17 – Kindskopf und Dreikäsehoch
Es war arschkalt, also vergrub Erik die Hände tiefer in die Taschen des Parkas. „Wo bleibt der Kerl?“, fragte er sich nicht zum ersten Mal, während er einen suchenden Blick über die Menschenmassen auf dem Marktplatz gleiten ließ.
Zum sicherlich fünften Mal zog Erik das Handy aus der Tasche und prüfe die Uhrzeit. Abgesehen davon, dass der letzte Check etwa fünf Minuten her war, änderte es aber nichts an der Tatsache, dass sein ‚Date‘ inzwischen eine satte Viertelstunde Verspätung hatte.
‚Er hätte sich wenigstens melden können!‘, fauchte es wütend in Eriks Kopf, als er das Handy wieder einsteckte. ‚Verpiss dich, bevor dir der Arsch abfriert.‘
Aber Erik blieb stehen, wartete weiter. Denn es widerstrebte ihm einfach zu verschwinden. Nicht, weil es sonderlich spaßig war, in der Schweinekälte hier herumzustehen wie bestellt und nicht abgeholt.
Allerdings war es Eriks eigener dämlicher Vorschlag gewesen, sich mit Tom ausgerechnet auf dem Weihnachtsmarkt zu verabreden. Aus welchen düsteren Untiefen seines kranken Hirns auch immer dieser Schwachsinn gekrochen war. Das ganze verfluchte Wochenende hatte Erik damit zugebracht, darüber nachzudenken wie er auf eine derartig bescheuerte Idee kommen konnte. Aber von dieser Sorte schien er ja in letzter Zeit immer wieder welche zu haben. Allen voran solche, die ihn in ernsthafte Schwierigkeiten mit seinem Deutschlehrer bringen würden.
Dummerweise hatte all die Grübelei wie immer zu keiner bahnbrechenden Erkenntnis geführt. Jedenfalls keiner, die Erik irgendwie weitergebracht hatte. Da war nur dieser geradezu gigantische Stein, der ihm im Magen lag, sobald Erik daran dachte, dass er Tom nicht sehen konnte. Und das sogar viel beschissenere Verlangen in seinem Schritt, wenn er sich vorstellte, wie Berger dieses kleine ‚Gespräch‘, das Erik am Donnerstagabend noch zu Papier gebracht und am Freitag abgegeben hatte, las.
„Hey, Erik!“, tönte es plötzlich von links und hastig drehte dieser sich um. Das Lächeln, das sich ihm beim Anblick Toms auf die Lippen schieben wollte, verschwand jedoch sofort als er dieses ‚Etwas‘ neben seiner Verabredung stehen sah.
„Selber hey“, murmelte Erik, während er den Blick nicht von Toms Begleiter abwenden konnte.
„Entschuldige“, wiegelte der schnell ab und trat auf Erik zu. Ein flüchtiger Kuss auf die Wange, dann drehte Tom sich um und deutete auf sein ‚Mitbringsel‘. „Das ist Luis.“
„Hi“, tönte besagter ‚Luis‘ und sah ungefähr so begeistert aus, wie Erik sich fühlte.
„Bitte sag mir, dass das nicht deiner ist“, zischte Erik Tom ungehalten an. „Ansonsten hätte ich da ein paar sehr detaillierte Fragen, die der Gnom da sicher nicht hören sollte.“
Tom lachte lediglich und schüttelte den Kopf. Wenigstens hatte er den Anstand einigermaßen verlegen auszuschauen dabei. „Luis ist mein Neffe. Mein Bruder ... brauchte einen Babysitter und ... na ja. Was hätte ich sagen sollen?“
„Nein“, antwortete Erik trocken, da er gerade alle Pläne und Vorstellungen für den heutigen Nachmittag in die sprichwörtliche Tonne treten durfte.
„Er ist mein Neffe“, gab Tom mit einem Schulterzucken zurück, als würde das irgendetwas erklären. Was es definitiv nicht tat. Allerdings hatte Erik ja keine Geschwister. Wahrscheinlich verstand er deshalb nicht, weshalb Blutsverwandtschaft dafür sorgen sollte, dass Tom hier mit einem verdammten Kind auftauchte.
