14 – Pläne und Änderungen
Als er am nächsten Tag in die Schule kam, hatte Erik schon schlechte Laune, kaum dass er das Klassenzimmer betrat. Das lag allerdings nicht daran, dass Tom am Vorabend für ihn keine Zeit gehabt hatte. Der Grund war auch nicht, dass Erik, wohl aus Gewohnheit von seinen Übernachtungen bei Tom, trotzdem bereits um sechs Uhr wach und aufgestanden war.
Deshalb hatte Erik sich regelrecht drauf gefreut, vor der verhassten Deutschstunde, noch ein paar Minuten Ruhe genießen zu können, bevor der Sturm in Form von Sandro und seiner Affenbande über ihn hereinbrach. Heute hatte Erik aber offenbar kein Glück.
Zu allem Überfluss war es nicht einmal ein Schüler, der ihn überholt hatte, sondern der verdammte Deutschlehrer. Berger stand an der Tafel und schrieb irgendwas an. Erik blieb neben der Tür stehen und schielte zu seinem Lehrer. Nach einigen Sekunden rang er sich ein reichlich lahmes „Tag“ ab, rührte sich aber noch immer nicht vom Fleck.
„Guten Morgen, Erik“, antwortete Berger ohne jede sichtbare Gefühlsregung. Kein Lächeln, keine freundliche Geste, nichts. Das Arschloch drehte sich nicht einmal um, sondern schrieb schlichtweg weiter.
Konnte Berger ihn denn nicht mal ansatzweise leiden? Der Gedanke versetzte Erik einen ungewollt heftigen Schlag in den Magen. Dabei konnte er den Kerl doch selbst nicht ausstehen. Trotzdem machte es ihm verflucht noch einmal etwas aus, dass der Mistkerl ihn ständig ...
‚Ja, was verdammt eigentlich?‘, fragte er sich und schielte zu Berger.
Stirnrunzelnd beobachtete Erik, wie sein Lehrer einen Vers nach dem anderen an die Tafel schrieb. Schon wieder irgend so ein poetischer Sermon, den kein Mensch bei klarem Verstand länger als drei Sekunden ertragen konnte.
Wieso sah der Scheißkerl ihn nicht einmal an? Gab es keine Vorschrift, dass Lehrer zumindest so tun mussten, als würden sie ihre Schüler mögen? Oder fand Berger ihn einfach derartig widerlich, dass der ihn nicht einmal mehr ansehen konnte? Schon wieder dieses verfluchte Ziehen an seinen Eingeweiden. Das nervte! War doch scheißegal, was Berger von ihm hielt.
‚Nach dem kranken Mist aus deiner Strafarbeit von vor zwei Monaten braucht du da auf nichts Positives hoffen‘, höhnte die allmählich vertraut gewordene Stimme und Erik fuhr zusammen.
„Wollen Sie da noch lange in der Gegend rumstehen?“, fragte die ruhige und wie immer emotionslose Stimme Bergers und riss Erik damit aus den Gedanken.
Zähneknirschend lief er zu seinem Platz und setzte sich. War nach dem Scheißdreck, den er Berger vorgesetzt hatte, wohl nicht verwunderlich, wenn der auf Sandros Seite stand. Nicht, dass Erik jemandem bräuchte, der ihn überhaupt ‚verteidigte‘. Er war schließlich kein Weichei, verdammt noch mal! Trotzdem hatte Erik ständig das Gefühl, dass er dem Arschloch von Lehrer eine Lektion erteilen müsste.
Wütend funkelte Erik Berger an, der weiterhin mit dem Rücken zu ihm stand. Mit jeder verstreichenden Minute wurde das Brennen in seinem Bauch stärker. Nur zu gern würde Erik diesem Blödmann da vorn endlich mal zeigen, wie es war, wenn man immer mehr die Kontrolle über das eigene Leben verlor. Wenn man nur noch ein Objekt der Belustigung für andere war. Eriks Blick glitt an der durch das dünne Hemd gut sichtbaren Wirbelsäule entlang weiter nach unten.
‚Wie unterhaltsam würde es wohl werden, wenn du deinen Aufsatz tatsächlich wahr machen könntest?‘
Hastig schüttelte Erik den Kopf. Schwachsinn! Abgesehen davon, dass Berger ihm in die Eier treten und danach postwendend zum Direktor stürmen würde, war es schlicht krank, überhaupt darüber nachzudenken. Die Vorstellung, sich jemandem aufzuzwingen, war abartig. So etwas würde Erik nie tun! Außerdem hatte er Tom und das mit dem war ‚gut‘.
