24 – Sängerknaben und Weihnachtsabend
„Du siehst bedrückt aus“, bemerkte Eriks Mutter mit einem Stirnrunzeln.
Überrascht sah er auf und direkt in ein Paar blaue Augen, das besorgt zurückblickte. Rasch drehte Erik den Kopf zur Seite und rang sich ein Lächeln ab. „Nein, alles gut“, beeilte er sich zu versichern.
„Ich weiß, es ist wie immer nicht sonderlich festlich“, seufzte sie und deutete auf den kleinen Baum, der in der Ecke ihres Wohnzimmers stand.
„Es ist toll, Ma. Und völlig ausreichend.“
Und tatsächlich war es das. Weihnachten hatte schon lange seine Magie für Erik verloren. Und daran würde dieses Jahr offenkundig nichts ändern. Aber das war sicher nicht die Schuld seiner Mutter. Deshalb schenkte Erik ihr ein weiteres Lächeln und griff zu den Plätzchen auf dem Couchtisch.
„Kekse, Braten und Geschenke. Was will man mehr?“, bemerkte er mit einem Grinsen.
Dabei gab es einiges, was Erik gern der Liste hinzugefügt hätte. Allen voran ein gewisser Jemand, von dem er sich nicht einmal anständig hatte verabschieden können. Am Donnerstag vor den Ferien hatte Tom keine Zeit mehr gehabt, um sich zu treffen. Am Freitagnachmittag war Tom dann bereits mit seinem Bruder und dessen Familie in Richtung ‚Heimat‘ verschwunden.
‚Ob Tom heute Abend Weihnachtslieder schmetternd unter dem Christbaum sitzt?‘, fragte Erik sich plötzlich und verzog das Gesicht. Eigentlich sollte es ihm egal sein. Schließlich war er nicht dabei.
Trotzdem ging Erik der Gedanke partout nicht aus dem Kopf. Genauso wie die Frage, ob Tom jemandem aus der Familie von ihm erzählen würde. Und wenn ja, was würde er sagen. Luis war auch da. Vielleicht verquatschte der Gnom sich und dann würde Tom erklären müssen, mit wem er da seinen Neffen auf dem Weihnachtsmarkt bespaßt hatte.
Unwillkürlich zuckte Eriks Blick zu seiner Mutter. Womöglich war es an der Zeit ehrlich zu ihr zu sein. Wie schlimm konnte es schon werden?
‚Ekel. Abscheu. Enttäuschung. So viele wundervolle Möglichkeiten wie es euch endgültig entzweien könnte.‘
Eriks Magen zog sich zusammen, während er sich einen weiteren Keks vom Teller schnappte und in den Mund stopfte. Die Wahrheit konnte ein bisschen warten. Wenigstens bis das Schuljahr zu Ende war. Bisher hatte Erik ja ohnehin keinen Plan, was er nach dem Abschluss mit seinem Leben anfangen wollte. Da würde es im Endeffekt wenig Unterschied machen, ob er auszog, um sie zu entlasten – oder weil sie ihn nicht mehr hier haben wollte.
Wieder schielte er zu seiner Mutter hinüber, die mit geschlossenen Augen im Sessel saß und den leisen Klängen der Weihnachtsmusik lauschte. Vermutlich reichlich kitschig und dämlich, aber so lange Erik zurückdenken konnte, verbrachten sie die Stunde vor dem Weihnachtsessen damit, diese eine CD zu hören. Die wohlgemerkt gefühlt doppelt so viele Jahre wie Erik selbst auf dem Buckel haben dürfte. Was seine Mutter daran fand, hatte er nie verstanden, aber es war Tradition. Dabei war es im Übrigen unerheblich, ob sie tatsächlich abends aßen oder – wie heute – bereits am Nachmittag. Und auch wenn Erik normalerweise nichts auf Traditionen gab, würde er seiner Mutter diese eine Weihnachtsfreude niemals kaputtmachen wollen.
Deshalb hielt er den Mund und lauschte weiter den Wiener Sängerknaben und ihrer Weihnachtsmusik. Bei zugezogenen Gardinen, damit der Raum wenigstens so wirkte, als wäre es Weihnachtsabend und die Beleuchtung am Baum nicht im Tageslicht unterging.
Hatten sie schließlich jedes verdammte Jahr so gemacht. Egal wie cholerisch Eriks Vater durch die Wohnung gestapft war, wie beschäftigt seine Eltern waren. Er hatte immer hier gesessen und diese dämliche Piepsstimmen-CD gehört.