Erik kniff für eine Sekunde die Augen zusammen und musterte anschließend den Dreikäsehoch erneut. Wenigstens schien Luis alt genug zu sein, um keine Windeln mehr zu tragen. Eriks kritischer Blick zuckte kurzzeitig an der knapp über einen Meter große Gestalt herab. Der war doch hoffentlich alt genug?
‚So viel zu einem gemütlichen Nachmittag zu zweit mit Glühwein.‘
Irgendwie hatte Erik sich dieses Date anders vorgestellt. Wieder einmal fragte er sich, wie er auf die bekloppte Idee gekommen war, dass es vielleicht gar nicht so doof wäre, wenn sie zur Abwechslung etwas anderes als Kino oder einen Besuch im Rush-Inn unternahmen. Ein Weihnachtsmarkt bei Eiseskälte animierte zumindest Erik im Augenblick auch nicht gerade zu Sex. Erst recht nicht bei der unerwarteten zusätzlichen Gesellschaft. Nicht, dass Erik geplant hatte, auf Sex heute völlig zu verzichten. Aber irgendwie hatte er gehofft, dass sie ...
‚Du hast keine Ahnung, auf was du gehofft hast‘, verhöhnte ihn mal wieder die dämliche Stimme im Kopf.
Genauso wie sie es das ganze Wochenende getan hatte. Und auch wenn Erik es ungern zugab: Die beschissene Stimme hatte recht. Er hatte keine Ahnung, was er sich erwartet hatte. Aber das hier war es definitiv nicht. Ein weiterer Blick zu dem Knirps namens Luis ließ Erik erneut zweifeln, dass dieser Nachmittag in irgendeiner Weise ‚befriedigend‘ enden konnte.
„Dein Bruder holt den nachher wieder ab, oder?“, fragte Erik deshalb grummelnd.
Tom nickte heftig. „Natürlich!“
„Ich hab Hunger!“, tönte es plötzlich aus Richtung des Kindes.
‚Das kann ja heiter werden ...‘
Schon sah Erik aus den Augenwinkel, wie Tom sich nach etwas Essbarem umsah. „Ich bin gleich wieder da“, meinte der Blödmann auch prompt. Dann klopfte er Erik gegen den Arm und grinste breit. „Pass kurz auf Luis auf, okay?“ Bevor er widersprechen konnte, war Tom in der Menschenmenge verschwunden.
‚Scheiße!‘
Mit einer Mischung aus Widerwillen und unverhohlener Abneigung betrachtete er den Jungen. Mit Kindern hatte Erik seiner eigenen Meinung nach nie wirklich etwas anfangen können – nicht einmal als er selbst eins gewesen war. Zumal der neugierige Blick von dem Kleinen ihm nicht gefiel.
„Warum hat Onkel Tommi dir einen Kuss gegeben?“, fragte Luis auch schon mit einem breiten Grinsen. Verlegen stopfte Erik die Hände tiefer in die Jackentaschen und sah sich um, aber sein Date war nirgendwo mehr zu sehen. „Petra sagt, man küsst nicht einfach so jemanden. Schon gar nicht, ohne zu fragen.“
„Und wer ist Petra?“
„Meine Erzieherin im Kindergarten.“
„Aha“, murmelte Erik. Er überlegte kurz und zuckte schließlich mit den Schultern. „Da hat sie recht.“
„Onkel Tommi hat nicht gefragt.“
Ein Grinsen zog an Eriks Lippen, als er zu Luis sah, der ihn weiterhin neugierig aber dennoch lächelnd anblickte. „Ich schimpf nachher mit ihm. Okay?“
Wieder setzte Schweigen ein. Diesmal war es Luis, der sich umsah, vermutlich mehr auf der Suche nach seinem Essen als dem Onkel, der eben das besorgen wollte. Unruhig trat Erik von einem Fuß auf den anderen. Er hatte das Gefühl, als müsste er irgendetwas sagen, hatte aber keine Ahnung was. Schließlich war der Kleine nur ein Kind. Mit dem konnte man sich doch eh nicht richtig unterhalten.
„Bist du ein Freund von Onkel Tommi?“
Überrascht zuckte Erik zusammen, dann nickte er. „Ja“, antwortete er langsam.
