20 – Enttäuschung und Unterstützung
Es war schon nach acht als Erik wie am Tag zuvor mit Tom in der WG-Küche saß und auf das Essen wartete. Keine Rede mehr davon, dass Tom noch irgendwelche Aufgaben machen musste. Aber beschweren würde Erik sich sicherlich nicht, immerhin war er – genau wie Tom – mehr als nur einmal auf seine Kosten gekommen.
Heute gab es Nudeln mit Tomatensoße. Eine fertige Packung, wie Erik leicht angewidert feststellte. Bei Dominik wäre er angesichts von dessen Kochkünsten froh gewesen, wenn der zum Fertigessen gegriffen hätte. Im Nachhinein betrachtet, hatte Domi sich aber zumindest bemüht zu kochen.
Und Erik selbst hatte daraufhin ja ebenso beschlossen, sich wenigstens ein paar Grundlagen von seiner Mutter beibringen zu lassen, damit er es irgendwann einmal besser machen konnte. Trotzdem saß Erik jetzt hier und wartete darauf, dass die mit Wasser und Pulver angerührte Soße fertig wurde.
‚Hättest ja anbieten können, dass du kochst‘, verhöhnte ihn einmal mehr diese dämliche innere Stimme.
Erik schielte zu Tom, der gelangweilt am Tisch saß und irgendetwas auf dem Handy tippte. Es kam ihm komisch vor, Tom anzubieten das Essen zuzubereiten. Abgesehen davon, war Erik ziemlich sicher, dass der Kerl kein frisches Gemüse im Kühlschrank lagern würde. Es hätte also bereits an den grundlegenden Zutaten gescheitert.
„Sag mal“, setzte Erik ein paar Minuten später an. „Es ist ja bald Weihnachten.“
„Hm?“
Da war schon wieder dieses blöde Klopfen in Eriks Brust – zusammen mit dem merkwürdigen Blubbern in seinem Bauch, das er nicht wirklich einordnen konnte.
„Wollen wir uns nicht ... irgendwie mal ... treffen?“, fragte Erik schließlich zögerlich, wagte es allerdings nicht, aufzusehen.
Tom schwieg zunächst. Es dauerte fast eine Minute, bevor er doch endlich etwas sagte: „Was meinst du? Du hast nicht etwa ein Geschenk besorgt oder so ein Unsinn?“
Was auch immer da in Eriks Bauch Herumgeflatter war, es knallte prompt in die nächste Wand und erstarb jämmerlich. „Nein, natürlich nicht!“, versichert Erik hastig und lachte verhalten. „Ich dachte nur ... Na ja, wir haben beide keinen ... Unterricht und da könnten wir uns doch ... treffen. Nicht unbedingt an den Feiertagen. Aber vielleicht dazwischen. Oder ... Silvester ... oder so.“
Kaum waren die Worte aus Eriks Mund heraus, bereute er sie bereits. Wie beschissen jämmerlich klang das denn? Das war doch genau so ein Scheiß, wie Dominik vorgeschlagen hätte. Dabei wollte Erik diesen ganzen dämlichen, kitschigen Mist gar nicht. Trotzdem hoffte ein Teil von ihm, dass Tom auch diesmal ja sagen würde.
„Sorry“, gab der jedoch irgendwann zurück und fuhr sich durch die Haare. „Klar würde ich dich die Woche gern sehen, aber ich fahre zu meinen Eltern. Die ganze Familie kommt an den Feiertagen. Ich bin erst im neuen Jahr wieder hier.“
Erik runzelte die Stirn. „Okay. Ist ... ja kein Thema. Dachte nur ... Egal.“
Gedankenverloren fing Erik an, Kreise auf den Tisch zu malen. Plötzlich schob Tom seine Hand beiseite und sich selbst auf Eriks Schoß. Statt auf die Tischplatte starrte er somit direkt auf einen verlockend nackten Bauch. Sofort meldete sich ein gewisses Körperteil frohlockend zum Dienst.
„Hältst du es keine Woche mehr ohne mich aus?“, raunte Tom leise, bevor er Eriks Gesicht zu einem Kuss nach oben zog.
