgesprochen dämlich. Von Sandro kam ebenso keine Antwort. Den Blick über die Schulter sparte Erik sich. Wahrscheinlich grinste der Mistkerl schon wieder vor sich hin.
Berger seufzte und rieb sich kurz über das linke Handgelenk. Misstrauisch verengten sich Eriks Augen, als er die Bewegung bemerkte. Die Hände, die ihn gepackt und herumgezerrt hatten, mussten zu Berger gehört haben. Bei dem Gedanken fing Eriks Herz sofort wieder an zu rasen. Das Milchgesicht hatte ihn von hinten erwischt und zu Boden werfen können. Das hätte Erik Berger nicht zugetraut. Scheinbar steckte da deutlich mehr Kraft in dem harmlos erscheinenden Körper, als er vermutet hatte.
Gedankenverloren rieb Erik sich über die Stelle, an der Bergers Arm sich um seine Brust gelegt hatte. Hätte der blöde Lehrer ihn nicht aufgehalten, würde Sandro jetzt mit blutiger Nase am Boden liegen. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Zehn Minuten später hätte Erik vorm Schreibtisch des Direktors gestanden, um den Mist zu verantworten.
‚Berger hat dir den Arsch gerettet.‘
„Da einige von Ihnen, offenbar ein Problem mit dem Thema Weitsicht zu haben scheinen, bekommen Sie bis morgen eine Zusatzaufgabe.“
„Was? Ich hab doch gar nichts gemacht“, versuchte Sandro sofort sich rauszureden. „Die Schwuchtel wollte auf mich losgehen. Das haben ja wohl alle gesehen.“
Schon ballten sich Eriks Fäuste und das Brodeln wurde stärker. Wenn er Sandro die Fresse polierte, würde der ganz sicher nicht mehr tönen, dass er von einer ‚Schwuchtel‘ verprügelt worden war. Aber Berger hatte recht. Den Schulverweis waren weder Sandro noch die Genugtuung, dem eine reinzuhauen wert.
Ein krachendes Geräusch ließ Erik erschrocken zusammenzucken. Er hob den Kopf und starrte mit weit aufgerissenen Augen zu seinem Lehrer, der wutentbrannt neben dem Lehrertisch stand, auf dem offenbar gerade krachend Bergers Hand gelandet war
„Scheinbar habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt, Herr Claasen. Ich bin ihre Intoleranz und Arroganz satt. Alle in diesem Kurs haben gehört, wie Sie hier versucht haben zu provozieren – es immer noch tun. Wenn Sie beide meinen, es wäre ‚erwachsen‘ oder ‚cool‘, sich gegenseitig die Nase einzuschlagen.“ Als Berger bei diesen Worten zu Erik blickte, schluckte der und senkte hastig den Kopf, um dem stechenden Blick auszuweichen. „Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Außerhalb des Schulgeländes. Aber in meinem Unterricht benehmen Sie sich gefälligst!“
Schweigen trat ein. Niemand wagte es, ein Wort zu sagen. In Eriks Brust hämmerte es noch immer wie wild. Ein leichtes Zittern wanderte durch seinen Körper. Der verweigerte derweil den Dienst, folgte dem Befehl, den Kopf zu heben, um Berger anzusehen, diesmal nicht.
„Sie wollen Ihr Abitur machen. Wie lange haben Sie noch vor sich wie unreife Teenager aufzuführen?“
Bergers Stimme zitterte. Der Mann war nicht nur ein bisschen wütend, auch nicht einfach angefressen, sondern stinksauer. Noch immer saß der ganze Kurs geschockt da und starrte ihren sonst so ruhig und emotionslos erscheinenden Lehrer an.