Trotzdem huschte Eriks Blick schon wieder über den festen kleinen Apfelpopo, der sich von links nach rechts vor der Tafel bewegte. Im Gegensatz zu Sandro hatte Berger keinen Schlägertrupp, der ständig um ihn herumscharwenzelte. Und der Kerl war deutlich kleiner als Erik. Klar, man sollte ihn definitiv nicht unterschätzen. Aber körperlich konnte Berger ihm nie im Leben das Wasser reichen. Das Arschloch zu Boden zu werfen wäre ein Leichtes.
‚Und dann?‘
Verzweifelt versuchte Erik, die Bilder zurückzudrängen, die sich in seinem, offenbar doch durch die Schikanen gestörten Hirn, nach vorn drängten. Eriks Schwanz zuckte trotzdem bei dem Gedanken, was er mit einem willigen Körper unter sich machen könnte. Nur dass Berger eben vermutlich überhaupt nicht ‚willig‘ wäre. Dennoch hörte Erik, wie etwas in seinem Kopf behauptete, der würde es wollen. Eine Stimme, die Erik dieses beschissene ‚Fick mich‘, vorgaukelte. Nur dass es verdammt noch einmal nicht Bergers Stimme war, sondern Toms.
‚Fuck! Du bist dermaßen am Arsch! Denk endlich an was anderes!‘, ermahnte Erik sich erneut.
Er atmete tief durch und packte betont langsam Hefter und Stift aus. Im Flur waren die Stimmen einiger Mädchen zu hören. Erik hätte nicht sagen können, ob sie zu seinem Kurs gehörten. Sie halfen trotzdem, Eriks Schwanz jegliches sexuelle Interesse sofort zu entziehen. Dennoch starrte er weiterhin auf seinen Hefter, um nicht schon wieder von dem Blick zu Berger, auf falsch Gedanken gebracht zu werden.
Irgendwann drückte die Neugier jedoch zu heftig von innen gegen Eriks Brust und so hob er doch wieder den Kopf, um zur Tafel zu sehen. Was das Objekt seines Hasses da angeschrieben hatte, war offensichtlich – schon wieder – ein Gedicht.
O grabe der herrlichen Zähne
Blauschimmernde Perlenreihn
In raubtierwild-rasenden Küssen
Tief in die Schulter mir ein!
‚Scheiße Mann! Was denkt das Arschloch sich eigentlich?‘, fluchte Erik innerlich.
Krampfhaft presste er die Augen zusammen, um die sofort präsenten Bilder eines gewissen schwarzhaarigen Kerls aus seinem Kopf zu bekommen.
‚Seit Wochen nur noch diese verfickte Pornopoesie!‘
So sehr Erik sich bemühte, sein Blick glitt erneut von der Tafel ab und stattdessen zum Rücken seines Lehrers. Der war dazu übergangen neben dem Gedicht einige Fragen anzuschreiben. Die interessierten Eriks zunehmend auf Autopilot umschaltendes Hirn jedoch nicht im Geringsten. Dafür kribbelte es ihm verlangend im Schritt, als Eriks Augen ein Stück tiefer wanderten. Zu dem hübschen, festen Po, der für genau diese Jeans gemacht worden war – oder umgekehrt. Im Moment war Erik nicht wirklich geistig in der Lage, diese Frage zu klären. War aber im Grunde sowieso egal.
Stimmen waren vor der Tür zu hören und nur wenige Sekunden später trat Hanna, eines der Mädchen aus seinem Deutschkurs, durch die Tür. Hastig zwang Erik den Blick aufwärts. Bergers Haare waren kurz geschnitten, aber noch so lang, dass er dafür garantiert zum Friseur ging, anstatt wie Erik zum Scheraufsatz zu greifen.
‚Wen kümmert die beschissene Frisur von dem Kerl?‘, fauchte etwas in seinem Kopf. Trotzdem zwang Erik sich, den Gedankengang weiterzuverfolgen. So lange er über die Haare von dem Mistkerl nachdachte, kamen vielleicht keine unangemessenen Bilder. Dafür die Frage, ob der Kerl sich eigentlich rasierte.
