21 – Beziehungen und Herzklopfen
Der folgende Mittwoch hätte besser laufen können, wie so viele andere in letzter Zeit. Immerhin hatte Sport alle, inklusive Sandro, dermaßen ausgelaugt, dass niemand mehr Lust hatte, sich mit Erik zu beschäftigen. Deshalb saß er zusammen mit seinen Mitschülern reichlich lustlos und erschöpft im Deutschunterricht und versuchte, den Ausführungen von Herrn Berger zu folgen.
Zumindest nahm Erik an, dass einige von ihnen das tun würden. Er selbst fühlte sich dazu nicht in der Lage. Weniger aufgrund körperlicher Erschöpfung, sondern vielmehr, weil ihm, kaum dass Erik den Klassenraum betreten hatte, klar geworden war, dass er die Hausaufgabe nicht erledigt hatte. Vor allem deshalb, da er weiterhin nicht darüber nachdenken wollte, was für eine Art von ‚Beziehung‘ die Charaktere in dem blöden, letzten Aufsatz führten.
Immerhin hatte Erik wie immer gehofft, eine Reaktion aus dem kalten Fisch da vorn damit rauszuholen. Also dürfte es reichlich klar sein, wer der Kerl mit den schwarzen Haaren in diesem ‚Machwerk‘ war. Das hieß aber noch lange nicht, dass Erik auf eine irgendwie geartete Beziehung zu einem blöden Lehrer wertlegen würde!
Wütend schielte Erik zu Berger hinüber, der vor der Klasse auf und ab marschierte und irgendetwas über Rollenbilder und Beziehungsgeflechte faselte. Darüber, dass man angeblich immer eine Beziehung zu jemandem hatte, wenn man ihn erst einmal kannte. Nur die Natur dieser wäre verschieden.
Wieder dieses beschissene, flaue Gefühl in Eriks Bauch. Er wollte keine Beziehung mit jedem Vollidioten führen, den er kannte. Das würde heißen, er hätte ebenso eine zu Sandro. Allein der Gedanke drehte Erik den Magen um.
„Ich hab sicher keine Beziehung zu irgendwelchen Kerlen, nur weil ich sie kenne“, tönte es von Sandro aus der hintersten Reihe. Wenigstens in dem Punkt waren sie sich ausnahmsweise einmal einig.
Ein verstohlener Blick über die Schulter zeigte Erik, dass Sandro heute alleine saß. Ines hatte sich auf ihren alten Platz neben ihre beste Freundin Jenny gesetzt und starrte finsterer aus der Wäsche, als Erik sich an wirklich schlechten Tagen fühlte. Da war ganz offensichtlich Ärger im Paradies.
„Beziehungen haben nicht zwangsläufig etwas mit Liebe zu tun“, entgegnete Berger gelassen. „Wenn Sie später einem Beruf nachgehen, werden Sie Kollegen haben, Vorgesetzte. Zu denen führen Sie naturgemäß doch ebenfalls eine Art von Beziehung.“
Ein kurzes Murmeln ging durch die Klasse. Für einen winzigen Moment hatte Erik wieder einmal den Eindruck, als würde da ein Lächeln an Bergers Lippen ziehen. Wenn dem so war, verschwand es allerdings genauso schnell wieder, wie es gekommen war.
„Sie sind erwachsen und eigentlich sollte Ihnen klar sein, dass sogar Feindschaften eine Form von Beziehung darstellen“, fuhr Berger nach einem unübersehbaren Blick zu Erik fort. Der senkte rasch den Kopf und kritzelte verhalten auf dem Block herum. Warum sah der Kerl eigentlich ausgerechnet ihn an, wenn er über Feindschaften redete?!
‚Weil du dem Typ mehrmals recht blumig beschrieben hast, wie gern du ihm auf dem Lehrertisch oder diversen anderen wenig bequemen Unterlagen das Hirn rausvögeln willst.‘
Unruhig rutschte Erik auf dem Stuhl hin und her, während Berger zur Tafel lief und ein Viereck daran malte. „Im Grunde genommen können Sie alle Arten von Beziehungen in vier Kategorien unterteilen“, erklärte er dabei.
