6 – Fragen und Erinnerungen
Es war spät, als Erik sich endlich auf dem Heimweg machte – jedenfalls für seine Verhältnisse. Viele der anderen Männer im Rush-Inn sahen das vermutlich nicht ganz so. Aber nach dem langen Lauf am Morgen und der Arbeit bei Herrn Ceylan war Erik körperlich erschöpft. Und die Hausaufgaben sowie der Abend im Rush-Inn hatten ihn ebenso geistig ausgelaugt.
‚Außerdem wirst du heute – genau wie gestern – doch eh mit niemandem mitgehen.‘
Die kühle Nachtluft schlug Erik in mehrerlei Hinsicht ernüchternd entgegen. Mit einem tiefen Atemzug hielt er inne und sah zum Himmel empor. Sterne sah man hier in der Stadt nur selten – um nicht zu sagen nie. Selbst auf den Hügeln am Rande des Wohngebietes, wo er sich früher mit anderen oft getroffen hatte, strahlten die Lichter der Stadt noch so hell, dass man die Sterne kaum erkennen konnte.
‚Schade.‘, dachte Erik bei sich. ‚Dabei ist es heute vermutlich klar genug, um welche zu sehen.‘ Immerhin war in den letzten Tagen keine Wolke am Himmel gewesen.
„Na? Suchst du Sterne?“, fragte es plötzlich nehmen ihm und Erik fuhr überrascht herum.
„Nicht wirklich was zu sehen von denen in der Stadt“, murmelte Erik und trat einen Schritt beiseite, um dem Mann Platz zu machen. Scheinbar kam auch der gerade aus dem Rush-Inn und war auf dem Weg nach Hause.
Ein kurzes Grinsen, danach zuckte der Fremde mit den Schultern. „Vielleicht nicht immer nur da oben suchen“, gab er mit einem geradezu scheuen Lächeln zurück.
Erik wusste nicht so recht, was er darauf erwidern sollte. Wie automatisch glitt sein Blick an dem Fremden entlang, aber das Halbdunkel vor dem Rush-Inn machte es unmöglich, viel zu erkennen. Dunkle Haare und von der Statur her deutlich schmaler als Erik – vermutlich um die Zwanzig. Sogar bei der spärlichen Beleuchtung war er sich sicher, dass der Typ nicht zum Weglaufen aussah.
Einen Augenblick lang fragte Erik sich, ob er das Gespräch aufrecht erhalten sollte, aber da winkte ihm der Fremde bereits zu und verabschiedete sich. Kurz darauf war er in die entgegengesetzte Richtung verschwunden.
‚Schade‘, zuckte es Erik durch den Kopf. Aber die Gelegenheit war bereits vorbei. ‚Vielleicht besser so. Bist eh zu müde.‘
Also kehrte Erik nach Hause zurück. Die Klamotten landeten achtlos auf dem Boden vor dem Bett und er selbst ließ sich erschöpft in eben dieses fallen. Noch immer ging ihm der Mann, den er vorm Rush-Inn getroffen hatte nicht aus dem Kopf. Weniger weil der übertrieben attraktiv oder interessant gewesen wäre – dafür hatte Erik schlichtweg nicht genug von dem Kerl gesehen und zu kurz mit ihm gesprochen. Die Tatsache, dass ihn überhaupt jemand angesprochen hatte, erinnerte Erik allerdings erneut daran, dass er seit der Trennung von Dominik, keinen Sex mehr gehabt hatte.
Und das war inzwischen immerhin über zwei Monate her.
Ganz sicher trauerte er der Beziehung mit Dominik nicht hinterher. Erst recht nicht nachdem Erik den in seiner verwandelten Form heute wiedergesehen hatte. Aber der Sex fehlte trotzdem. Internet und die eigene Linke konnten eben nicht mit einem lebenden und atmenden Körper mithalten. Zu dem gehörten einfach ein paar Teile mehr als zwei Hände. Dinge, mit denen man noch deutlich interessantere Sachen anstellen konnte.