‚Eigentlich sollte es sie echt nicht wundern, dass du schwul geworden bist.‘
Bei dem Gedanken musste Erik schmunzeln. Das war sogar für seine Verhältnisse ausgesprochen klischeehaft und vorurteilsbehaftet. Ganz langsam verschwand das Lächeln wieder, als ihm Bergers Worte einfielen. Die darüber, dass Erik mit dem Verhalten das er selbst den Menschen um ihn herum zeigte, deren Reaktion überhaupt erst hervorrief.
In dem Moment endete der letzte Ton der CD und seine Mutter öffnete die Augen, um ihn anzulächeln. „Wenigstens habe ich dieses Jahr die Nachtschicht bekommen. So können wir zumindest einen Teil des Abends zusammen verbringen“, bemerkte sie und stand auf, um in der Küche das Essen fertig vorzubereiten.
Einen Moment zögerte Erik, bevor er ihr folgte. Dass er selbst, sobald sie verschwunden war, in Richtung Rush-Inn aufbrechen würde, hatte Erik ihr nicht gesagt. Wobei er keine Ahnung hatte, warum er es ihr verheimlichte. Schließlich ging er wenigstens heute zum Arbeiten dorthin. Alex hatte auch am Heiligen Abend offen. Außerdem hatte er versprochen, dass das Trinkgeld an den Feiertagen meistens extra locker bei der Kundschaft saß. Deshalb rechnete Erik heute mit deutlich mehr als dem Lohn von Alex.
Seiner Mutter würde er vorerst nicht auf die Nase binden, wo er arbeitete. Jedenfalls nicht bis der Monat vorbei und der erste Lohn auf dem Konto war. Wenn sie es ihm danach verbot, hätte er zumindest dieses Geld sicher.
„Kann ich dir was helfen?“, fragte Erik zögerlich und sah sich auf dem Schlachtfeld um, das am Morgen noch ihre Küche gewesen war.
Etwas überrascht sah seine Mutter ihn für eine Sekunde mit diesem merkwürdigen Blick an, dem Erik unwillkürlich ausweichen musste. Dann antwortete sie gut gelaunt: „Natürlich, mein Junge.“
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Der Nachmittag verlief erstaunlich harmonisch. Jedenfalls war Erik etwas verwundert darüber. Seine Mutter hatte sich über das Geschenk, das er besorgt hatte ehrlich gefreut. So sehr, dass er schon fast wieder ein schlechtes Gewissen bekam, denn das hatte er ursprünglich nicht für sie, sondern für Tom besorgt gehabt. Die CD, die Erik zusätzlich für seine Mutter gekauft hatte, gefiel ihr zwar ebenso. Aber nachdem er ihr die letzten fünf Jahre immer eine geschenkt hatte, konnte die vermutlich nicht so punkten, wie das Geschenk vom Weihnachtsmarkt.
„Es wird ehrlich gesagt, jedes Jahr schwerer, etwas für dich zu finden, was dir gefällt“, meinte sie lächelnd, als sie ihm schließlich sein Präsent gab. Mit einem zufriedenen Lächeln packte Erik das Buch aus, das sie ihm besorgt hatte.
„Dass du dich da überhaupt dran erinnert hast, dass ich die Reihe gesammelt hab“, murmelte Erik versonnen, als er es betrachtete.
Vor ein paar Jahren hatte er viel und oft Bücher gelesen – meistens aus der Bibliothek. Aber diese eine Reihe zierte Eriks Bücherregal seit ein paar Jahren. Obwohl sie für jeden anderen wohl dort reichlich deplatziert wirkte.
„Ich hatte gar nicht mehr daran gedacht, dass mir der noch fehlt.“
Seine Mutter grinste breit. „Wahrscheinlich hast du ihn schon vor ein paar Jahren aus der Bibliothek geholt und gelesen. Aber ich dachte, du möchtest die Reihe vielleicht komplett im Regal stehen haben.“
Hastig nickte Erik. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass er seit gut einem Jahr kein Buch mehr in der Hand gehabt hatte – jedenfalls keines, das nicht mit der Schule in Verbindung stand.
‚Seit du mit Dominik zusammengekommen bist‘, überlegte Erik, während er das Buch gedankenverloren hin und her drehte.