Der erste Punkt, den Berger anschrieb, war ‚unterstützende soziale‘, gefolgt von ‚aversive‘, ‚indifferente soziale‘ und ‚ambivalente‘. In die Mitte des Vierecks schrieb er schließlich das Wort ‚Beziehung‘.
„Kommen wir zurück zu Ihrer Hausaufgabe.“
Erschrocken zuckte Erik zusammen. Als sich Berger umdrehte und dabei Erik direkt ansah, verkrampfte sich sein Magen schmerzhaft.
„Hanna“, meinte Berger jedoch. „Welche Beziehung führen Ihre Figuren und wo würden Sie diese einordnen?“
Als Erik nach links zu dem angesprochenen Mädchen schielte, konnte er sehen, dass sie knallrot anlief. Wenigstens war er vorerst um eine Antwort herumgekommen. Aus dem Augenwinkel sah Erik zur Uhr an der Wand. Mit etwas Glück würde Berger erst einmal alle anderen fragen und dann wäre die Stunde vorbei, bevor Erik an der Reihe war. Oder Berger verzichtete ganz darauf, von ihm eine Antwort zu verlangen, die der Blödmann hoffentlich selbst nicht hören wollte.
Nervös rutschte Erik auf dem Stuhl hin und her, während Berger einen nach dem anderen im Kurs abfragte und die Antworten an der Tafel eintrug. Immer darauf wartend, dass er jederzeit drankommen konnte. Mit jeder verstreichenden Minute glitten dabei jedoch – dank des verführerisch vor Erik hin und her wackelnden Pos – seine Gedanken immer mehr in eine vollkommen andere Richtung ab.
„Erik?“, fragte Berger und zerstörte gnadenlos nicht nur den Tagtraum, in den er einzutauchen drohte, sondern ebenso die Hoffnung, unbeschadet aus dieser Stunde herauszukommen.
„Was?“, war trotzdem alles, das Erik herausbrachte, da sein Hirn nicht schnell genug von ‚versaut‘ zu ‚normal‘ umschalten konnte.
„Ich würde es wirklich begrüßen, wenn Sie mir im Unterricht etwas mehr Aufmerksamkeit schenken würden“, gab Berger seufzend zurück und schüttelte erneut den Kopf.
Erik biss sich auf die Zunge, um dem Kerl nicht zu sagen, dass er an den meisten Tagen ohnehin zu viel Hirnaktivität auf diesen Mistkerl verschwendete.
Mit dem Daumen deutete Berger über die Schulter hinweg zur Tafel, wo bereits einige Begriffe angeschrieben waren. „Finden Sie die Charaktere aus Ihrer Hausaufgabe da wieder oder haben Sie einen weiteren Beziehungstyp zu bieten, den wir hinzufügen sollten.“
Erik schluckte und schaffte es wie so oft nicht, Berger ins Gesicht zu sehen. Stattdessen scannte er über die Begriffe, die sich inzwischen mehrheitlich in der ‚unterstützend sozialen‘ Ecke versammelt hatten.
Hanna hatte behauptet, ihre Charaktere seien glücklich verheiratet gewesen. Und natürlich tief verliebt. Erik wollte verdammt sein, wenn ihr Aufsatz nicht den gleichen schwarzhaarigen Protagonisten gehabt hatte, wie sein eigener. Obwohl Erik die starke Vermutung hegte, dass sich der Inhalt sehr deutlich unterschieden haben dürfte.
Das nächste Wort war ‚Freundschaft‘, von einem der Jungen eingeworfen, der behauptete, sein Text hätte davon gehandelt, wie zwei Freunde sich über ihre neueste Eroberung unterhielten. Wenn Erik sich den Typen ansah, bezweifelte er, dass der Kerl schon einmal ein Gespräch dieser Art geführt hatte – oder jemals führen würde.