Erik stöhnte und vergrub das Gesicht im Kissen. Definitiv Zeit, dass er sich wieder was Neues suchte. Musste ja nicht gleich eine Beziehung oder gar die große Liebe sein. Mal ehrlich? Wer brauchte das denn schon? Er war gerade mal achtzehn. Und mit diesem ganzen Gefühlsduselkram hatte Erik noch nie etwas anfangen können. Es machte alles nur viel komplizierter, wenn er ständig darüber nachdenken musste, was sein Gegenüber wohl gerade dachte oder fühlte.
‚Zumal du da beim Raten ohnehin ständig daneben liegst.‘
Die Sache mit der Beziehung hatte Erik bei Dominik grundlegend in den Sand gesetzt. Also womöglich war es an der Zeit, es mit der schlichten Befriedigung der Grundbedürfnisse zu versuchen. Es gab garantiert genug Männer, die an regelmäßig Sex ohne irgendwelche Bedingungen Interesse hatten.
‚Und das kriegst du hin?‘, höhnte es in seinem Kopf. Da war Erik sich selbst nicht sicher, wie seine Antwort lauten würde.
Sex mit ständig wechselnden Typen klang doch irgendwie reichlich abgewrackt. So, als ob Erik es nicht wert wäre, dass man sich mehr als einmal mit ihm traf. Mit Typen, auf die genau das zutraf, wollte er sich ehrlicherweise selbst nicht einmal für dieses eine Mal treffen. Allerdings wäre es sicherlich hilfreich, wenn er sich nicht gleich dazu verpflichtet fühlen müsste, einen auf heile Welt und den ganzen Scheiß zu machen. Diesen Unsinn gab es doch eh nur in irgendwelchen Schnulzenbüchern, die garantiert nicht zu Eriks bevorzugter Form von Literatur gehörten.
„Einen Versuch wäre es wert“, murmelte er und seufzte, weil der blöde Spruch nicht mal ihn selbst überzeugen konnte.
Aber Sex, ohne Gefühle zu investieren, die Erik sowieso nicht verstand. Das klang nach genau dem, was er brauchte. Na gut, es wäre vermutlich hilfreich, wenn Erik den Mann zumindest einigermaßen möge würde. Oder? Konnte man mit jemandem schlafen, der einem völlig egal war? Konnte Erik das?
‚Du bist jung. Lern es halt.‘
Erik stöhnte erneut, aber allmählich war er zu müde, um noch weiter über solche Dinge nachdenken zu können. Und die Erkenntnis, dass er sich schon wieder von seinem eigenen Verstand verhöhnen ließ, half auch nicht. Also gab Erik der Müdigkeit nach und driftete langsam in die Dunkelheit ab.
✑
Als er aufwachte, war der Morgen längst vorbei und Eriks Mutter entsprechend vom Dienst zurück. Genau genommen war es das Klappern von Töpfen in der Küche, das ihn überhaupt erst weckte. Verschlafen rieb Erik sich die Augen und blinzelte ins Halbdunkel des Zimmers. Die Vorhänge waren zugezogen und die dreckige Wäsche vom Vortag lag nicht mehr auf dem Boden verstreut.
‚Scheiße!‘, dachte Erik innerlich fluchend bei sich, als ihm klar wurde, dass sein nacktes Hinterteil wie auf dem Präsentierteller hier lag. ‚Sei froh, dass es dein Po und nicht die andere Seite war.‘
Allmählich fing die beschissene Stimme in seinem Kopf an zu nerven! Dazu die Tatsache, dass Eriks Mutter mal wieder einfach so in sein Zimmer gekommen war. Nicht zu vergessen die gehörige Portion Wut auf sich selbst, die erneut in seinem Magen gärte. Erbost sprang Erik auf und zerrte frische Unterwäsche aus dem Schrank.
Nach einem kurzen Blick in den Flur und ebenso rasches Lauschen in Richtung der Küche stellte er fest, dass seine Mutter scheinbar mit dem Mittagessen beschäftigt war. Also schlüpfte Erik hastig ins Bad und unter die Dusche.
Zehn Minuten später stank er nicht mehr nach Alkohol, fühlte sich erfrischter und Eriks Schritt zeigte keine Anzeichen, die ihn gegenüber seiner Mutter hätten in Verlegenheit bringen können. Die Jogginghose und das Shirt vom Vortag waren genauso wie die Sachen vom Abend verschwunden, also holte er sich frische Klamotten aus dem Schrank.