‚Das Gesicht! Gesicht! Gesicht!‘, schrie Erik sich selbst innerlich an, um nicht an andere möglicherweise haarlose Körperstellen zu denken.
Dieses Milchgesicht war schließlich immer glattrasiert – obwohl im Augenblick glücklicherweise nicht sichtbar. Manchmal könnte man sich fragen, ob der Kerl sich überhaupt rasieren musste. Na ja, irgendwann bestimmt, aber so wie der aussah, doch höchstens einmal die Woche. Wenn Berger nicht da vorn in seinem gebügelten Hemd stehen würde, dann könnte der glatt selbst als Abiturient durchgehen. Sonderlich viel älter als zwanzig sah das Arschloch jedenfalls nicht aus.
Dummerweise stand Berger aber nun einmal dort vor der Tafel. Also konnte Erik zwar jenes Gesicht nicht sehen, hatte dafür allerdings einen 1A-Ausblick auf diese Rückseite. Scheiße, warum musste der Kerl einen dermaßen geilen Hintern haben? Schon wieder schoss Eriks Blut aus dem Hirn an die Zweigniederlassung nach unten. Wegsehen war allerdings weiterhin nicht drinnen.
Woher nahm der Mistkerl Berger eigentlich das Selbstbewusstsein, um im Klassenzimmer immer derart überlegen aufzutreten? Alle spurten vor ihm, sogar Sandro. Jedenfalls bei den Gelegenheiten, zu denen er von Berger für irgendwelchen Mist zurechtgewiesen wurde. Natürlich nie für das, was er mit Erik veranstaltete.
Nein, das Arschloch von Lehrer mischte sich nie in dümmlichen Pausenzwist ein. Er selbst ließ sich allerdings nichts gefallen. Das hatte Berger schon am ersten Tag sehr deutlich klargemacht. In der Folge spurten die Jungs – Erik eingeschlossen – und die Mädels himmelten ihn für den harschen Ton noch mehr an.
‚Verrückte Weiber!‘, dachte Erik und schielte nach links, wo inzwischen Hanna saß. ‚Man kann den Sabber förmlich fließen sehen!‘
Wieso standen diese Hühner bitte auf den Kerl? Okay, er sah gut aus, das musste Erik zugeben, aber die Persönlichkeit als Solche war schließlich zum Kotzen. Wenn man Hanna und die anderen Weiber ansah, könnte man meinen, dass sein mieser Charakter Berger sogar anziehender für sie machte. Bei Affenkönig Sandro war es doch genauso. Je arschiger sich ein Kerl aufführte, desto geiler schienen die Mädchen ihn zu finden.
‚Und die nennen dich krank.‘
Betrachtete man die inzwischen bereits angehend unangenehme enge Jeans, traf das es dummerweise durchaus zu. Immerhin fand Erik das Arschloch da vorn genauso anregend. Bei dem Gedanken musste er ein Grinsen unterdrücken.
‚Sollte Berger das doch einmal interpretieren. Am besten wortwörtlich.‘
Immer mehr Schüler trafen ein, während Erik darum kämpfte, dem unangebracht anschwellenden Blutfluss im Schritt Herr zu werden. Dabei konnte er sich aber noch so oft sagen, dass er den Kerl zum Kotzen fand. Wie er da vorn stand und in langsamen Zügen irgendeinen Quark an die Tafel schmierte, über den sie in der kommenden Stunde würden reden müssen.
‚Der Mistkerl denkt garantiert, dass er, nur weil er einigermaßen gut aussieht, sich bei allen einfach einschleimen kann‘, fluchte Erik innerlich weiter. ‚Am Ende hatte er die beschissene Strafarbeit als Kompliment angesehen.‘
Mit finsterem Blick starrte Erik auf Bergers Hinterkopf. Noch immer gärte es in ihm, wenn er daran dachte, dass seine wohlverdiente Rache misslungen war. Der Kerl hatte nicht einmal wirklich darauf reagiert. Eine beschissene Drei hatte Erik für seinen Aufsatz kassiert.