„Hab zwei gesunde Hände“, gab der murrend zurück. Ganz sicher würde Erik sich nicht die Blöße geben, derartig notgeil dazustehen. Außerdem war es ihm bei der Frage ja gar nicht darum gegangen, wann er Tom das nächste Mal nageln konnte. Nicht wirklich. Dass Tom es trotzdem so verstanden hatte, erschien Erik jedoch im Augenblick als die weniger peinliche Alternative. Also widersprach er lieber nicht.
Schmunzelnd schüttelte Tom den Kopf. „Wir können uns gern ein bisschen ... austoben, bevor ich zu meinen Eltern fahre.“
Für einen Moment klang das durchaus verlockend. Wann würde Erik denn zu Sex mit Tom ‚Nein‘ sagen wollen? Weder heute noch morgen oder sonst irgendwann. Vermutlich. Aber allmählich gewann er immer mehr den Eindruck, dass da bis auf den Sex ein paar Drinks im Rush-Inn so rein gar nichts zwischen ihnen war. Und das obwohl, sie sich doch gefühlt ständig sahen.
Die heutige Deutschstunde kam Erik wieder in den Sinn. Berger hatte sie alle möglichen Formen von Beziehungen aufzählen lassen. Dabei war Sandro mehr als nur einmal in Erklärungsnot geraten. Vermutlich deshalb hinterher der Streit mit Ines. Letztendlich war es Erik jedoch egal, ob und mit wem der Affenkönig Sandro vögelte. Dummerweise hatte diese dämliche Diskussion ebenso dazu geführt, dass Erik sich nicht mehr sicher war, wie er sein Verhältnis zu Tom definieren sollte.
Glücklicherweise klingelte in dem Moment Toms Handywecker und bewahrte Erik davor, sich eine Antwort aus den Fingern saugen zu müssen. Das Essen war fertig.
„Überleg es dir“, forderte Tom ihn kurz auf, während er von Eriks Schoß herunter kletterte. Der nickte lediglich, stand ebenfalls auf und holte die Teller aus dem Schrank, um den Tisch zu decken.
Aus dem Augenwinkel beobachtete Erik, wie Tom das Nudelwasser abkippte und dann den Topf auf den Tisch stellte – gefolgt von einem zweiten, kleinerem, mit der Soße. Es wirkte alles normal – als müsste es genau so laufen.
Ganz sicher würde Erik Tom also nicht auf die Nase binden, dass er sich mehr als ein kurzes Treffen zum Vögeln für diese Ferien erhofft hatte. Und erst Recht, würde Erik Tom nichts von dem Klimmbimm erzählen, der nach dem Kurzbesuch auf dem Weihnachtsmarkt den Weg in seinen Rucksack gefunden hatte. Mit einem Mal kam es Erik reichlich dämlich vor, dass er, nur weil Tom bei ihrem Besuch dort am Montag so begeistert von dem blöden Teil gewesen war, das Ding besorgt hatte.
‚Deiner Mutter gefällt es garantiert genauso, also was soll’s?‘
Und schon drängte sich wieder das Thema der heutigen Deutschstunde in Eriks Bewusstsein. Er musste schlucken und kämpfte gegen die Erinnerung an. Aber je mehr er es versuchte, desto klarer wurde ihm diese eine Frage, die er Tom nicht zu stellen wagte: Was für eine Art von Beziehung führten sie hier eigentlich?
Quasi umgehend sah Erik das Tafelbild der heutigen Deutschstunde vor sich. Was er da erblickte, gefiel ihm nicht. Denn die Stelle, an der er Tom gern eingesetzt hätte, war leer – und Erik mit einem Mal nicht sicher, wie er es schaffen sollte, dass sie sich besetzt anfühlte.
✑
Erst als er gut zwei Stunden später die Tür zur elterlichen Wohnung aufschloss, fiel Erik ein, dass seine Mutter an diesem Abend frei hatte und entsprechend zu Hause war.
„Es ist Mitternacht, Erik!“, fuhr die ihn wütend an, kaum dass er die Schuhe von den Füßen gestreift hatte.
„Entschuldige“, murmelte er ausweichend. Wenn seine Mutter wüsste, wann Erik an anderen Tagen nach Hause gekommen war, würde sie vermutlich endgültig ausrasten.
„Es ist Dienstag. Mitten unter der Woche“, motzte sie stattdessen weiter und funkelte ihn böse an.
„Ich bin achtzehn, nicht zwölf. Und es ist erst in fünfzehn Minuten Mitternacht, Ma“, maulte Erik schließlich zurück. Sie verstummte und sah zur Seite, was er wiederum zum Anlass nahm, um an ihr vorbei in Richtung seines Zimmers zu stapfen.