Er wollte die Zeit mit Dominik nicht als ‚verschwendet‘ sehen. In ihrer Zeit hatte Erik geglaubt, dass das zwischen ihnen etwas Besonderes war. Und vielleicht war es das ja wirklich. Nur war es am Ende wohl für sie beide nicht das gewesen, was sie sich erhofft hatten. Womöglich hatte Dominik ihn auch nie wirklich so gesehen.
„Ich weiß, es ist blöd, wenn man Geld oder Ähnliches zu Weihnachten verschenkt“, fuhr Eriks Mutter fort. „Aber da wir ja leider nicht ganz so viel übrig haben ...“ Verlegen senkte sie den Kopf.
„Es ist völlig okay, Ma. Du brauchst mir nicht mehr schenken. Das Geld für die Abschlussfahrt ist genug“, beeilte Erik sich, ihr zu versichern.
Aber seine Mutter lachte und schüttelte den Kopf. „Das habe ich nicht gemeint.“ Verwirrt runzelte Erik die Stirn. „Du machst bald deinen Abschluss und ich hab mir überlegt ... Na ja, wenn es so weit ist, gehen wir einkaufen. Ein schicker neuer Anzug für die Zeugnisausgabe und den Abiball.“
Erik schluckte. Daran hatte er bisher nicht einmal gedacht. Im Gegensatz zur Abschlussfahrt, die er durchaus gern mitmachen wollte, reizte Erik der Abiball so gar nicht. Saufen konnte er bei Alex. Wenn er tanzen gehen wollte, dann lieber in einen Klub. Und erst Recht hatte Erik keine Lust darauf, dass Sandro und dessen Affen ihn womöglich nicht nur vor der eigenen Klasse, sondern vor der ganzen Abschlussstufe blamierten.
Die Augen seiner Mutter leuchteten aber förmlich, während sie sich vorstellte, wie er in dem neuen Anzug aussehen würde. Für Vorstellungsgespräche schadete das Ding sicherlich nicht. Also lächelte Erik und nickte.
„Danke, Ma.“
Tatsächlich stand sie auf und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Du bist so verflucht schnell groß geworden, mein Junge“, flüsterte sie leise, bevor sie sich wieder aufrichtete. „Tut mir leid, dass wir heute Abend nicht zusammen feiern können.“
Erik zuckte lächelnd mit den Schultern. „Das ist okay.“ Schließlich hatte er vor zur Arbeit zu verschwinden. Und zwar aus dem gleichen Grund, aus dem seine Mutter über die Feiertage die unbeliebten Schichten übernahm: weil sie besser bezahlt waren.
Nachdem sie sich umgezogen hatte, verabschiedete Eriks Mutter sich von ihm und verschwand zur Arbeit. Er selbst hatte noch Zeit. Also räumte Erik die Küche auf und suchte sich danach das einzige helle Hemd, das er besaß aus dem Kleiderschrank heraus. Warum Alex auf diese Kleiderordnung bestand, war Erik zwar nicht klar, aber er würde weder diskutieren, noch riskieren, dass ihm keines der Hemden passte, die Alexander offenbar für Aushilfen auf Vorrat vorhielt.
Pünktlich kurz vor acht betrat Erik in weißem Hemd und schwarzer Jeans das Rush-Inn. Erstaunt stellte er fest, dass es in der Tat recht voll war – speziell für die frühe Uhrzeit. Bis zur Bar musste Erik sich regelrecht vorkämpfen.
„Ein Glück, dass du schon hier bist!“, rief Alex sofort und deutete in Richtung einer Tür neben der Bar. „Komm da rüber. Benny? Das ist Erik, der Neue. Ich bring ihn kurz hinter und bin dann gleich wieder da.“
Während Erik sich an den Gästen vorbei zu der angegebenen Tür vorkämpfte, schlüpfte Alex neben seinen zwei Aushilfen entlang ebenfalls dorthin. Hastig winkte er Erik herein. Kaum waren sie drinnen, schloss Alexander hinter ihnen die Tür.
„Oh, Mann. Heute ist vielleicht was los“, seufzte Alex kurz, während er zu einer Kiste stapfte und eine dunkelgraue Weste hervorzog. Einen Moment lang betrachtete er Erik kritisch, dann tauschte er sie doch noch einmal gegen eine andere. „Hier, die sollte dir hoffentlich einigermaßen passen.“
Folgsam nahm Erik die Weste. Sie spannte im Rücken, was Alex sofort bemerkte. Noch einmal wühlte er in der Kiste, fand aber scheinbar nichts Besseres. Schulterzuckend drehte er sich zu Erik und lächelte entschuldigend.