‚Unverschämtheit! Arroganter Wichser!‘
Es war kurz vor Unterrichtsbeginn und die letzten Schüler trudelten ein. Wann immer einer von Sandros Schergen an ihm vorbeiging, spürte Erik einen Schlag auf den Hinterkopf. Aber nach den letzten Wochen hatte er sich daran gewohnt. Schmerz empfand er dabei nicht mehr, zumal keiner von ihnen stark genug zuschlug, dass es ernsthafte Spuren hinterlassen könnte. Das einzig Unangenehme war, dass Eriks Sichtfeld durch die Erschütterung bei jedem Schlag verschoben wurde und damit auch im Augenblick seine Augen immer wieder von Bergers Rücken auf dessen Hinterteil gelenkt wurde.
‚Wenn Sandro und seine Deppen wüssten, was sie da taten, würden sie vermutlich das Kotzen kriegen‘, dachte Erik und musste ein weiteres Grinsen hinunterschlucken.
Da fiel ihm plötzlich die letzte Woche angesprochene Klassenfahrt ein. Bis März war es noch lange hin. Als der nächste Junge an Erik vorbeiging und ihm eine Kopfnuss verpasste, kam er dennoch nicht umhin sich diese Zeit der Freiheit von den Arschlöchern, geradezu herbeizusehnen. Da Oberarsch Berger als Zoowärter für die Affen mitfahren würde, hieß das für Erik, dass er sogar von dem eine ganze Woche befreit sein würde.
Das würden ausgesprochen friedliche fünf Tage werden, wenn die Deppen alle verschwunden waren. Mehr als ein ständiges Vögeln würde bei der dämlichen Fahrt doch vermutlich eh nicht passieren. Jeder wusste, dass sie, Sandro und Ines eingerechnet, inzwischen drei Pärchen im Kurs hatten. Der Rest würde sich schon passend zueinanderfinden, um wenigstens einmal zum Schuss zu kommen. Und wenn nicht, gab es bestimmt ein paar willige Einheimische, die ihnen einen Gefallen tun würden. Mal ehrlich, wer erwartete von diesem Abschlusskurs, dass sie auf eine friedliche Reise gingen? Ihren Ruf als Chaoten hatten Sandro und seine Jungs schon in der siebten weggehabt, nachdem sie – natürlich versehentlich – die Klassenzimmertür demoliert hatten.
Diesmal würde es halt keine Prügeleien geben, sondern der Kondomverschleiß sich deutlich abzeichnen. Jedenfalls wenn die dämlichen Puten, die Berger gerade einmal wieder anhimmelten, vernünftig genug waren, auf eins zu bestehen. Immerhin wollten die Schnepfen Abitur machen und einige hatten verflucht gute Noten. Ganz so dämlich konnten sie also nicht sein. Erst recht nicht, wenn sie den eigenen Lehrer angraben wollten.
Die Glocke läutete endlich den Beginn des Unterrichts ein. Stirnrunzelnd starrte Erik auf Bergers Rücken. Eben war da ein Gedanke gewesen. Was war das? Es hatte irgendetwas mit dem vermutlichen Kondomverbrauch der anderen zu tun gehabt.
Nachdenklich beobachtete Erik Berger, wie der mit den Ausführungen begann. Wenn der blöde Lehrer es nicht gerade auf Erik abgesehen hatte, wirkte der Kerl tatsächlich gar nicht wie ein Arschloch. Klar, er war weiterhin ein Lehrer und Erik konnte ihn deshalb nicht besser leiden, aber den übrigen Schülern gegenüber benahm er sich deutlich weniger abweisend.
‚Ja, weil der Kerl ausschließlich dich gern quält und alle anderen ihm egal sind‘, fluchte Erik innerlich.
Er verzog den Mund und setzte gerade dazu an, den Kopf zu senken, um lieber seinen Block anzustarren. Genau in dem Moment lächelte der Arsch von Lehrer. Natürlich nicht zu Erik, wäre ja auch zu viel verlangt. Wie automatisch drehte er den Kopf nach links, um zu sehen, wer heute dieses beschissene Lächeln bekommen hatte.
‚War doch klar. Eine von den Weibern‘, bemerkte Erik frustriert.
Hanna. Eine von denen, die sich seit Berger ihren Kurs übernommen hatte, immer mehr aufbrezelten. Ob sie das wirklich extra für dieses Arschloch von Lehrer machten? Vielleicht konnten die Mädels damit ja tatsächlich punkten. Wenn nicht bei Berger, dann bei einem der anderen Lehrer. Gab bestimmt genug unverheiratete Idioten unter denen, die sich heimlich auf eine der aufreizend angezogenen Achtzehnjährigen einen runterholten.