„Morgen, Ma“, murrte Erik – um einen einigermaßen zivilisierten Ton bemüht, zur Begrüßung, als er kurz darauf in die Küche schlurfte.
„Guten Morgen?“, gab seine Mutter gut gelaunt zurück. Mit dem Zeigefinger deutete sie auf die Uhr an der Wand. „Den hast du inzwischen verpasst.“
Am liebsten hätte er ihr einen Kommentar um die Ohren gehauen, dass das noch lange kein Grund war, einfach in sein Zimmer zu kommen. Aber immerhin hatte sie das offenbar nur getan, um seine Klamotten zu waschen. Da sollte er sich womöglich nicht gar zu laut beschweren, wenn er vermeiden wollte, das schon wieder selbst erledigen zu müssen. Deshalb rang Erik sich ein Grinsen ab und ließ sich auf einen Stuhl neben dem Küchentisch fallen. Für einen Moment beobachtete er seine Mutter. Mit jeder verstreichenden Sekunde verebbte die Wut ein Stück mehr.
Er war volljährig. Das mit der Wäsche sollte er allmählich auch mal selbst hinbekommen. Stattdessen regte er sich auf, dass sie das für ihn erledigte. Mit einem Mal kam Erik das nicht sonderlich fair vor. Zumal seine Mutter jetzt auch noch hier in der Küche stand und für ihn kochte.
Ein weiterer Punkt, den er wohl zu schätzen wissen sollte. Aber das blöde Gefühl in Eriks Bauch wollte einfach nicht weggehen. Es war lockere zwei Wochen her, dass sie zuletzt zusammen gegessen hatten. In der Zeit hatte er sie nicht einmal jeden Tag gesehen. Ein Stapel saubere Wäsche und sonntags ein Mittagessen machte keine Familie aus.
„Was gibt’s denn?“, fragte Erik, als neben dem Essen auch die Wut schon wieder drohte hochzukochen.
„Kartoffelsuppe.“
Für eine Sekunde verzog Erik das Gesicht, beeilte sich jedoch, ein Lächeln aufzusetzen, als sie sich zu ihm umdrehte: „Lecker.“
„Ich weiß, dir wäre ein Braten lieber, aber es geht aufs Monatsende zu ...“
„Schon gut!“, unterbrach Erik und winkte ab. Er wusste nur zu gut, dass bei dem mageren Gehalt, das seine Mutter als Pflegekraft bekam, keine großen Sprünge für sie beide drinnen waren. Da waren oft genug am Ende des Monats zu viele Tage übrig, wenn das Geld längst alle war.
„Wie läuft es denn in der Schule?“, fragte sie plötzlich und riss Erik damit aus seinen Gedanken und in die Realität zurück.
‚Scheiße! Hat etwa schon jemand angerufen?!‘
Ein Zittern wanderte kurz durch Eriks Körper. Trotzdem zwang er sich zur Ruhe, als er möglichst lapidar antwortete: „Gut.“ Dennoch vermied er es, sie anzusehen, malte stattdessen versonnen mit dem Zeigefinger Kreise auf den Küchentisch. „Warum fragst du?“
„Na, es sind jetzt schon fast drei Wochen und das ist dein letztes Schuljahr“, gab sie verwundert zurück. „Hast du dich eigentlich inzwischen entschieden, was du danach machen willst?“
Erik sah weg, damit man ihm die Erleichterung nicht sofort ansah, und zuckte beiläufig mit den Schultern. Scheinbar kein Anruf aus der Schule. Wobei selbst der Direktor lieber seinen Sonntag genießen dürfte, als sich von einem vermutlich hysterischen und erbosten Berger belästigen zu lassen. Der Anruf kam sicherlich nicht vor morgen.
„Erik“, fuhr seine Mutter seufzend fort. „Es muss doch irgendetwas geben, das dich interessiert.“
„Mich interessieren viele Sachen.“
„Ich meine etwas, das man auch studieren kann. Oder eine Ausbildung. Es ist mir egal, was du machen willst, das weißt du. Ich unterstütze dich bei allem. Aber es ist nicht einmal mehr ein Jahr. So langsam wird es Zeit, dass du darüber nachdenkst, bevor die Ausbildungsplätze vergeben sind.“
„Ja, Ma“, leierte Erik die übliche Zustimmung herunter, vermied es jedoch weiterhin, sie anzusehen.