Eigentlich würde er sich gern als ‚der Freund‘ in Toms Leben betrachten, aber den Unterschied würde er Luis ganz sicher nicht erklären. Zumal Erik keine Ahnung hatte, wie Tom zu dieser Frage wirklich stand. Oder überhaupt erst einmal wie offen Tom mit seinen Neigungen gegenüber der Familie war. Erik hielt sich in Bezug auf seine Mutter ja eher zurück, was das anging.
„Ich hab auch einen besten Freund. Er heißt Ben“, erklärte Luis und erntete dafür von Erik ein bedächtiges Nicken. „Aber der mag es nicht, wenn ich ihn küsse.“
Diesmal musste Erik sich recht heftig auf die Lippe beißen, um nicht laut zu lachen. „Ja, das soll vorkommen.“
„Ben ist schon fast sieben.“
„Aha“, meinte Erik. „Und du bist?“
„Luis.“
Diesmal konnte er das kurze Lachen nicht zurückhalten. „Ich meine, wie alt bist du.“
„Ach so! Vier, aber ich habe nächsten Monat Geburtstag“, erklärte Luis stolz.
„Und wie alt wirst du dann?“, fragte Erik mit einem unverhohlenen Grinsen weiter.
Einen Augenblick lang überlegte Luis, dann platzte es aus ihm heraus: „Na fünf. Kannst du nicht rechnen oder was?“
„Doch“, antwortete der mit einem Lachen. „Wollte nur mal sehen, ob du es kannst.“
„Natürlich! Ich kann schon bis zwanzig zählen!“, erklärte Luis darauf entschieden.
„Super!“, gab Erik weiterhin grinsend zurück.
„Und du?“
„Ich kann weiter als bis zwanzig zählen.“
Luis stöhnte, offensichtlich genervt davon wie dämlich Erwachsene sein konnten: „Wie. Alt. Du. Bist?“
„Achtzehn. Aber in drei Monaten habe ich Geburtstag“, antwortete er breit grinsend.
„Ach tatsächlich? Im März, also?“, tönte es mit einem Mal hinter ihm. Erschrocken fuhr Erik herum. Tom stand dort, voll beladen mit Bratwurst und Semmeln. „Gut zu wissen.“ Luis bekam seine Semmel zuerst, aber Tom hatte sich selbst und Erik ebenfalls etwas mitgebracht. „Für Glühwein hatte ich nicht genug Hände, allerdings finden wir unterwegs sicherlich noch ausreichend Gelegenheiten dafür.“
Erik nickte, murmelte ein „Danke“, und widmete sich anschließend zunächst der Bratwurst, um der Peinlichkeit zu entgehen, tatsächlich antworten zu müssen.
„Mama sagt, ich soll nicht beim Laufen essen“, tönte Luis, während er bereits an der Bratwurst kaute.
„Hat sie auch was dazu gesagt, ob man mit vollem Mund spricht?“, rutschte es Erik heraus, bevor er sich bremsen konnte.
Luis sah ihn einen Moment geradezu verwundert und nachdenklich an. „Ja. Soll ich nicht“, nuschelte er schließlich weiterkauend.
„Hat offenbar nichts gebracht“, murmelte Erik und konnte das anhaltende Grinsen einfach nicht wegpacken.
„Ihr scheint ja gut miteinander auszukommen“, stellte Tom etwas verwundert fest und erntete lediglich ein Schulterzucken von seinen beiden Begleitern.
„Kann ich Karussellfahren?“, fragte Luis ungerührt der Tatsache, dass er weiterhin dabei war zu essen.
„Jetzt iss doch erst einmal“, ermahnte Tom ihn sofort. „Danach sehen wir weiter.“
„Ich will aber Karussellfahren!“
„Ich hab gesagt, wir sehen dann weiter“, murrte Tom.
Schon setzte Luis zu einem erneuten Protest an, als Erik dazwischenfuhr: „Ich bin sicher, wenn wir nach dem Essen über den Weihnachtsmarkt gehen, finden wir irgendwo ein Karussell.“
„Und dann kann ich fahren?“
Erik lachte, weil das Strahlen in den Augen von dem Jungen wegen so einer Kleinigkeit einfach zu einnehmend war. „Bestimmt“, antwortete er mit einem Nicken.
Kaum hatte Luis das Essen beendet, sah er Erik auch schon erwartungsvoll an. Nicht etwa zu Tom, nein definitiv zu Erik selbst. Irritiert runzelte er die Stirn und sah zu seiner Verabredung hinüber. Tom schien es entweder nicht zu bemerken, oder es war ihm egal.