„Tut mir leid. Die wenigsten meiner Aushilfen dürften deine Statur haben. Falls du im neuen Jahr bleiben willst, besorg ich dir etwas Passendes. Versprochen.“
„Schon gut“, murmelte Erik. „Ist es okay, wenn ich sie einfach offenlasse?“
„Klar!“ Anschließend deutete Alex auf eine Garderobe an der hinteren Wand. „Deine Sachen kannst du da hinhängen. Wasser ist umsonst, nimm so viel, wie du willst. Aber markier dir die Flasche und halt sie unter dem Tresen.“
„Warum?“
Alex grinste schief. „Damit dir keiner was rein kippt, natürlich.“ Irritiert runzelte Erik die Stirn. Bisher hatte er nicht den Eindruck gehabt, dass man auf Drinks im Rush-Inn aufpassen musste. „Keine Angst“, versuchte Alex ihn weiterhin grinsend zu beruhigen. „Ist bisher nicht passiert. Aber man weiß ja nie. Ich werde sicherlich nicht riskieren, dass mein neuer Angestellten gleich an seinem ersten Abend ausgeknockt wird. Du dürftest nämlich den Geschmack eines ... gewissen Publikums sehr genau treffen.“
Jetzt war Erik erst recht verwirrt. „Wie ist das denn zu verstehen?“
Alex zuckte mit den Schultern und deutete erneut auf den Schankraum. „Lass dich einfach nicht anquatschen. Keine Flirterei mit der Kundschaft und wenn dir einer blöd kommt, gib mir oder Benny Bescheid. Der hat ein Schandmaul, das jeden hier in seine Schranken verweisen kann.“
Weiterhin unsicher, wie Alex seine Bemerkung zuvor gemeint hatte, nickte Erik.
„Komm raus, wenn du deine Sachen verstaut hast. Benny wird dir ein paar Dinge zeigen, die du wissen musst.“
Damit war Alex verschwunden und Erik starrte auf die geschlossene Tür, die zum Schankraum führte. Mit einem Mal war er sich nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, ausgerechnet hier zu arbeiten. Aber Alex zahlt deutlich besser als Herr Ceylan und allein mit dem, was Erik hier über die Feiertage verdienen konnte, würde er hoffentlich einen großen Teil der Kosten für die Abschlussfahrt decken können.
Also hängte Erik seine Jacke und den Rucksack an einen der Haken an der Garderobe und atmete tief durch. Konnte doch nicht so schwer sein, ein paar Bier auszuschenken und wenn nötig mit den Leuten zu quatschen.
Dass insbesondere Letzteres so gar nicht sein Fall war, musste Erik spätestens nach der ersten Stunde hinter dem Tresen zugeben. Natürlich nicht laut und schon gar nicht zu jemand anderem. Aber wenigstens, wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste Erik eingestehen, dass ihm die schweigsamen Kunden deutlich lieber waren.
Ihm war bisher nicht klargewesen, welche Torturen Alex hier jeden Abend durchzustehen hatte. Ein Blick zu dem zeigte allerdings weder Widerwillen noch Unzufriedenheit. Ganz im Gegenteil. Alex unterhielt sich gerade mit einem Gast. Hübsches Gesicht, nicht zu groß, nicht zu klein, vermutlich keine dreißig. Im Grunde hätte der Mann da drüben durchaus Eriks Fall sein können. Jedenfalls wenn er nicht wie ein Häufchen Elend da am Tresen hängen und kurz vorm Heulen stehen würde.
Wenigstens riss der Kerl sich einigermaßen zusammen. Vielleicht war es aber auch nur Alexanders gutem Zureden geschuldet. In jedem Fall wäre das einer der Kandidaten, die Erik lieber nicht bedienen wollte. Wie im Übrigen ebenso der Typ, der Benny seit einer halben Stunde volllaberte, wie beschissen der heutige Tag wäre. Benny ließ sich davon genauso wenig beeindrucken, wie ihr Chef und grinste weiter munter im Kreis.
„Alles klar bei dir?“, riss Alex ihn plötzlich aus den Gedanken. Wo kam der denn auf einmal her? Unsicher schielte Erik in die Richtung, in der das Häufchen Elend sich eben noch bei Alexander ausgeheult hatte. Aber der war gerade nicht mehr zu sehen.