Dieses Gespräch hatten sie in den letzten Wochen und Monaten so oft geführt, dass es ihm schon zu den Ohren raushing.
Aber weder hatte Erik sich bisher zu einer Meinung durchringen können, noch hatte es ihn sonderlich interessiert. Zuerst war er zu sehr mit Dominik beschäftigt gewesen. Danach kam die Trennung und er hatte keine Lust gehabt über seine ‚Zukunft‘ nachzudenken. Diesen Begriff hatte es in den Sommerferien für ihn nicht einmal gegeben. Und nachdem die Schule wieder angefangen hatte, war Sandro zu Eriks Hauptproblem geworden.
‚Ganz abgesehen davon, dass du schlichtweg keinen Plan hast, was du mit deinem Leben anfangen willst‘, musste er sich selbst gegenüber zugeben.
Im Moment spielte das wohl auch keine sonderlich große Rolle. Schließlich zählte heute lediglich, ob er morgen überhaupt noch irgendeine berufliche Zukunft haben würde. Oder ob sich das Ganze damit erledigen würde, dass Berger diesen beschissenen Aufsatz dem Direktor vorlegte? Die Sorge, dass das Arschloch von Lehrer sich die Gelegenheit ihm eine reinzuwürgen, nicht würde nehmen lassen, lag Erik schon wieder schwer im Magen. Wahrscheinlich war der Typ genauso froh, wie Sandro, wenn Erik erst mal von der Schule flog.
Missmutig saß er am Küchentisch und starrte auf seine Finger, mit denen er weiterhin Kreise über die Tischplatte zog. Eriks Mutter schnitt derweil die letzten Gemüsestücke und ließ sie in den Topf gleiten. Für einen Augenblick überlegte er, ob er ihr nicht einfach die Wahrheit sagen sollte. Entsprechend vorbereitet, würde sie bei dem Gespräch mit dem Direx vielleicht auf Eriks Seite stehen. Zumindest wäre sie nicht total überfahren von dem, was sie bei dem unvermeidlichen Elterngespräch nächste Woche erwarten würde.
Aber Erik konnte die leise, kleine Hoffnung nicht unterdrücken, dass sein Plan am Ende vielleicht doch aufgehen oder Berger sich zumindest nicht trauen würde, den Aufsatz jemandem zu zeigen. Solange wenigstens dieser winzige Funken verblieb, wollte Erik seiner Mutter keine unnötigen Sorgen machen. Zumal er ihr ansonsten womöglich würde erzählen müssen, was tatsächlich in dem verdammten Aufsatz stand.
„Essen gibt es in einer halben Stunde“, bemerkte sie und riss Erik damit aus seinen Gedanken.
Er nickte und stand auf. Im Wohnzimmer zappte Erik für ein paar Minuten durch die Programme, nur um wieder einmal festzustellen, dass es scheinbar rein gar nichts mehr zu geben schien, was ihn interessierte.
Das schloss im Übrigen das Essen ein, das zwar lecker roch und nachdem es endlich fertig war, auch so schmeckte. Es war dennoch nicht das, was Erik nach der Anstrengung des Vortages gebraucht hätte. Ein kurzes Lächeln huschte über seine Lippen, als ihm durch den Kopf schoss, dass außer etwas Anständigem zum essen auch noch ganz andere Dinge gab, die er tatsächlich brauchen könnte.
„Heute Abend bleibst du daheim, oder?“, forschte Eriks Mutter plötzlich nach und schreckte ihn damit ein weiteres Mal aus seinen Gedanken auf.
Einen Moment lang überlegte Erik. Ausgehen klang verlockend. Aber auch wenn Alex moderate Preise hatte, waren die zwei Abende am Stück durchaus ins Geld gegangen. Außerdem war morgen ein Schultag. Wahrscheinlich spielte sie darauf an, dass es besser wäre, er blieb zu Hause.
„Weiß nicht“, antwortete er ausweichend.
Seine Mutter lächelte und aß zunächst weiter. Erst als sie beide fertig waren und Erik den Tisch abräumte, sprach sie ihn erneut darauf an. „Meine Schichten wurden getauscht und ich hab deshalb nachher Dienst. Wenn du wirklich noch einmal weggehst, denk bitte daran, dass morgen Schule ist.“
Als ob Erik das nicht selbst wüsste.