Das ‚junge Liebe‘ hatte Berger frei interpretiert aus Olivers Version von ‚ein Typ und ein Mädchen, die miteinander gehen‘. Eine weitere Mitschülerin hatte mit knallrotem Kopf behauptet, sie hätte ein Gespräch mit ihrer Mutter beschrieben. Wie sie auf die bescheuerte Idee gekommen war, so etwas zu schreiben und obendrein noch zuzugeben, erschloss sich Erik nicht. Aber das hatte zumindest dazu geführt, dass der Begriff ‚Familie‘ an der Tafel gelandet war.
Sandro hatte ein lockeres ‚Nutte‘ eingeworfen – was bei genauerer Überlegung vermutlich in direktem Zusammenhang dazu stand, dass er heute alleine saß. Berger hatte sich darauf beschränkt es als ‚freie Liebe‘ zu interpretieren.
„Weiß nicht“, murmelte Erik, da er seine Charaktere in keinem dieser Begriffe sehen wollte. Am liebsten hätte er sich bei ‚aversiv‘ eingeordnet, denn leiden konnte Erik Berger schließlich nicht und der ihn ja ebenso wenig. Warum sonst sollte der Kerl ihn ständig derartig durchdringend ansehen?
‚So wie jetzt auch wieder‘, zuckte es Erik durch den Kopf, als er einen kurzen Seitenblick zu dem Mistkerl riskierte.
Dummerweise passt der Begriff nicht zu dem Gespräch, das Erik abgegeben hatte. Natürlich würde das außer dem Blödmann da vorn und ihm niemand wissen. Nachfragen dahingehend wollte Erik aber um jeden Preis vermeiden. Sonst würde am Ende noch der ganze Kurs erfahren, was er für einen Scheiß verzapft hatte.
„Sie müssen doch eine Vorstellung davon gehabt haben, wer dieses Gespräch führt“, drängte Berger weiter. „Es war immerhin eine der ausführlichsten Arbeiten.“
Erik biss die Zähne zusammen. „Hab ich nicht drüber nachgedacht“, knurrte er allmählich sauer zurück. Warum konnte der Mistkerl es nicht einfach auf sich beruhen lassen?!
Natürlich könnte Erik sich schlicht irgendetwas ausdenken, aber die Worte wollten ihm nicht über die Lippen kommen. Einfach sagen, dass die zwei Kerle sich nicht ausstehen konnten, so wie es nun einmal war. Allein der Gedanke, dieses beschissene Wort auszusprechen, verkrampfte Erik erneut die Eingeweide. Irgendetwas anderes konnte es aber schließlich nicht sein. Nicht so lange es um diesen Blödmann von Lehrer ging!
„Wenn Sie schon gestern nach dem Unterricht nicht darüber nachgedacht haben, dann tun Sie es eben jetzt.“
„Wozu?“ Eriks Stimme war lauter, als er beabsichtigt hatte und erschrocken darüber, zuckte er selbst zurück. Scheiße! Bergers Gesicht wurde finsterer. Da drohte eine weitere Strafarbeit.
In dem Moment klingelte es allerdings zur Pause. Hastig packte Erik die Sachen zusammen und stopfte sie in den Rucksack. Wenn er schnell genug hier rauskam, wäre das besser für alle Beteiligten.
„Ich möchte kurz mit Ihnen sprechen, Erik“, bremste ihn Bergers kühle Stimme jedoch.
‚Scheiße ... so viel dazu, dass du diesem Fiasko entkommen könntest.‘
Seufzend ließ Erik sich, nachdem er alles eingepackt hatte, wieder auf den Stuhl fallen. Anstatt zu Berger zu sehen, starrte er aber lediglich auf den Tisch vor ihm. Wieso konnte er nicht wenigstens ab und an die Klappe halten? Er hätte einfach irgendwas sagen sollen. Aber Erik fiel ums Verrecken kein Wort ein, das sich nicht grundsätzlich falsch anfühlte.
Nach und nach verließen Eriks Mitschüler den Raum, während Berger die eigenen Sachen zusammenpackte. Erst als sie allein waren, trat der Blödmann von Lehrer, Rucksack über der Schulter wieder zu ihm heran.
„Was sollte das, Erik?“, fragte Berger mit der für ihn geradezu üblichen Emotionslosigkeit in der Stimme.