„Hast Du Hunger?“, rief sie ihm mit einer Spur Resignation hinterher.
„Nein, schon gut. Hab was gegessen.“
Als die Tür zu seinem Zimmer hinter Erik ins Schloss fiel, atmete er erleichtert durch. Rund um die Feiertage war der Dienstplan seiner Mutter jedes Jahr so verdammt konfus.
‚Wird ja jetzt, wo Tom nicht da ist, keine Probleme mehr machen‘, zuckte es ihm sofort durch den Kopf.
Enttäuscht ließ Erik sich aufs Bett fallen und legte den rechten Arm über die Augen. Tom hatte nicht den Eindruck gemacht, als ob er überhaupt in Betracht gezogen hatte, dass sie sich über die Feiertage treffen könnten. Und wenn dann vermutlich nur für ein paar Stunden Sex.
Was hieß das für dieses ‚was auch immer‘, was da zwischen ihnen existierte? Gab es das überhaupt? Was war denn da? Abgesehen von so einer lockeren Bekanntschaft und reichlich Sex.
Wie so oft in letzter Zeit, kehrten Eriks Gedanken an den Abend zurück, an dem er mit Tom damals im Kino gewesen. Und nicht zum ersten Mal in den vergangenen Tagen, vielleicht auch Wochen, fragte Erik sich, ob er diesen Abend noch richtig erinnerte. Hatte Tom damals überhaupt darüber gesprochen, was genau das zwischen euch sein soll? Je mehr er versuchte, sich das Gespräch ins Gedächtnis zu rufen, desto unsicherer wurde Erik.
‚Hat er nicht eher gesagt, dass er keine Beziehung will?‘
Fuck. Warum konnte er sich nicht erinnern? Aber wenn es nicht irgendeine Form von Beziehung war, was erwartete Tom sonst, dass das zwischen ihnen war?
Wieder sah Erik das Tafelbild aus dem Deutschunterricht vor sich. Familie, Freunde, Liebesbeziehung, Bekannte, Respektspersonen und diverse andere Kategorien hatten sich da getummelt. Zusammen mit all den Schattierungen dazwischen, die sie lediglich angesprochen hatten. Wo in diesem Bild war Tom?
Bei der ‚Liebesbeziehung‘ stand er ja offenbar nicht. Etwas in Eriks Innerem krampfte sich zusammen, weil er einfach keinen Platz fand, an dem er Tom einsortieren konnte. Die einzige Stelle, die wenigstens einigermaßen passend erschien, war ‚Freunde‘. Aber außer Sex, etwas trinken und Kino war da letztendlich auch nichts. Jedenfalls nichts, was Tom in diesen Status erheben würde. Zählte er also nicht einmal dort hinein?
„Scheiß Berger“, fluchte Erik verhalten.
Schließlich war es dieser geschniegelte Idiot, der die miesen Gedanken in ihm heraufbeschwor. Wenn der Mistkerl nicht ständig solchen einen Müll im Unterricht behandeln würde, könnte Erik einfach weiter das genießen, was er hatte. Zufrieden sein. Aber nein, stattdessen lag er hier und dachte auch noch über diesen Mist nach!
Schnaubend setzte Erik sich auf und starrte auf den Boden vor dem Bett. Wieso drängte sich dieser Blödmann eigentlich ständig in seine Gedanken? Tom hatte schließlich ebenfalls einen hübschen Hintern. Das konnte es doch allmählich nicht mehr sein. Nicht nur.
‚Weil der Mistkerl von Lehrer dich ständig provoziert!‘, zuckte es erneut durch Eriks Kopf.
Seine Augen verengten sich. Am Anfang war er sauer gewesen, weil Berger es einfach zuließ, dass Sandro und seine Freunden Erik immer wieder schikanierten. Der Mistkerl hatte in der ersten Stunde klargestellt, dass ihm als Lehrer keiner blöd kommen brauchte. Nachdem Sandro anfing, auf Erik herumzuhacken, hatte Berger allerdings nichts unternommen. So wie er nie etwas zu unternehmen schien, wenn sich Konflikte in seinem Kurs anbahnten.