„Ich werde schon nicht zu spät nach Hause kommen“, knurrte er eine Spur beleidigt, weil es ein weiteres Mal so klang, als würde sie ihn wie ein Kind behandeln.
Seine Mutter seufzte, sagte aber nichts mehr. Also verzog sich Erik in sein Zimmer. Die Lust auf Fernsehen war ihm vergangen. Kurz darauf hörte er die Schlafzimmertür, als seine Mutter sich vermutlich für ein paar Stunden hinlegte, bevor sie zu einer weiteren Nachtschicht aufbrechen würde. Das schlechte Gewissen kam wieder in Erik hoch, als er daran dachte, was wohl am morgigen Tag passieren würde. Ändern ließ es sich aber nicht mehr. Deshalb zwang er sich, die düsteren Vorahnungen beiseitezuschieben.
Je länger er auf seinem Bett lag und an die Decke starrte, desto verlockender klang die Idee, heute wieder auszugehen. Es würde ihn hoffentlich wie an den vorherigen Abenden auf andere Gedanken bringen. Hastig kramte Erik in der Pappschachtel, die seine Einnahmen enthielt und stellte fest, dass es locker für zwei, drei Bier bei Alex reichen würde. Übertreiben musste er schließlich ohnehin nicht.
‚Das wäre damit entschieden.‘
Ein Blick auf die Uhr zeigte allerdings, dass es noch viel zu früh war, um aufzubrechen. Hausaufgaben waren keine mehr zu erledigen, die Wäsche hatte seine Mutter gewaschen, gekocht ebenso. Erik sah sich im Zimmer um und entschied, dass es ungeachtet der Meinung einer gewissen anderen Person dieses Haushaltes aufgeräumt genug war.
Wirklich zu tun war entsprechend nichts. Also schnappte Erik sich seinen Laptop und setzte sich mit dem Rücken an die Wand gelehnt auf das Bett. Den Rechner hatte er sich letztes Jahr in den Sommerferien hart bei Herrn Ceylan erarbeitet. Das Ding war Eriks Heiligtum, auch wenn er ihn hauptsächlich für Sachen benutzte, die seine Mutter garantiert nicht für gut befunden hätte.
Ein kurzes Grinsen huschte über Eriks Gesicht. ‚Was Ma nicht weiß, macht sie nicht heiß.‘, dachte er bei sich. Dabei gab es mehr als genug ‚heiße‘ Sachen, die er im Laufe dieses vergangenen Jahres dank der neuen virtuellen Freiheit gefunden hatte.
Nach Pornos stand Erik im Moment allerdings nicht wirklich der Sinn. Denen konnte er sich widmen, wenn er später am Abend aus dem Rush-Inn zurück war. Darauf, dass er heute ausnahmsweise mal nicht wie eine verdammte Jungfrau rumhocken und sich nicht trauen würde, jemanden anzusprechen, wagte Erik jedenfalls nicht zu hoffen.
Stattdessen surfte er kurz wahllos auf ein paar Datingseiten herum, auf denen er letztes Jahr im Sommer ein Profil erstellt hatte. Damals war er noch siebzehn gewesen, aber das prüfte ja eh keiner nach. Ein Jahr mehr oder weniger machte schließlich nichts aus und irgendwann war Erik ja tatsächlich achtzehn geworden. Allerdings war er zu dem Zeitpunkt dann bereits mit Dominik zusammen gewesen und Eriks Interesse an anderen Verabredungen entsprechend gering ausgefallen.
‚Wird Zeit, sich da mal wieder umzusehen.‘, sagte Erik sich und fing an, sich durch verschiedene Profile zu klicken, die angeblich genau seinem Geschmack entsprachen.
Eine halbe Stunde später warf Erik den Laptop frustriert ans Fußende des Bettes.
„Was für ein Scheiß!“, murmelte er wütend, dass er überhaupt damit gerechnet hatte irgendjemanden dort zu sehen, der sein Interesse wecken konnte. Die meisten von den Kerlen waren über dreißig. Wenn er einen neuen Vater wollte, hätte er seine Mutter auf so einer Seite angemeldet, nicht sich selbst.