„Können wir?“, fragte Luis aufgeregt, als Tom auch endlich fertig war.
Der nickte und lächelte aber Erik an: „Es war deine Idee herzukommen. Wo wollen wir lang?“
Ein Flattern setzte in Eriks Magen ein und schnell suchte er sich ein anderes Ziel für seine Augen. Hastig und ohne überhaupt darüber nachzudenken, deutete Erik nach links. Zufrieden jauchzte Luis, offenbar schon in Erwartung der versprochenen Karussellfahrt.
‚Hoffentlich gibt es hier überhaupt eins, sonst hast du dem Kleinen falsche Versprechungen gemacht.‘
Das Rumoren, das dieser Gedanke in Eriks Bauch auslöste, war unangenehmer, als er zugeben wollte. Eigentlich sollte ihm der Gnom am Arsch vorbeigehen. Aber als Erik zu dem Kleinen hinüber schielte, fühlte er sich plötzlich an die eigene Kindheit erinnert. An Zeiten, als er mit seinen Eltern über eben solche Weihnachtsmärkte spaziert war. Wahrscheinlich war er älter als Luis gewesen, ganz sicher war Erik sich nicht. Aber er konnte sich erinnern, wie er ständig versucht hatte, die Hand seines Vaters zu ergreifen.
‚Und daran, wie der stets einen Grund gefunden hatte, deine wieder loszulassen.‘
Scheiße! Erik schüttelte leicht den Kopf, um den Gedanken loszuwerden. Schon fühlte er, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Der Kampf gegen die Bilder der Vergangenheit wurde schwerer. Erik schluckte.
‚Denk an etwas anderes!‘, ermahnte er sich und wandte den Blick von Luis ab und stattdessen zu Tom. Der sah grinsend zu ihm hinüber. Schlagartig wurde das Ziehen wieder zu dem Flattern und schon konnte Erik fühlen, wie sich seine Mundwinkel nach oben bewegten.
Ein paar Hundert Meter weiter fanden sie einen Glühweinstand direkt gegenüber von einem kleinen, alten Karussell. Luis schien es nicht zu stören, dass das Ding gerade einmal gefühlte drei Meter im Durchmesser war. Jauchzend und zufrieden ritt Cowboy Luis mindestens fünf Mal gen nicht vorhandenen Sonnenuntergang, während Erik und Tom sich schweigend ihrem Glühwein widmeten.
„Noch mal!“, rief Luis, als das Karussell wieder stoppte und er absteigen sollte.
„Es reicht langsam, findest du nicht?“, gab Tom seufzend zurück.
„Nein!“, protestierte der Gnom natürlich prompt.
Erik grinste und erntete dafür einen mahnenden Blick seines Begleiters. „Hey, was erwartest du? Es war eine saudämliche Frage“, meinte er lachend und schüttelte den Kopf. „Lass ihn doch noch etwas fahren.“
„Ich dachte, du wolltest auf den Weihnachtsmarkt“, gab Tom irritiert zurück.
Als Erik lediglich mit den Schultern zuckte, zahlte Tom aber doch für weitere fünf Fahrten und erntete dafür erneuten Jubel des Dreikäsehochs. Das Grinsen schien sich derweil förmlich auf Eriks Gesicht festgefressen zu haben. Dabei konnte er nicht einmal sagen, was es war. Sein Date mit Tom hatte er sich anders vorgestellt. Aber letztendlich waren sie zusammen hier. Und ausnahmsweise ging es dabei nicht um Sex. Das war es doch, was Erik gewollt hatte. Der Weihnachtsmarkt an sich spielte hierbei kaum eine Rolle. Außerdem war der Knirps Erik auf seine eigene Weise sympathisch. Wenn Luis etwas nicht passte, sagte er es frei heraus, ohne Hemmungen oder darüber nachzudenken.
‚Er ist ehrlich‘, zuckte es durch Eriks Kopf und das Grinsen wurde schlagartig kleiner. ‚Was, wenn er Toms Bruder von dem Treffen hier erzählt?‘
Unsicher huschte Eriks Blick zu Tom hinüber. „Sag mal ...“, setzte er verlegen an. „Wissen Deine Eltern eigentlich, dass Du ... na ja, du weißt schon.“
„Hä?“
„Na, dass du schwul bist“, zischte Erik verhalten und nippte verlegen an dem inzwischen verdammt kalt gewordenen Glühwein.