Erik blinzelte und beeilte sich, jetzt doch endlich, seinem Chef zu versichern, dass alles in Ordnung war. Um Alexanders prüfendem Blick auszuweichen, sah Erik auf das Glas in seiner Hand, das er eben abgetrocknet hatte.
„Ich bin nur irritiert, wie voll es hier heute ist“, meinte Erik murmelnd, um wenigstens eine einigermaßen plausible Erklärung abzugeben.
Grinsend nickte Alex. „Ja, am Heiligen Abend ist eigentlich jedes Jahr viel los. All die traurigen, einsamen Seelen scheinen ihren Weg heute hierher finden zu wollen.“
Erik zuckte zusammen, war sich aber sicher, dass Alex es nicht bemerkte. War er nicht ebenso hier, weil er im Grunde nirgendwo anders sein konnte? Oder wollte? Was wäre denn die Alternative? Zu Hause hocken? Alleine? Darauf warten, dass seine Mutter irgendwann am nächsten Morgen zurückkam?
„Wieso machst du nicht einfach zu und bist bei deiner Familie?“, fragte Erik leise und riskierte einen Seitenblick zu Alex.
Der lächelte zufrieden und deutete über die Schulter in den Gastraum. „Wer sollte denn dann für die alle hier stehen?“
Erik schüttelte den Kopf. „Aber du bist doch nicht für sie verantwortlich.“
Diesmal schlug Alex ihm mit einer kräftigen Hand auf die Schulter. „Wenn sich keiner um den anderen schert. Wer kümmert sich dann um dich?“
Damit ließ Alex Erik zum zweiten Mal an diesem Abend regelrecht sprachlos stehen. Erst als der nächste Gast ein Bier verlangte, fing Erik allmählich an, sich wieder auf seine eigentliche Aufgabe zu konzentrieren.
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Es war fast Mitternacht, als Alex wieder auf Erik zutrat und ihm auf die Schulter klopfte. „Das reicht für heute“, bemerkte er mit einem zufriedenen Lächeln. „Hast dich gut geschlagen für den ersten Tag.“
„Ich kann noch bleiben“, erklärte Erik nach einem kurzen Blick in den weiterhin gut gefüllten Gastraum. Es sah nicht so aus, als würde Alex hier demnächst schließen können. Die dritte Aushilfe neben Erik und Benny war bereits nach Hause gegangen.
„Nein, lass gut sein. Es ist dein erster Abend und den Rest schaffen Benny und ich schon allein. In spätestens einer Stunde werden die meisten entweder in ihr eigenes Bett oder das eines der anderen Männer hier verschwinden. Morgen wieder. Acht Uhr?“
Erik nickte. „Okay.“
„Das Trinkgeld teilen wir erst am Ende des Abends. Ich gebe es dir morgen“, erklärte Alex und schlug er noch einmal auf die Schulter. „Lass die Weste einfach hinten liegen.“
Für einen Moment zögerte Erik, als Alex zurück an die Arbeit ging und den nächsten Kunden bediente. Aber Erik war letztendlich offiziell aus dem Dienst entlassen worden, also gab es keinen echten Grund, weiterhin hier herumzuhängen. Es seidenn er wollte etwas trinken oder jemanden Abschleppen.
‚Schieb deinen Arsch nach Hause‘, zischte es in Eriks Kopf.
Eilig hastete er ins Hinterzimmer, um sich endlich umziehen. Natürlich würde er hier heute keinen Kerl abgreifen. Erik hatte schließlich Tom. Auch wenn der nicht da war. Oder sich wenigstens verabschiedet hatte. Ein Blick auf das Handy zeigte ebenso keine Antwort auf die Weihnachtsgrüße an eben jenen Mann, den Erik gern als ‚seinen Freund‘ bezeichnet hätte. Die Nachricht hatte Erik schon am späten Nachmittag abgeschickt. Genug Zeit für Tom, um darauf zu antworten.
Als Erik einige Minuten später aus dem Rush-Inn trat und die kalte Nachtluft einatmete, fühlte sich etwas in seinem Bauch so verdammt schwer an, dass er doch am liebsten für ein Bier umgekehrt wäre. Dieses unangenehme Gefühl, das Erik nicht in Worte fassen konnte. Alles, was er sagen konnte, war, dass es ihm nicht gefiel und er es nur zu gern endlich losgeworden wäre.