Schien ja durchaus zu wirken. Zumindest hatte Berger bisher keiner von den Weibern jemals irgendwelche Strafarbeiten aufgebrummt, wie er das bei Erik regelmäßig zu tun schien. Und im Sportunterricht wurden auch nur die Jungen wie die Idioten über den Laufplatz gejagt. Während die Mädchen sich an den Rand setzten und was von Periodenschmerzen jammerten.
Da zuckte Erik ein Gedanke durch den Kopf: ‚Läuft es darauf hinaus? Die Weiber staffieren sich aus wie die Pfauen und sobald sich einer von den Lehrern als notgeil genug herausstellt, haben sie ihn in der Hand.‘
Wenn dem so wäre, ein geradezu perfider Plan der Mädchen. Ein kurzes Grinsen huschte über Eriks Lippen, als er zu Berger sah. ‚Falls der Arsch auf der Klassenfahrt schwach wird und das rauskommt, ist er weg vom Fenster.‘
Das wäre doch mal eine ganz unerwartete Wendung in diesem Schauspiel. Erneut sah Erik zu Hanna hinüber, die jedoch nur sehnsüchtig schmachtend an den Lippen ihres Lehrers hing. Missbrauch Schutzbefohlener. Galt das auch für volljährige Schüler? Bestimmt! Aber die blöde Kuh würde, genau wie die anderen Weiber, garantiert nicht heulend zum Direktor rennen, falls Berger sich an ihr vergreifen sollte. Die würden lediglich jammern, wie verliebt sie waren. Am Ende war das genug, damit der Kerl zumindest nicht von der Schule flog.
‚Es reicht nicht, wenn er eine von den Puten knallt‘, dachte Erik, während sich in seinem Kopf ein ganz anderer Gedanke zu formen begann. ‚Und falls der Arsch sich nicht an einem Mädchen, sondern an einem Jungen vergreift?‘
Eriks Atem stockte. Das gäbe garantiert den Skandal schlechthin. Wahrscheinlich wäre es in dem Fall sogar egal, ob es stimmte oder nicht. Hauptsache jemand konnte es glaubhaft darlegen.
‚Die Idee ist gar nicht so übel‘, dachte Erik und senkte den Blick auf einen wie immer leeren Block vor sich.
Vielleicht war er mit dem Aufsatz vor zwei Monaten nicht weit genug gegangen. Berger hatte es offensichtlich abgetan, denn obwohl er ständig irgendwelche Banalitäten fand, um Erik mit zusätzlichen Strafarbeiten zu drangsalieren, hatte der Mistkerl das Thema dieser speziellen Arbeit nie angesprochen.
‚Taten statt Worte‘, dröhnte es durch Eriks Kopf und ließ ihn zusammenschrecken.
Den Gedanken hatte er in letzter Zeit öfters gehabt und allein die Tatsache, dass er immer wieder in ihm hochkam, war zunehmend verstörend. Andererseits würde es Berger garantiert höllisch blamieren, wenn Erik es hinbekam, dass es zumindest so aussah, als ob der Kerl versucht hätte, sich an ihm zu vergreifen. Dann wäre das Arschloch gnadenlos blamiert.
‚Und verliert womöglich seinen Job.‘
Erik runzelte die Stirn. Vor ein paar Wochen wäre es vollkommen klar gewesen, dass die Vorstellung, Berger aus dem Job zu bekommen ihn deutlich mehr erregen würde als dessen Kehrseite. Jetzt, wo Erik die passende Idee dazu hatte, kam ihm der Gedanke allerdings falsch vor. War es jemals sein Ziel gewesen, den Kerl beruflich derart zu ruinieren?
Nein. Das war es nicht, was Erik wollte – wonach es ihn dürstete. Es ging doch vielmehr darum, dass Berger spürte, wie es war, wenn einen jemand in der Hand hatte. Dieser Moment, in dem man weiß, dass es vollkommen egal ist, was man sagte oder tat, es würde keinen Unterschied machen. Denn die Entscheidung darüber, wie das eigene Leben verlief, ob man glücklich sein durfte, die traf jemand anderer. Und dem war es scheißegal, was man selbst wollte.