„Sie sind volljährig. Also fangen Sie an Ihre Probleme wie ein Erwachsener zu lösen. Dazu gehört, dass Sie nach Hilfe fragen, wenn Sie sie brauchen. Ich bin nicht Ihr Babysitter.“
Noch immer konnte Erik diese beschissenen Worte Bergers hören, die das Arschloch ihm nach dem ersten Ärger mit Sandro an den Kopf geworfen hatte. Rückblickend war das vermutlich der Moment gewesen, an dem Erik angefangen hatte, den Mistkerl zu hassen. Diesen blöden, viel zu gut aussehenden Vollidioten, der ständig nett zu allen anderen war. Außer zu Erik selbst. Der die dämlichen Weiber anlächelte, während ihn immer nur das so beschissen funkelnde Grün von Bergers Augen straf.
Ganz sicher würde Erik niemanden um Hilfe anbetteln! Und schon gar nicht so einen geschniegelten Blödmann von Lehrer. Der einfach nicht reagierte, wenn Erik ihn provozierte. Auf nichts!
Dieser kranke Aufsatz im September war Berger lediglich ein müdes Lächeln und eine Drei wert gewesen. Jede mehr oder weniger direkte Andeutung dazu, dass Erik dem blöden Lehrer zu gern die Klamotten vom Leib gezerrt hätte, wurde ignoriert. Weil er dem beschissenen Kerl nicht einmal genug wert war, dass er wenigstens eine verdammte Reaktion zeigte!
Er hasste Berger!
Etwas stach Erik in den Magen. Er musste die Augen schließen, so schmerzhaft war das Gefühl auf einmal. Es hatte nicht wehzutun. Erik wollte sich nicht derart fühlen. Das war alles die Schuld von diesem manipulativen Mistkerl.
Deshalb hatte Berger diesen Scheiß über seine letzte Hausaufgabe heute gesagt. Um Erik zu quälen. Nur dafür waren diese ausnahmsweise mal freundlich erscheinenden Worte da gewesen. Ein verfluchtes Leckerli, das man dem dummen Hund hinhielt, damit er mit dem Schwanz wedelte. Als ob Eriks Schwanz nicht schon oft genug ein Eigenleben zeigte, wenn es um Berger ging.
‚Das nennt man Lob‘, zuckte es Erik prompt durch den Kopf.
Die gleiche beschissene Stimme die ihn viel zu oft verhöhnte, ihm Sachen in den Kopf setzte, die niemals sein würden, weil sie nicht sein durften. Genau wie Berger wusste die scheiß Stimme einfach nicht, wann sie zur Abwechslung mal das Maul zu halten hatte!
Der Blödmann von Lehrer hatte ihn garantiert nicht gelobt. Berger lobte nie jemanden. Nicht so! Nicht mit einem so verfickt ehrlichen Lächeln! Und schon gar nicht Erik. Ganz sicher nicht.
„Verdammter Vollidiot!“, zischte Erik und zuckte zusammen, weil seine Stimme plötzlich noch gequälter klang, als er sich eh schon fühlte. „Du hasst ihn! Er provoziert dich nur.“
Aber je mehr Erik versuchte, sich das einzureden, desto schmerzhafter krampfte sich sein Magen zusammen. Dieser Mist sollte aufhören! Wütend über sich selbst sprang Erik auf und fing an, durch den Raum zu tigern.
‚So geht das nicht weiter‘, ermahnte Erik sich erneut. ‚Berger muss aus deinem Kopf aus! Alles von ihm. Ein Skandal auf der Abschlussfahrt und du bist ihn für den Rest der Schulzeit los.‘
Wenn Erik dem Arschloch eine Lektion erteilen wollte, dann wäre das vermutlich die einzige Möglichkeit, die sich je ergeben würde. Er müsste es ja nicht einmal so weit kommen lassen, dass Berger am Ende tatsächlich Probleme bekam. Im Grunde genommen, musste Erik doch nur mitfahren und dafür sorgen, dass sie für eine Weile alleine waren.
‚Jemand muss wissen, dass ihr zusammen wart‘, warf die Stimme in seinem Kopf ein.
Erik stockte, starrte auf das Bücherregal in der Ecke des Zimmers, ohne wirklich einen der Titel anzusehen. So ungern er es zugab, aber die beschissene Stimme hatte recht. Nur wenn Berger befürchtete, dass ein falscher Eindruck entstehen könnte, würde das Ganze irgendeinen Effekt haben können.