Langsam stapfte Erik die Straße entlang. Ein Blick auf die Uhr am Handy zeigte ihm, dass er den Bus nach Hause knapp verpasst hatte. Erneut überlegte Erik, doch noch einmal ins Rush-Inn zu gehen. Schließlich würde der nächste Bus frühestens in einer halben Stunde eintreffen. Und den Arsch wollte Erik sich an der Haltestelle nicht abfrieren.
Aber weder hatte er Lust, Alex zu erklären, warum er erneut auftauchte, noch darauf am Ende doch mit einer der traurigen Gestalten in der Kneipe ins Gespräch zu kommen. Also lenkte Erik seine Schritte die Straße entlang. Wie automatisch führten sie ihn in Richtung von Toms WG. Allerdings bemerkte Erik das erst, als er tatsächlich vor dem Haus stand. Gedankenverloren sah er an der Fassade hinauf. Die meisten Fenster waren dunkel, so auch die, hinter denen Toms Wohnung lag. Vermutlich war der Rest der Bewohner ebenso nach Hause gefahren. Zu Eltern, Familien oder Freunden.
Hastig drehte Erik sich um und stolperte weiter. Ohne zu wissen, wo genau er hinlief, lenkte ihn seine eiligen Schritte den Fußweg entlang – einem unbekannten Ziel entgegen. Im Grunde war es sowieso egal. Erik wollte nur weg. Weg von diesem verfluchten Ziehen im Bauch und dem beschissenen Gefühl, dass es falsch war. Alles. Das hier. Was auch immer. Wann hatte das Leben angefangen, so kompliziert zu werden? Warum war es Erik nicht mehr egal, dass Tom sich nicht auf die blöde Nachricht hin meldete.
Zum sicherlich hundertsten Mal an diesem Abend zog Erik das Handy aus der Hosentasche. Weiterhin keine Antwort zu sehen. Trotzdem entsperrte er den Bildschirm und öffnete die Messengerapp. Vielleicht funktionierte das blöde Ding ja nicht richtig und hatte keine Pushnachricht geschickt. Aber auch in ihrem Chat herrschte abgesehen von Eriks eigener Nachricht vom Nachmittag gähnende Leere. Dabei zeigten die zwei Haken deutlich, dass Tom sie gelesen hatte.
Einen Moment lang war Erik versucht etwas zu schreiben. Zu fragen, ob alles okay war, ob Tom sich mit seiner Familie amüsierte. Er könnte sich auch nach Luis erkundigen – ob der Kleine Spaß und seine Geschenke genossen hatten.
‚Das würde doch aussehen, als ob du wie ein Klammeraffe an ihm hängst. Und ist ja nicht so, als ob du Luis etwas geschenkt hättest.‘
Erik schluckte. Als er mit Dominik zusammen war, hatte er dessen ständige Texterei manchmal lästig gefunden. Aber er hatte geantwortet – meistens. Seufzend steckte Erik das Handy in die Hosentasche. Er benahm sich wie ein lächerliches Kind. Vielleicht hatte Berger ja auch damit recht. Dass Erik sich endlich wie ein Erwachsener verhalten musste. Aber was machte ein eben solcher denn, wenn der Mann, mit dem man glaubte – hoffte – eine Beziehung führen zu können, sich nicht einmal an Weihnachten für einen kurzen Gruß bei einem meldete?
Missmutig stapfte Erik weiter. Dabei hatte er keine Ahnung, ob er auch nur annähernd in die richtige Richtung lief. War im Grunde aber ohnehin egal. Zu Hause würde niemand auf Erik warten und mit einem Anruf von Tom – oder wenigstens einer Nachricht – rechnete er ehrlich gesagt inzwischen nicht mehr.
Irgendwann trat Erik auf einen Platz und stellte fest, dass er unweit der Stadtkirche gelandet war. ‚In jeder Hinsicht die falsche Richtung‘, feixte seine innere Stimme. Ausnahmsweise brachte sie damit sogar Erik zu einem Grinsen.
Eben wollte er sich abwenden, als ihm eine Gestalt in der Dunkelheit auffiel, die zur Kirche hinaufblickte. Irritiert schüttelte er den Kopf, denn für einen Moment hatte Erik gedacht, Tom würde dort stehen. Aber das war schließlich unmöglich. Der feierte ja mit seiner Familie irgendwo Weihnachten. Oder lag womöglich schon selig schlummernd in seinem Bett. War jedenfalls zu hoffen, dass Tom nicht in irgendwelchen fremden Betten lag.