‚Du musst es nicht durchziehen‘, flüsterte eine verführerische Stimme in Eriks Kopf. ‚Es muss nur so aussehen.‘
Richtig. Es reichte, wenn Berger Angst bekam, dass Erik zu seiner Mutter rannte und sich darüber ausheulte, wie ein Lehrer versucht hätte sich an ihm zu vergreifen. Dann würde der Mistkerl vielleicht sogar verstehen, wie es war, wenn man jemand anderem hilflos ausgeliefert war.
Der Gedanke, dass er Berger endlich mit etwas in der Hand haben würde, ließ Eriks Herz wieder heftiger schlagen. Das Kribbeln im Schritt fing an, sich auszubreiten. Verdammt! Die Vorstellung, dass er endlich einmal der Überlegene sein könnte, war geradezu berauschend. Verhalten lugte Erik zu Berger, der zwei Tische weiter stand und irgendwelchen Müll über diese beschissene Pornopoesie laberte, die er vor der Stunde an die Tafel geschmiert hatte.
Das Arschloch hatte sich genau vor Hanna positioniert. Selbst aus dem Augenwinkel konnte Erik erkennen, dass deren Blick sich garantiert auch nicht oberhalb der Gürtellinie befand.
‚Die ist nicht besser als du. Keiner von denen ist das!‘
Selbst wenn es bei Sandro und den anderen Jungen nicht darum ging, dass sie Berger gern vögeln wollten, waren sie ihm alle so verdammt hörig. Dass die Weiber für den Kerl garantiert zusätzlich nur zu willig die Beine breitmachen würden, machte es noch schlimmer. Bei denen würde niemand etwas sagen.
Ein kurzes Grinsen stahl sich auf Eriks Lippen. ‚Diese scheiß Abschlussfahrt wird sich doch noch als nützlich erweisen.‘
Zum ersten Mal fing Erik ernsthaft an darüber nachzudenken, wie er die Kohle für die Fahrt zusammenbekommen könnte. Wenn es ihm Berger auf dem Silbertablett servierte, wäre es sogar einen zweiten Nebenjob wert.
Nachdem Erik das Arschloch erst einmal dort hatte, wo er es haben wollte, würden diese verdammten Fantasien vielleicht auch endlich aus seinem Kopf verschwinden! Vor Eriks geistigen Auge entstand derweil bereits das Bild, wie er Berger nachts unbemerkt von den anderen beiseitenehmen und irgendwo in die Hecken locken würde.
‚Nein, keine Büsche! Die Abschlussfahrt ist für Ende März geplant, da ist es nachts noch viel zu kalt‘, korrigierte Erik sich rasch.
Ganz sicher hatte er nicht vor, sich den Hintern abzufrieren. Nicht einmal, wenn er im Gegenzug endlich ein genaueres Bild davon bekam, wie dieser geile, kleine Po da vorne wirklich aussah. Nein, die Kälte wäre der Stimmung definitiv abträglich. Außerdem würden die Büsche zu viele Möglichkeiten bieten, zu entkommen.
Erik überlegte weiter. Die Lehrer hatten eigene Zimmer. Und da Berger der einzige männliche Begleiter ihrer Klasse sein würde, wäre er dort abends allein. Erik musste Berger also nur dazu bringen, dass er ihn mitnahm. Das konnte doch nicht so schwer sein.
‚Quatsch mit Soße! Warum sollte das Arschloch dich in sein Zimmer lassen?‘, schalt er sich sofort selbst. ‚Der Typ kann dich nicht ausstehen!‘
„Erik.“
„Was?!“ Er sah auf und zuckte erschrocken zusammen, als ein gewohnt kritischer Blick ihn traf.
„Ich hätte gern eine Antwort auf meine Frage“, antwortete Berger und die zusammengekniffenen Augen waren ein untrügliches Zeichen dafür, dass dessen Geduld gerade nicht sonderlich groß war.
Dummerweise hatte Erik aber nicht zugehört. Sich in der Klasse umzublicken, wie er es vor einem Jahr getan hätte, würde wohl kaum die erhoffte Hilfe bringen.
Also sank er im Stuhl herab und nuschelte ein universell gültiges: „Weiß nicht.“
„Wissen Sie die Antwort nicht? Oder die Frage?“
‚Fick dich‘, dachte Erik und zuckte erneut zusammen, weil ein wenig hilfreicher Teil bei dem Gedanken kurz aufbegehrte und genau das nur zu gern tun wollte.