‚Hör auf!‘
Erik blinzelte. Verwirrt sah er sich um, nicht sicher, was ihn gestoppt hatte. Jetzt, wo der Gedankengang unterbrochen war, beruhigte sich sein Herzschlag jedoch allmählich. Unruhig sah er hin und her, aber natürlich war niemand außer ihm hier.
Gedankenverloren fuhr er sich mit der Hand über den Mund. Wollte er wirklich so einen Scheiß mit Berger durchziehen? Wieder war da ein Ziehen in Eriks Eingeweiden, aber es war nicht mehr ganz so schmerzhaft. Eher ein Gefühl von Übelkeit. Gequält verzog Erik das Gesicht. Was trieb er hier eigentlich?
Egal wie sehr Erik versuchte Berger zu hassen, es wollte ihm nicht gelingen. Und was sollte es überhaupt bringen? Die Fahrt war wenige Wochen vor den schriftlichen Prüfungen geplant. Selbst wenn diese fixe Idee tatsächlich funktionierte, würde es rein gar nichts an Eriks jetzigen Situation ändern. Das Schuljahr wäre zu dem Zeitpunkt quasi gelaufen.
Für diese kranke Stimme in Eriks Kopf machte das allerdings keinen Unterschied. Sie flüsterte weiter die Worte, die es immer häufiger darauf anlegten, Eriks Geist zu vergiften: ‚Nur einmal die Kontrolle haben. Diesen Blödmann einmal in der Hand halten, damit er weiß, wie es sich anfühlt, wenn man am Boden ist.‘
„Nein“, flüsterte Erik leise.
Er wollte Berger nicht ruinieren. Weder beruflich noch sonst irgendwie. Der Gedanke, endlich die Oberhand über diesen geleckten Mistkerl zu haben, ließ jedoch ein angenehmes Flattern in Eriks Bauch zurückkehren.
‚Deiner Willkür ausgeliefert‘, flüsterte es schon wieder. ‚Dann gehört er nur dir.‘
In Eriks Kopf begannen sich die ersten Bilder zu formen. Dieser Augenblick, in dem Berger ihm gehörte. Nur ihm. Nicht diesen beschissenen Weibern, die der Blödmann ständig anlächelte. Keine verfluchte Schule, keine Regeln, keine verdammte Moral, die Erik weiterhin zurückhielt.
Er zuckte zusammen und keuchte, als ihm die Tragweite dieses Gedankens bewusst wurde. Ein Zittern lief durch Eriks Körper. Nur langsam konnte er sein Herz in einen ruhigeren Rhythmus zwingen.
„Es ist falsch“, krächzte er. Irgendwie musste dieser kranke Mist aus seinem Kopf aus.
„Bist Du noch wach, Erik?“
Überrascht sah er auf und zur Tür. „Ja, was ist?“, fragte Erik zurück, froh, dass seine Stimme nicht zitterte. Und umso glücklicher, dass seine Mutter die viel zu finsteren Gedankengänge ein weiteres Mal unterbrochen hatte.
Zögerlich öffnete sie die Tür und trat einen Schritt ins Zimmer. „Ist alles okay bei dir?“
Sofort beschleunigte sich Eriks Herzschlag wieder. Hatte Berger jetzt doch etwas an die Schulleitung gemeldet wegen dem ganzen Scheiß, den Erik ihm ständig in den Hausaufgaben vorsetzte? Vorsichtig riskierte Erik einen Blick zum Gesicht seiner Mutter, nur um sich sofort wieder einen anderen Punkt im Raum zu suchen.
„Klar. Warum nicht?“, versicherte er hastig und rang sich ein Lächeln ab.
„Ich weiß, dass du kein Kind mehr bist“, setzte sie seufzend an. Gleichzeitig musste Erik sich zwingen, nicht die Augen zu verdrehen. Wenigstens klang es vorerst nicht danach, als ob die Schulleitung bei ihr angerufen hatte. „Aber ich möchte wirklich, dass du unter der Woche nicht so spät nach Hause kommst.“
Während Erik innerlich erleichtert aufatmete, dass es nur um sein spätes Heimkommen ging, lächelte er seine Mutter kurz an: „Tut mir leid. Ich passe das nächste Mal besser auf.“
Sie nickte und sah sich einen Moment lang im Zimmer um. Sofort fragte Erik sich, ob er irgendwelche Hausaufgaben hatte liegen lassen, die sie womöglich gelesen hatte. Den Kram, den er von Berger zurückbekam, verwahrte Erik gut versteckt unter der Matratze auf. Bei dieser, Bestand sie glücklicherweise seit ein paar Jahren darauf, dass er es selbst frisch bezog.