„Was macht es für einen Unterschied? Es war nur ein blöder, ausgedachter Text. Nichts davon ist real. Was soll es bringen, da überhaupt drüber nachzudenken?“, gab Erik zischend zurück. Trotzdem sah er Berger nicht an. Der Blödmann versuchte sich doch garantiert nur für den Scheiß aus dem Hausaufsatz revanchieren.
Berger seufzte leise und schüttelte den Kopf. „Weil es manchmal eben nicht nur wichtig ist, sich permanent Gedanken darüber zu machen, was andere von einem selbst halten.“
Stirnrunzelnd sah Erik jetzt doch auf. Was sollte das denn heißen? Und warum sah Berger ihn so komisch an? Was war das für ein Blick? Es war jedenfalls weit von der kühlen Musterung entfernt, die Erik sonst ständig auf sich zu spüren glaubte.
„Sie sollten wenigstens ab und zu einmal darüber nachdenken, wie Sie über andere denken, Erik. Und welchen Einfluss das auf Ihr eigenes Verhalten denen gegenüber hat.“
Damit ließ Berger ihn einfach zurück und verschwand. Wie versteinert saß Erik da und starrte ins Leere. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, aber mit jedem erneuten Schlag, wurde dieses verfluchte Ziehen in seinem Magen stärker.
‚Was denkt der Blödmann sich eigentlich?!‘, fauchte es derweil in Eriks Kopf. Gleichzeitig war da jedoch eine andere Stimme, die darauf bestand, dass Berger möglicherweise – allerdings wirklich nur vielleicht – gar nicht unrecht hatte mit dem, was er sagte.
„Willst Du da noch lange rumsitzen?“, fragte irgendwann jemand.
Erschrocken zuckte Erik zusammen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Raum sich allmählich mit anderen Schülern füllte. Hastig sprang Erik auf und murmelte eine Entschuldigung, bevor er sich im Laufschritt aufmachte, damit er nicht zu spät zu Mathe kam. Gerade rechtzeitig stürmte er in den Raum, als es bereits zur Stunde läutete.
„Tschuldigung“, nuschelte Erik und schob sich auf seinen Platz.
„Dann können wir ja pünktlich anfangen“, gab Herr Darian lächelnd zurück. „Ich hoffe, Sie haben alle an die Anmeldungen für Ihre Abschlussfahrt gedacht. Ein paar fehlen mir noch immer.“
Da war schon wieder etwas, das in Eriks Innerem zu revoltieren schien. Diesmal allerdings kein schmerzhaftes Ziehen, kein unangenehmes Reißen oder Verkrampfen. Vielmehr glich es einem Kribbeln. Einem, das zur Abwechslung kein Interesse zu haben schien, sich weiter südwärts auszubreiten.
Langsam kramte Erik die Zettel heraus, die er am Vorabend ausgefüllt hatte. Als sie schließlich vor ihm lagen, war Erik sich nicht mehr sicher, ob er sie abgeben sollte. Eigentlich hatte er mitfahren wollen, um diesem Mistkerl Berger eine Lektion zu erteilen. Je öfter Erik darüber nachdachte, desto dämlich erschien ihm das – und umso kranker.
Wenn er heute diese blöden Zettel einfach nicht abgab, wäre die Abschlussfahrt für ihn erledigt. Erik würde nicht mitfahren, hätte keinen Ärger von Sandro und den Idioten zu erwarten und konnte dafür eine Woche länger ins Lernen investieren. Schaden konnte das vermutlich eh nicht.
„Erik?“, fragte Herr Darian, als er vor ihm stand – die Hand ausgestreckt.
Und mit einem Mal war Eriks Kopf wie leer gefegt. Er wusste nicht mehr, ob er mitfahren wollte oder nicht. Die eine Hälfte von ihm, beharrte weiterhin darauf, dass er sich diese Fahrt verdammt noch einmal verdient hatte nach all den Jahren. Die andere kämpfte verzweifelt darum, dass das der einzige Grund war, warum er mitfahren sollte. Welcher Teil auch immer es war, der am Ende gewann, Erik hob wie in Trance den Arm und reichte Herrn Darian die Anmeldezettel.