„Klar. Wieso?“
Erik schluckte und zuckte mit den Schultern. „Nur so“, murmelte er kaum hörbar. „Nicht dass der Knirps was ausplaudert, was keiner erfahren soll.“
Irritiert runzelte Tom die Stirn. „Hast Du nicht erzählt, deine Mitschüler wissen Bescheid.“
„Und?“
Tom sah noch immer reichlich verwirrt aus: „Irgendwie habe ich gerade das Gefühl, deine Eltern wissen es nicht.“
Mit einem Ruck schüttete Erik den letzten Rest des Glühweins runter und brachte, statt zu antworten, die Tasse zurück um das Pfand zu holen.
„Erik?“, fragte Tom erneut nach, kaum dass er wieder da war.
Aber Erik schwieg zunächst weiter. Was sollte er da auch schon drauf antworten? War ja nicht so, dass er bisher überhaupt irgendwann mal mit Tom über seine Mutter gesprochen hatte. Und mehr als die nannte Erik ja nicht seine Familie.
„Bist du jetzt geoutet oder nicht?“
Seufzend schob Erik die Hände in die Jackentasche und sah statt zu Tom zu Luis hinüber. „Was macht das für einen Unterschied?“, gab er irgendwann kühl zurück. Schweigen, als nun auch Tom wohl nicht recht wusste, was er erwidern sollte.
„Hey!“, rief Luis ihnen zu und winkte so heftig, dass er beinahe vom Pferd gefallen wäre.
„Festhalten!“, schrien Tom und Erik zugleich und sahen sich kurz darauf grinsend an.
Die Hände weiterhin tief in den Taschen vergraben deutete Erik mit dem Kopf den breiten Weg zwischen den Buden entlang. „Vielleicht sollten wir weitergehen. Luis lässt sich bestimmt überreden, wenn du ihm Crêpes oder Zuckerwatte oder irgendwas versprichst.“
Tom nickte und trat zu Erik hinüber. Sofort wanderte dessen Blick statt zu Toms Augen zur Seite und kurz darauf zu Boden. Warum mussten andere Menschen einen ständig derart anstarren? So als wollten sie in einen reinsehen, weil sie einem nicht glaubten, dass man ihnen die Wahrheit sagte.
‚Tust du das denn?‘, fragte die dämliche Stimme in Eriks Kopf sofort. Aber der ignorierte sie, wie so oft in letzter Zeit.
„Gib es zu, du willst selbst was Süßes?“, flüsterte Tom mit einem zweideutigen Schmunzeln und plötzlich hing er Erik am Arm.
Der zuckte kurz zusammen, brachte es aber nicht fertig, sich aus dem Griff zu befreien. Sein unsicherer Blick huschte hastig nach links und rechts. Niemand starrte sie an, keiner sagte etwas. Es war offensichtlich allen egal. Trotzdem fühlte Erik sich unwohl. Tom schien da weniger Probleme zu haben. Aber scheinbar war der ja auch mit seinem Outing im Gegensatz zu Erik nicht gegen eine Wand an Intoleranz namens Sandro gerannt.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Luis, der offensichtlich verstanden hatte, dass er keine erneute Verlängerung seiner ‚Reitstunden‘ bekommen würde.
„Wir bummeln etwas über den Weihnachtsmarkt. Was hältst du davon?“, fragte Tom lächelnd.
Sofort verzog Luis das Gesicht.
„Komm schon, Zwerg“, murrte Erik. „Ich bin sicher, wir finden noch etwas, das du magst.“
„Eis?“
„Es ist arschkalt“, antwortete Erik, bevor er nachgedacht hatte, und erntete dafür einen Klaps auf den Hinterkopf von Tom. „Was?“
„Wortwahl!“, zischte der, konnte ein eigenes Grinsen aber nicht verstecken.
„Es ist ... schweinekalt?“
Diesmal lachten sie alle drei und ehe Erik es sich versah, zerrten viel zu kleine Finger an seinem freien Arm, nur um sich kurz darauf in Eriks Hand zu schieben.
„Also? Was kriege ich?“, fragte Luis und zog ihn bereits mit sich.