Erik schloss die Augen und ließ den Kopf gegen die Wand im Rücken sinken. Dominik gestern zu sehen, hatte Erik deutlich daran erinnert, was ihm fehlte. Und es waren definitiv weder dessen Tanz- noch seine Kochkünste. Ersteres war vermutlich gar nicht schlecht, immerhin hatte Dominik in irgendeinem Musical angeblich schon einmal beinahe die Hauptrolle bekommen. Trotzdem waren Freizeitaktivitäten wie ‚Tanzen‘ nicht Eriks Geschmack. Genauso wenig wie das Essen, an dem Domi sich irgendwann versucht hatte.
Zugegeben war das der Moment gewesen, an dem Erik beschlossen hatte, sich von seiner Mutter zumindest ein paar Grundlagen des Kochens zeigen zu lassen. Wenigstens würde Erik so bei seinem nächsten Partner nicht wie ein Vollidiot vorm Herd stehen.
‚Der nächste Partner ...‘, schoss es Erik erneut durch den Kopf.
Fragte sich, wie er den finden sollte. Ohne Kumpels in irgendeinem der Klubs aufzutauchen, in denen Erik früher ausgegangen war, klag wenig verlockend. Zu groß die Gefahr, dass er einem von jenen Kumpeln über den Weg lief. Die Peinlichkeit wollte Erik sich nicht geben.
Blieb eigentlich nur das Rush-Inn, denn andere Läden kannte Erik nicht – was sich einmal mehr reichlich erbärmlich anfühlte. Alleine irgendwo hin, wo er vorher noch nie war, klang auch nicht gerade verlockend. Kundschaft hatte Alex genug und darunter ausreichend Leute in Eriks Alter – oder zumindest Anfang bis Mitte zwanzig. Auf jeden Fall besser, als was diese dämlichen Webseiten Erik vorgesetzt hatten.
Genervt sah er zur digitalen Anzeige des Weckers. Weiterhin deutlich zu früh, um sich umzuziehen. Er könnte freilich wieder eine Runde Laufen gehen. In Eriks Zeiten als Sportler hatte ihm das stets geholfen, den Kopf freizubekommen. Aber er spürte noch immer das Ziehen in den Beinmuskeln vom Vortag und das verdarb Erik jede Lust daran. Seit er nicht mehr im Sportverein war, hatte Erik das Lauftraining ebenso schleifen lassen. Vielleicht wäre es eine gute Idee, das zu ändern. Leider fehlte ihm, wie zu so vielen Sachen, dafür nicht nur heute die Motivation.
Seufzend zog Erik sich den Laptop heran und klappte ihn auf. ‚Und jetzt?‘, fragte er sich, während die Finger über der Tastatur schwebten.
Eines der Lesezeichen am oberen Rand des Browsers erweckte genau in dem Moment Eriks Aufmerksamkeit. Er zögerte eine Sekunde, dann siegte die Neugier. Mit einem kurzen Wischen des Fingers über das Touchpad hatte Erik den Mauszeiger auf den Eintrag gelenkt und darauf geklickt.
Beinahe augenblicklich poppte eine Seite mit diversen Fotos auf. Erik wusste selbst nicht, warum er sich das antat. Aber etwas in ihm drängte danach. Vielleicht würde es helfen, endgültig damit abzuschließen. Die ersten sechs Bilder zeigten Dominik im Theater. Jedenfalls nahm Erik an, dass es dort war, schließlich hatte er es nie über sich gebracht zu einer der Vorstellungen zu gehen.
‚Weil Domi nie wichtig genug war.‘, meine eine kleine, leise Stimme in Eriks Kopf und er stimmte schweigend zu.
So sehr hatte Erik Dominik tatsächlich nicht beeindrucken wollen. Nicht einmal am Anfang, als er noch ehrlich von sich behauptet hätte, dass er ‚verknallt‘ gewesen war.
‚Geil. Nicht verknallt‘, korrigierte sein nerviger Verstand ihn.
Womöglich auch das. So ganz sicher war Erik sich nach ihrer Trennung inzwischen selbst nicht mehr. Langsam scrollte er runter. Sechs weitere Bilder, die nur Dominik zeigten. Immerhin bisher keins von dem Anabolikaopfer vom Vortag.