„Ist in der Schule alles okay?“, fragte sie erneut nach.
‚Scheiße! Hat da etwa doch jemand angerufen?‘
Das Lächeln wollte schon von Eriks Lippen weichen, aber ein kurzer Seitenblick zu seiner Mutter zeigte ihm, dass diese nicht sonderlich wütend aussah. Als er nicht sofort antwortete, runzelte sie jedoch die Stirn.
‚Du brauchst eine Ablenkung!‘
Hastig stürzte Erik zum Rucksack und zog die Zettel für die Abschlussfahrt heraus. „Ich ... Das sind die Unterlagen wegen der Abschlussfahrt“, murmelte er hektisch, während er ihr die Zettel reichte. „Es geht nach Frankreich.“
„Frankreich?“ Unsicher überflog sie die ersten Absätze, die ihr Ziel beschrieben, bevor sie weiterblätterte zur Kostenaufstellung. Schon sah er, wie ihre Lippen sich schmal aufeinanderpressten.
„Die Schule hat ein Fö...“, setzte er zögerlich an, doch seine Mutter schüttelte sofort den Kopf.
„Nein.“
Erik sah zur Seite. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn sie ihm verbieten würde zu fahren. Womöglich würde das helfen, diesen kranken Mist aus dem Kopf zu bekommen. Trotzdem kam Erik nicht umhin die ersten Anzeichen der Enttäuschung in sich zu spüren.
„Es ist die Abschlussfahrt, Ma“, murmelte Erik leise. Unabhängig von dem Blödmann von Lehrer fühlte es sich schlichtweg falsch an, wenn er sich von Sandro und den Affen diese Fahrt bereits im Voraus vermiesen ließ. „Ich such mir einen zweiten Nebenjob. Aber ich weiß nicht, ob ich das alles zusammenbringen kann.“
Mit einem Mal lächelte seine Mutter und nickte. „Natürlich fährst du!“, entgegnete sie aus voller Überzeugung. „Irgendwie bekommen wir das Geld schon zusammen.“
Erik nickte und nahm ihr die Zettel wieder ab. Da er volljährig war, würde sie nichts unterschreiben müssen und das Geld brauchte er ja erst im nächsten Jahr. „Danke, Ma“, murmelte Erik und zwang sich, sie anzusehen und ihr ein Lächeln zu schenken, das sie prompt erwiderte.
Ihre Hand kam hoch und tätschelte ihm die Wange, wie sie es früher oft getan hatte. „Es tut mir leid, dass ich so oft nicht da bin, Junge.“
Ein Stich durchfuhr Eriks Magen. Vor allem, da er speziell in den letzten Wochen und Monaten gar nicht unglücklich darüber gewesen war, dass seine Mutter regelmäßig zum Nachtdienst weg war. Und er somit genug Freiheiten gehabt hatte, um sich mit Tom zu treffen.
Ganz sicher würde Erik ihr das aber nicht auf die Nase binden. Weder die Tatsache, dass er in dieser Zeit, wenn überhaupt, erst mit dem Nachtbus nach Hause gekommen war, noch dass der Grund dafür ein Mann war.
„Ich bin kein Kind mehr“, wiederholte Erik und drehte sich zur Seite. Um es weniger abweisend aussehen zu lassen, legte er die Zettel für die Fahrt auf den Schreibtisch.
„Ich weiß, Erik ...“, gab sie zurück. Er war sich nicht sicher, was dieser merkwürdige Unterton, in ihrer Stimme war, aber es verstärkte den Schmerz in seinem Inneren nur noch weiter. „Ich weiß.“
„Es ist alles gut, Ma.“
Zumindest würde es das sein. Spätestens, wenn dieses beschissene Schuljahr vorbei war. Und bis dahin würde Erik Bergers Pornopoesie genauso ertragen wie Sandros dämliche Kommentare. Und vielleicht würde sich ja doch noch die perfekte Gelegenheit ergeben, um es wenigstens einem von den beiden zurückzuzahlen.