Berger hingegen seufzte und schüttelte den Kopf. „Wie wollen Sie Ihr Abitur schaffen. Sie alle!“, fuhr er an den Rest der Klasse gewandt fort und trat zur Tafel. „Fangen Sie endlich an, sich zu konzentrieren! Das hier ist ein Gedicht, wie jedes andere. Wenn Sie ihren Kopf nicht aus der Gosse herausbekommen, werden Sie es nie schaffen, sich auch in Ihrem späteren Leben nicht von Trivialitäten ablenken zu lassen.“
Ein wenig zustimmendes Murmeln glitt durch den Kurs und Erik meinte von weiter hinten ein „Wie soll man sich denn bei dem Kram konzentrieren?“, zu hören. Dem hätte Erik gern zugestimmt, aber die Blöße wollte er sich dann doch nicht geben. Und wenn Berger zur Abwechslung den ganzen Kurs zusammenstauchte, schon dreimal nicht.
„Erik“, wand Berger sich aber sofort wieder direkt an ihn. „Noch einmal: das lyrische Ich. Wer spricht dieses Gedicht und woran machen Sie das fest?“ Mit einem stummen Stöhnen wagte er einen erneuten Blick auf den Porno in Versform, der ihn weiterhin von der Tafel verhöhnte.
Ein Souvenir
O grabe der herrlichen Zähne
Blauschimmernde Perlenreihn
In raubtierwild-rasenden Küssen
Tief in die Schulter mir ein!
Wir wollen noch einmal erkämpfen
Den heißesten, höchsten Genuß,
Eh‘ von dem erschlaffenden Körper
Die Gierde weichen muß.
Der brennenden fiebernden Wunde
Wollustdurchfolterte Qual,
Sie sei unsrer sterbenden Liebe
Blutiges Totenmal.
Kaum dass Eriks Augen ein weiteres Mal über die Zeilen gehuscht waren, spürte er schon wieder die ersten Regungen im Schritt. Seit Wochen nervte der Kerl ihn und den Rest der Klasse mit diesem Schweinkram. Erstaunlich wie viele anzügliche Gedichte das Arschloch bisher ausgegraben hatte. Machte Berger das eigentlich extra oder standen die tatsächlich in irgendeinem Lehrplan? Krampfhaft versuchte Erik, eine Antwort zu finden, aber es gab im Grunde genommen nur eines, was aus ihm nach draußen drängen wollte.
„Ich bitte Sie, das kann doch nicht so schwer sein!“, fauchte Berger allmählich ernsthaft erbost.
„Ein Kerl, der gerade mit jemandem vögelt, von dem er sich fernhalten sollte“, platzte es mit einem Mal aus Erik heraus.
„Danke! Das nächste Mal bitte eine deutlich angemessenere Wortwahl, aber ansonsten eine interessante Interpretation.“
Erik senkte den Kopf und sah stirnrunzelnd auf das Blatt Papier, das seit Beginn der Stunde keinen Tropfen Tinte abbekommen hatte. Sein Herz schlug plötzlich viel schneller, ohne dass er wirklich sagen konnte warum. Dazu dieses merkwürdige Kribbeln, das sich mit einem Mal nicht nur auf Eriks Schwanz beschränkte, sondern zum Magen hinaufgewandert war.
Hatte Berger eben allen Ernstes etwas Positives über ihn gesagt?
Es dauerte weitere zehn bis fünfzehn Minuten, in denen Berger ihn glücklicherweise in Ruhe ließ, bis es endlich zur Pause klingelte. Damit war Erik jedoch für heute endgültig von jedem weiteren Kommentar zu dem verdammten Porno, der da an der Tafel stand, erlöst. Mit gesenktem Kopf packte Erik hastig alles zusammen, um zur nächsten Stunde zu kommen. Erstaunlicherweise hielt Berger ihn nicht auf, sondern zur Abwechslung einfach mal die Klappe.
Es war geradezu ungewohnt nicht mit einem miesen Gefühl aus dem Deutschunterricht zu gehen. Um Erik herum herrschte weiter reges Getuschel, aber er ignorierte es und beeilte sich, aus dem Raum zu kommen. Auf dem Weg zur nächsten Stunde schaffte er es, Sandro aus dem Weg zu gehen.