‚Wenigstens etwas.‘
Auch wenn Erik sich nicht sicher war, warum. Denn zurücknehmen würde er Dominik ja eh nicht. Schon gar nicht nachdem er jenen gestern mit diesem gestelzten Getue im Rush-Inn gesehen hatte.
‚Selbst Alex hatte gemeint, dass Domi sich verändert hatte.‘, dachte Erik. ‚Und der kennt scheinbar jeden, der in seiner Bar regelmäßig verkehrt.‘
Er scrollte noch weiter. Im Grunde waren die folgenden Bilder jedoch alle nach dem gleichen Schema. Eriks Ex in diversen mehr oder weniger aufreizenden Posen. Alternativ bei einer der Proben im Theater. Denn so nah wie einige der Aufnahmen gemacht worden waren, hätte andernfalls schon jemand bei der Vorstellung auf der Bühne stehen müssen.
Etwas fing an sich in Erik zu regen, während er auf die Bilder starrte. Bei einigen hatte Domi nicht gerade viel an. Vor allem hatte der Fotograf den verdammt gut trainierten Hintern mehr als einmal wirklich unheimlich gut in Szene gesetzt. Wer auch immer die Bilder gemacht hatte, wusste genau, worauf er halten musste, um den richtigen Effekt zu erzielen.
Erik runzelte die Stirn und scrollte weiter. Allmählich kam er in der Zeitlinie in den Bereich, als er mit Dominik ausgegangen war. Natürlich fanden sich von ihnen beiden keine Fotos auf der Seite, allerdings hatte Erik das auch nicht erwartet. Auf diesen Bildern war offenbar grundsätzlich niemand anderer als Dominik. Zwischen den tatsächlich eher professionell anmutenden Fotos die seinen Ex in das perfekte Licht setzten, mischten sich an dieser Stelle einige wenige, an die Erik sich nur zu gut erinnerte – weil er sie geschossen hatte.
Die Bilder, die sie gemeinsam gemacht hatten, waren jedoch wenige und wirkten im Vergleich stümperhaft. Allerdings hatte Erik es nie darauf angelegt, Dominiks Reize herauszustellen. Er hatte versucht, den Mann als solchen festzuhalten. Eine Erinnerung zu schaffen. Genau die gefiel ihm inzwischen allerdings gar nicht mehr. Vor ein paar Monaten hatte Erik gedacht, dass er in Domi nicht nur einen guten Fick, sondern eher etwas wie einen Partner gefunden hatte. Wenn er jetzt auf diese Zeit zurückblickte, hatte das von Dominiks Seite wohl anders ausgesehen. Für den war Erik scheinbar nur eine Ablenkung gewesen. Ein Spielzeug, das Domi ausprobiert und für unzureichend befunden hatte.
‚Ungeeignet und falsch.‘
„Was soll’s?“, murmelte Erik und klappte den Laptop wieder zu. „Scheiß auf Domi!“
Was scherte ihn der Kerl? Ja, wegen dieser verdammten Trennung, hatte der Mist in der Schule überhaupt erst angefangen. Aber das ließ sich jetzt eh nicht mehr ändern.
„Hör endlich auf, weiter darüber nachzudenken!“, ermahnte Erik sich selbst und sprang auf. Mit raschen Handgriffen hatte er ein paar Klamotten aus dem Schrank gezogen und sich kurz darauf für den Abend fertiggemacht. Zwar war es weiterhin zu früh, um ins Rush-Inn zu gehen, zu Hause hielt er es im Moment aber genauso wenig aus.
Deshalb stolperte Erik kurz darauf förmlich aus der Wohnung und lief den Fußweg entlang. Das Wetter war für die Jahreszeit recht warm und da Erik Zeit hatte, beschloss er, diesmal nicht den Bus zu nehmen. Auf diese Weise würde Erik zwar fast eine Stunde brauchen, aber wenigstens musste er sich derweil nicht mit den Bildern von Dominik herumplagen.
Tatsächlich funktionierte der Plan relativ gut. Jedenfalls bis Erik an einem Werbeplakat für eines der Musicals vorbeikam, von den Dominik ihm vor ein paar Monaten erzählt hatte.