„Dann fahren Sie wohl alle“, erwiderte der lächelnd und packte die eingesammelten Anmeldungen auf den Lehrertisch.
Eriks Herz schlug ihm bis zum Hals. Er wollte mit auf diese beschissene Fahrt. Nach all den Jahren in der Schule hatte er sie sich verdient! Aber die Vorstellung, dort tatsächlich diesen dämlichen Plan weiter zu verfolgen, drehte ihm im Augenblick eher den Magen um.
‚Berger ist nicht nett!‘, fauchte seine beschissene innere Stimme Erik an. ‚Er hat nur eine neue Möglichkeit gefunden, dich zu quälen.‘
Betreten starrte Erik auf den Block vor ihm und versuchte, den Ausführungen Herrn Darians zu folgen. War es das? Wollte Berger ihn tatsächlich auf diese Weise quälen? Weil er genauso ein intolerantes Arschloch war wie Sandro?
Immer weiter sank Erik in sich zusammen und rieb sich über den schmerzenden Bauch. Diese beschissenen Krämpfe nervten. Vielleicht sollte Erik damit mal zum Arzt gehen. Könnte ja ebenso ein Magengeschwür oder etwas in der Art sein.
Womöglich würde es auch schon reichen, wenn Erik endlich aufhörte, über Berger nachzudenken. Schließlich konnte der Mistkerl von Lehrer ihm vollkommen egal sein. Und leiden konnte er ihn sowieso nicht. Nicht mal ansatzweise! Der Kerl war verflucht noch einmal ein Lehrer!
Dummerweise wurde es zunehmend schwerer, diesen Blödmann zu hassen.
✑
Kaum war die Schule aus, hatte Erik das Handy gezückt und war dabei eine Nachricht an Tom zu schreiben. Heute Abend könnte er Gesellschaft gebrauchen. Und da Eriks Mutter zur Nachtschicht gehen würde, musste er sich diesmal keine Gedanken machen, dass sie ihn erneut dabei erwischen könnte, wie er zu spät nach Hause kam.
„Da war wohl jemandem sein Sexgespräch peinlich“, tönte es plötzlich hinter ihm.
Überrascht tippte Eriks Finger auf das Sendezeichen und damit war die Nachricht an Tom auch schon weg. Als er sich umdrehte, stand dort Sandro. Luca war nicht zu sehen, aber Oliver hatte sich ein paar Schritte weiter weg postiert. Sonderlich begeistert davon hierzusein, sah er nicht aus.
„Was willst Du, Sandro?“, fragte Erik kühl zurück. Auf Gespräche mit dem Arschloch konnte er immer verzichten. Heute drängte es ihn aber nicht einmal danach, dem Affen eine reinzuhauen. Es gab also realistisch betrachtet keinen Grund, hier zu stehen.
„Als ob dein kranker Scheiß überhaupt irgendeine Beziehung zeigen könnte“, provozierte Sandro jedoch weiter.
Schon spürte Erik, wie das Brennen in seinem Bauch stärker wurde. Aber er schaffte es, die Wut unter Kontrolle zu halten. „Wenn Du so scharf darauf bist, es zu lesen, kann ich’s dir morgen mitbringen“, gab er deshalb breit grinsend zurück. Dass auf Olivers Lippen kurzzeitig ein Grinsen zu sehen war, überraschte nicht nur, es stachelte Erik ebenso unnötigerweise weiter an. „Und offenbar führen wir zwei ja auch eine Beziehung.“
„Du willst wohl eine in die Fresse, Homo!“
Erik schüttelte schweigend den Kopf. Drehte sich dann allerdings um. So gern er Sandro das vorlaute Maul polieren wollte, für heute hatte Erik andere Pläne. Und sicher gehörte nicht dazu, dass er sich wieder von Tom verarzten ließ. Wenn der in Kürze für mehr als eine Woche aus der Stadt verschwand, gab es andere Dinge, die Erik vorher mit seinem Studenten ‚erledigen‘ wollte.