Kaum waren Sie im Physiklabor angekommen, höhnte Sandro jedoch bereist hinter Erik: „Da hat unser Homo wohl eher mit seinem Schwanz geantwortet.“
Warum hatte der Affenarsch eigentlich unbedingt fast genau die gleichen Kurse wählen müssen, die Erik sich ausgesucht hatte? Sah man von Mirek ab, der zumindest im gleichen Stammkurs war, hatte er mit keinem seiner Kumpel von früher noch Unterricht. Aber ausgerechnet den Idioten Sandro, sah Erik so gut wie in jedem seiner Kurse.
Nachdem er die Deutschstunde heute ausnahmsweise mal ohne größere Vorfälle hinter sich gebracht hatte, wollte Erik sich jetzt aber nicht doch noch in Physik provozieren lassen.
„Als ob Du bei Bergers Schweinkram keinen Ständer bekommen würdest“, zischte Erik zurück. Ganz sicher würde er sich nicht anmerken lassen, dass der Affenkönig mit seiner Einschätzung recht hatte.
„Hey, pass auf, was du sagst, Hoffmann!“
Erik schnaubte. Wieso sollte er? Was wollte Sandro denn machen? Der Trottel quälte Erik sowieso ständig mit irgendwelchen dummen Kommentaren, den Kopfnüssen, zerfetzten Aufgaben. Schlimmer konnte es nicht mehr werden.
Vielleicht war das ja der Grund, warum Eriks Verstand in diesem Moment aussetzte, er sich umdrehte und seinen Peiniger anfunkelte: „Ich würde ja sagen ‚fick dich‘, Sandro, aber bei solchen Naturkatastrophen wie dir bekommt garantiert keiner einen hoch!“
Ein paar Jungen grölten, während sich Sandros Gesichtsausdruck der Farbe einer Tomate annäherte. Wütend sprang der Affenkönig auf und wollte gerade auf Erik losstürmen, als ihre Physiklehrerin den Raum betrat. Ein Blick der nur 1,54 Meter großen Dame und Sandro zuckte zurück.
„Das wirst du bereuen“, fauchte er erbost, setzte sich allerdings wieder hin.
Erik konnte sich seinerseits ein Grinsen kaum verkneifen, als er sich nach vorn drehte. Erst hatte Berger so etwas wie ein freundliches Wort für ihn übrig und dann konnte Erik Sandro zur Abwechslung zumindest verbal eine reinhauen. Vielleicht würde der Tag sogar noch richtig gut werden. Für eine Sekunde schwebte Erik förmlich auf dem Hoch, das dieser Gedanke ihm bescherte. Dann wurde er aber recht unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.
‚Sandro wird das garantiert nicht auf sich sitzen lassen‘, ermahnte Erik sich zur Vorsicht. ‚Und Berger ist immer noch das gleiche Arschloch.‘
Vielleicht wollte der Mistkerl von Lehrer Erik schlicht in Sicherheit wiegen. Damit er Fehler machte und Sandro, so wie jetzt, unnötig provozierte. Was unweigerlich zu einer Tracht Prügel führen würde, auf die Erik sich schon mal gedanklich einrichten sollte. Konnte das sein?
‚Berger ist ein manipulativer Arsch, den man nicht unterschätzen darf.‘
Richtig! Wenn Erik den Plan für die Abschlussfahrt tatsächlich durchziehen wollte, musste er sich zusammenreißen, durfte sich keine Fehler erlauben. Vor allem sollte er Berger nicht verharmlosen, nur weil der einmal ein halbwegs freundliches Wort für ihn übriggehabt hatte.
Da es in dem Moment zum Unterricht läutete, versuchte Erik sich auf die Physikstunde zu konzentrieren. Das gelang ihm zwar nur leidlich, aber je länger die Stunde andauerte, desto mehr verkrümelte sich der Gedanke an Berger in den Hintergrund. Bis zum Ende des Schultages hatte Erik das Gespräch nach der Deutschstunde schon fast aus dem Gedächtnis gestrichen.
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A/N: Auch dieses Gedicht ist gemeinfrei:
Ein Souvenir von Felix Dörmann (1870 - 1928) - Der Text ist im Kapitel vollständig enthalten.