Erik sah irritiert auf das breit lächelnde Gesicht des Gnoms hinunter. Irgendwie war das komisch. Im ersten Moment wollte er Luis‘ eiskalte Hand loslassen. Aber dann sah Erik im Geiste wieder sich selbst, wie er zwischen schweigenden Eltern über den Weihnachtsmarkt getrottet war. Die Fäuste in den Jackentaschen vergraben, in der Hoffnung, dass sie dadurch wärmer werden würden.
Er zwang sich ein weiteres Lächeln ab und hielt die geradezu winzigen Finger des Jungen fester, bis die Körperwärme von Eriks eigenen Hand anfing, die Kälte zu vertreiben. Am anderen Arm zerrte Tom sie alle weiter und deutete auf einen Stand mit irgendwelchem Tand, den er offensichtlich interessant genug fand, um ihn sich näher ansehen zu wollen.
Erik stapfte mit Luis neben Tom her und zu dritt betrachteten sie die merkwürdigen Figuren und Kugeln, die sich offenbar wunderbar in der Einrichtung von Toms Eltern machen würden. Immer wieder fragte der nach Eriks Meinung zu dem einen oder anderen Teil. Währen Erik versuchte, nicht ganz so ehrlich zu sein, wie er es gern gewesen wäre, nahm Luis weniger ein Blatt vor den Mund.
Irgendwann entdeckten sie schließlich eine Christbaumkugel, die sie alle drei ‚hübsch‘ fanden – und in Eriks Fall war das nicht einmal gelogen. Zufrieden ein Weihnachtsgeschenk für seine Mutter gefunden zu haben, kaufte Tom sie, sodass sie endlich ihren Weg fortsetzen konnten.
Die nächsten dreißig Minuten schlenderten sie über den Weihnachtsmarkt, gönnten sich eine Tüte mit gebrannten Mandeln und Luis bekam tatsächlich einen Crêpe. Im Grunde waren sie allerdings kaum vorwärtsgekommen.
„Hoch“, sagte Luis mit einem Mal und streckte Erik die Arme entgegen.
„Was?“
„Hoch!“, forderte der Kleine erneut.
Erik runzelte die Stirn. „Ich trag dich doch nicht. Du hast zwei gesunde Beine.“
Der Kleine verzog den Mund und als sich seine Unterlippe herausschob, war Erik verflucht klar, was jeden Augenblick kommen würde: „Ich kann nicht mehr!“
„Und deshalb muss ich dich jetzt herumschleppen?“, protestierte Erik weiter.
Schmollend sah Luis zu seinem Onkel, der aber nur entsetzt den Kopf schüttelte. „Mich trägt auch keiner.“
„Ihr seid blöd!“
Erik sah grinsend zu Tom, der jedoch nur mit den Schultern zuckte. „Ernsthaft jetzt?“, fragte Erik noch einmal mit einem theatralischen Seufzen. Aber Luis streckte ihm erneut erwartungsvoll die Arme entgegen. Also gab Erik nach – ohne so wirklich zu wissen, weshalb: „Umdrehen.“
„Warum?“
„Weil ich dich sonst nicht trage“, keifte Erik allmählich angepisst zurück.
Wenn er sich hier schon wegen des Stöpsels zum Hanswurst machte, dann wenigstens zu seinen eigenen Regeln. Luis gehorchte erstaunlicherweise prompt. Erik atmete kurz tief durch, griff dem Jungen unter die Achseln und zog ihn danach mit einem kräftigen Ruck hoch. Als der Kleine auf den Schultern saß und sich krampfhaft an Eriks Kopf klammerte, rückte er Luis besser zurecht und hielt ihn schließlich an beiden Beinen fest.
„Wow, du bist aber groß“, meinte der Knirps, zappelte dabei allerdings unruhig hin und her.
„Dann halt lieber still, sonst fällst du auch tief“, murmelte Erik. Neben sich konnte er ein leises Lachen hören. Eriks angepisster Blick verlor aber vermutlich aufgrund der Tatsache, dass er den Gnom auf den Schultern hatte an Wirkung, denn sein Begleiter grinste einfach weiter. „Du schuldest mir was, Tom!“
Das Grinsen wurde breiter und nahm eine deutlich andere Färbung an. „Keine Sorge, ich revanchiere mich später am Abend.“