„Bis zu Ihrem Abschluss?“, fuhr Berger lautstark fort. „Bis zum Ende Ihrer Ausbildung? Der Uni? Bis Sie selbst Kinder haben? Wollen Sie denen diese Art der Konfliktlösung beibringen?“
Wieder stockte Berger und mit einem Mal war der Blick, den der Mann über die Gesichter seiner Schüler gleiten ließ nicht mehr wütend. Irritiert sah Erik genauer hin, aber es blieb dabei. Berger erweckte eher den Eindruck, als wäre er über diesen Ausbruch selbst überrascht. Vermutlich fuhr Berger sich deshalb unwirsch durch die ohnehin aus ihrer Ordnung geratenen Haare. Ein tiefer Atemzug, dann trat ihr Lehrer, gewohnt kontrolliert einen Schritt zurück vor die Tafel.
„Ich will, dass Sie darüber nachdenken, wie Ihr Leben aussehen soll.“
Die Klasse schwieg weiter, bis sich Hanna vorsichtig meldete und auf Bergers Nicken hin leise fragte: „Ist das eine Aufgabe für alle?“
„Ja.“
Der Ausbruch schien vorerst vorbei zu sein. Zumindest klang Bergers Stimme deutlich beherrschter. Dabei war Erik sich weiterhin sicher, dass da gerade etwas in dem Kerl durchgebrannt war, dass er in den letzten Monaten stetig versucht hatte zu provozieren.
‚Und ausgerechnet Sandro, der Arsch, ist dafür verantwortlich, dass der Blödmann endlich mal Emotionen zeigt.‘
Schweigend starrte Erik zu Berger. Bisher hatte er keine extra Strafarbeit kassiert. Trotzdem fühlte er sich scheiße.
„Überlegen Sie sich, was Ihre Lebensziele für die nächsten fünf Jahre sind. Familie, Beziehung, Beruf, Hobbys. Was auch immer Sie für wichtig erachten. Und dann beschreiben Sie in Form einer Kurzgeschichte eine Szene, die all das verinnerlicht. Einen Ausschnitt aus einem Tag Ihres Lebens in fünf Jahren. Beachten Sie dabei auch die literarische Form.“
Ein Murmeln ging durch den Kurs, als die Ersten anfingen zu diskutieren, dass diese Zeit so viele Veränderungen bringen würden, dass man das gar nicht abschätzen könnte. Erik schwieg weiter. Genau wie Berger, der mit einem Mal vollkommen teilnahmslos geradeaus starrte.
Eigentlich sollte Erik froh sein, dass er nicht schon wieder Ziel dieser eiskalten Blicke wurde. Aber irgendwie gefiel ihm der schweigende Berger noch viel weniger. Denn egal, wie sehr der Kerl versuchte, es zu verstecken, Erik war sich absolut sicher, dass da weiterhin ein verflucht gefährlicher Vulkan brodelte.
„Woher soll ich wissen, wie die nächsten Jahre verlaufen?“, hörte Erik irgendwann Ines fragen.
Etwas irritiert sah er sich um. Der Kurs schien einfach weiter diskutiert zu haben. Da Erik ja nicht einmal eine Ahnung hatte, wo er in fünf Jahren überhaupt sein wollte, sah er nun wieder zu Berger, um dessen Antwort mitzubekommen.
„Es geht nicht darum, wo sie zu diesem Zeitpunkt sein werden“, antwortete Berger mit einem kurzen Seufzen. „Sondern darum, wo sie in fünf Jahren sein wollen.“
„Und der Unterschied ist?“
„Also wenn Sie das nicht erkennen, Oliver, dann sollten Sie ein paar Nachhilfestunden vor den Prüfungen nehmen“, fauchte Berger offensichtlich genervt zurück.
Glücklicherweise mussten sie alle das sich anbahnende Drama nicht länger ertragen. Noch nie war die Schulglocke Erik so willkommen gewesen, wie in diesem Moment. Er beeilte sich, seine Sachen einzupacken, um in Richtung Physiklabor zu verschwinden. Auf keinen Fall wollte Erik riskieren, dass Berger auf die dämliche Idee kam, ihm doch noch eine weitere zusätzliche Aufgabe aufzubrummen.