Missmutig stapfte Erik weiter und versuchte krampfhaft an irgendwas anderes als Domis perfekten strammen Hintern zu denken, der sich ihm auf eben jenem Plakat in zu engen Hosen entgegengestreckt hatte. Zwar nicht im Vordergrund, denn wie üblich hatte sein Ex offenbar lediglich eine der Nebenrollen ergattern können. Diese Rückseite hätte Erik allerdings überall erkannt.
‚Im Schlaf. Im Dunkeln. Mit verbundenen Augen und auf dem Rücken gefesselten Händen.‘
Erik grinste und stapfte um die nächste Ecke. Nach zwei weiteren Straßenecken war er am Ziel. Vorsorglich zog Erik das Handy heraus und stellte fest, dass es fast acht Uhr war. Reichlich früh, aber so lange konnte er heute ja sowieso nicht bleiben. Also beschleunigte Erik seine Schritte und zog kurz darauf die vertraute grüne Tür auf, um die kleine Kneipe zu betreten.
Kaum hatte Erik sie wieder hinter sich geschlossen, stockte er. Hatte er irgendwas verpasst? Verunsichert zog Erik ein weiteres Mal das Handy heraus, während er zur Bar hinüberlief. Kurz nach acht Uhr abends, stellte er erneut fest. Trotzdem war der Raum bereits mehr als reichlich gefüllt. Damit hatte Erik nicht gerechnet. Bedeutete für ihn vor allem, dass er vielleicht doch endlich einmal die Eier in der Hose haben würde, jemanden anzusprechen. Ein Gespräch mit irgendeinem dieser Männer wäre wenigstens ein Anfang.
Erik ging zur Bar und bestellte sich ein Bier, das er wie fast immer direkt bezahlte. Noch war Erik sich nicht sicher, wie lange er bleiben würde. Das Geld für die Drinks hatte er vorsorglich auf zwei Bier limitiert. Abgesehen davon, dass Erik nicht vorhatte sich jeden Tag volllaufen zu lassen, wäre alles Weitere, rausgeschmissenes Geld. Alkohol machte ihn nicht zu besserer Gesellschaft. Wie Erik ja im Sommer hatte feststellen dürfen, redete er volltrunken definitiv zu viel, als ihm oder seinem sozialen Leben guttat.
Kaum hielt Erik das kühle Glas in der Hand, drehte er sich zur Raummitte herum und ließ den Blick über die übrigen Anwesenden schweifen. Genau wie schon an den beiden Tagen zuvor wanderten die Gestalten eine nach der anderen in diverse Kategorien. Mehrheitlich orientierte sich Eriks Blick allerdings weniger auf die Gesichter, als vielmehr gewisse körperliche Attribute, die deutlich tiefer lagen. Auch wenn es da den einen oder anderen interessanten Kandidaten zu geben schien, merkte Erik sehr schnell, dass sich da schon wieder das bekannte Flattern in seiner Brust anzeigte. Eines, das leider so gar nichts mit aufflammender Erregung oder Interesse zu tun hatte, sondern vielmehr mit Angst.
‚Weil du dich lächerlich machen wirst, wenn du kein Wort rausbringst.‘
Erik biss die Zähne zusammen. Scheiß Verstand, der zu nichts zu gebrauchen war, als sich selbst noch mehr fertigzumachen. Machten doch eigentlich alle anderen schon zu Genüge. Leider hatte das dämliche Ding recht.
Nicht einmal Dominik hatte Erik selbst angesprochen. Den hatte er zugegeben lediglich angestarrt und versucht, nicht direkt in seiner Hose zu kommen, als dieses perfekte Hinterteil über die Tanzfläche geschwebt war.
Erik seufzte und trat zur Seite, um einem freien Stuhl an der Bar zu ergattern. Konnte doch nicht so schwer sein, sich irgendeinen dämlichen Spruch einfallen zu lassen und jemanden anzusprechen. Zwei einfache Dinge: Maul aufmachen und irgendwelche Worte herauspurzeln lassen.
‚Bei deinem Glück ist das dann der dümmste Schwachsinn, den je ein Mensch in dieser Bar vor sich hingemurmelt hat.‘
Also biss Erik sich auf die Lippe und drehte sich zum Tresen um. Er braucht einen Plan. Einen verdammt guten, sonst würde das hier nie etwas werden.