Erik wandte sich ab und stapfte durch den Schnee weiter in Richtung S-Bahn. Jetzt, wo er wieder einen Orientierungspunkt hatte, wusste er, wo er langgehen musste. Erik hatte jedoch keine drei Schritte gemacht, als er stockte und erneut zu der Gestalt auf dem Vorplatz der Kirche sah.
Es kam langsam, aber mit jeder Sekunde, die Erik in der Dunkelheit über den Kirchplatz starrte, hämmerte sein Herz schneller gegen den Brustkorb.
Es wäre besser, er würde von hier verschwinden. Jetzt. Sofort. War schließlich egal, wer sich da den Arsch abfror. Und erst recht, wenn es der war, für den Erik die verdammte Gestalt hielt. Trotzdem stand er kurz darauf nur ein paar Meter hinter dem Mann. Selbst in der spärlichen Beleuchtung hier auf dem Platz hätte Erik die sich im Nacken kräuselnden schwarzen Haare unter tausend anderen erkannt.
„Sollten Sie nicht zu Hause bei Ihrer Familie sein, Erik?“, fragte eine viel zu vertraute Stimme leise.
„Wüsste nicht, was Sie das angeht“, giftete Erik zurück, bevor er über die Worte nachgedacht hatte. Um vielleicht nicht ganz so unhöflich zu klingen, fügte er noch hinzu: „Sie stehen doch auch hier.“
Als Berger über die Schulter zu ihm schielte, meinte Erik wieder einmal eines dieser seltenen, ehrlichen, Lächeln zu sehen, die der Blödmann normalerweise nicht verteilte – schon gar nicht an Erik. Dummerweise raubte der blöde Blick ihm dennoch den Verstand und sorgte dafür, dass Erik kein Wort herausbrachte, während Berger sich erneut abwandte und zur Kirche blickte.
„Soweit ich weiß, kann man in die Dinger reingehen“, murmelte Erik irgendwann. War das ein leises Lachen, was er da von Berger gehört hatte? Falls ja, dann sagte er zumindest nichts weiter dazu, stopfte lediglich die Hände tiefer in die Taschen, während er weiterhin zu dem Gebäude vor ihnen starrte.
Wenn Berger hier in der Kälte rumstehen wollte, sollte er doch. Ging Erik schließlich nichts an. Trotzdem war es merkwürdig. Genauso ungewohnt, wie dieser Drang in ihm, der Erik dazu zwingen wollte, etwas zu sagen – oder zu tun. Dummerweise hatte er wie so oft keine Ahnung, was das sein könnte. Allmählich schien Erik gar nichts mehr zu wissen. Und das machte den ohnehin reichlich beschissenen Alltag, zunehmen unerträglich.
Also nuschelte Erik ein leises „Nacht“ und wandte sich seinerseits ab, um zu verschwinden. Berger war erwachsen. Sollte er halt hier stehen und sich den Arsch abfrieren, wenn er wollte.
Er war gerade drei, vier Schritte entfernt, als er Berger noch einmal hinter sich rufen hörte: „Erik?“
‚Was denn jetzt?!‘
Genervt ließ er den Kopf sinken. Warum hatte er den Blödmann überhaupt angesprochen? War ja nicht so, dass Erik sich für den Kerl interessierte. Oder ihn mochte. Schweigend stand er da. Wenn Berger was von ihm wollte, sollte er es einfach ausspucken, damit er nach Hause in sein Bett konnte.
„Frohe Weihnachten, Erik.“
Das Keuchen entkam ihm, bevor er sich stoppen konnte. Ein Beben rann durch Eriks Körper, während er versuchte, sich zu entscheiden, was das für ein beschissenes Gefühl war, das da in ihm aufstieg. Zum ersten Mal seit Monaten wäre er über einen zynischen Kommentar seiner inneren Stimme dankbar gewesen.
Aber die schwieg. Genau wie Erik selbst. Während er im einsetzenden Schneeregen stand und hinter sich knirschenden Schritte hörte, die sich in die andere Richtung von ihm entfernten.
„Er weiß nur genau, wie er dir wehtun kann“, wisperte Erik leise. Denn dass Berger tatsächlich einfach etwas Nettes zu ihm gesagt hatte, war verdammt noch einmal vollkommen unmöglich!