Sandro rief ihm etwas nach, aber Erik achtete nicht mehr auf ihn. Sollte der Arsch toben wie ein wildgewordener Gorilla. Trotzdem wartete Erik die ganze Zeit darauf, dass ihn plötzlich jemand von hinten anspringen würde. Es passierte allerdings nichts.
Er war noch nicht zu Hause, als das Handy piepte. Zufrieden stellte Erik fest, dass Tom ihn heute Abend treffen konnte – und wollte. Neun Uhr im Rush-Inn. Das klang vernünftig. Zwar war morgen ein Wochentag, aber wenn Erik ein paar frische Klamotten und die Unterlagen mitnahm, konnte er ja bei Tom schlafen und dann von dort zur Schule fahren. Der Weg war zwar weiter, aber auf diese Weise würde Erik nicht ganz so früh aufstehen müssen.
Kaum dass er die Wohnung betreten hatte, kam seine Mutter aus der Küche.
„Es ist was zu Essen im Kühlschrank“, meinte sie lapidar und deutete über die Schulter hinweg.
Erik nickte schnell, verzog sich dann zunächst in Richtung seines Zimmers.
„Ich treffe mich vor dem Dienst mit Selina“, rief seine Mutter ihm hinterher. „Wenn was ist, ruf einfach an.“
Lautlos stöhnend schüttelte Erik den Kopf. „Ich bin kein Kind, Ma.“
Und sicher würde er sie nicht anrufen, egal was war. Erik hatte vor, den Abend in einer stadtbekannten Schwulenbar und vor allem mit Toms Gesellschaft ausklingen zu lassen. Beides Dinge, die Erik seiner Mutter nicht gerade auf die Nase binden würde.
Die sah ihn zwar für einen Moment lang forschend an, entschied sich dann aber offenbar, ihm den Willen und sich selbst ihren Seelenfrieden zu belassen. Zumindest wandte sie sich ab. Erik atmete tief durch, warf den Rucksack in die Ecke und ließ sich zunächst aufs Bett fallen.
So sehr er sich bemühte, nicht an die heutige Deutschstunde zu denken, die Erinnerung daran drängte sich ihm wie so oft schlicht auf. Vielmehr war es Berger, den Erik weiterhin vor sich sah. Wie er nach der Stunde, mit dem üblichen, scheinbar ausdruckslosen Gesicht vor ihm stand.
„Sie sollten wenigstens ab und zu einmal darüber nachdenken, wie Sie über andere denken, Erik. Und welchen Einfluss das auf Ihr eigenes Verhalten denen gegenüber hat.“
Wieder war da dieses unangenehm ziehende Gefühl in Eriks Innerem, kaum dass die Worte durch seinen Geist gewandert waren. Irgendwo im Hinterkopf konnte Erik eine Stimme hören, die ihm zurief, dass er nicht ohne Grund so von Berger, Sandro und den ganzen anderen Idioten dachte. Die hatten schließlich angefangen!
Aber die Stimme war leise und dafür eine neue deutlich lauter. Der wollte Erik jedoch nicht zuhören. Denn was die zu sagen hatte, war etwas das total dämlich klang. Gedankenverloren rieb Erik sich über die Brust, hinter der ihm jetzt auch noch das verfluchte Kribbeln zunehmend zu schaffen machte.
Bedeuteten Bergers Worte tatsächlich eine Reaktion auf den ganzen Scheiß, den Erik diesem Kerl seit Monaten entgegenwarf? Bisher hatte er angenommen, das würde den Blödmann alles kaltlassen. Und realistisch betrachtet, war von ‚Emotionen‘ bei Berger nicht viel zu sehen gewesen.
„Ich geh jetzt!“, rief Eriks Mutter in diesem Moment und riss ihn damit zurück in die Gegenwart.
Hastig sprang er auf und trat in den Flur. „Mach’s gut“, rief Erik ihr zu. Für eine Sekunde sah sie ihn irritiert an, dann lächelte sie und nickte ihm zu.
Das Kribbeln in Eriks Brust wurde stärker, während er ihr stirnrunzelnd hinterherblickte. Warum zum Teufel war das jetzt bei ihr auch da? Was war das für ein dämlicher Mist?
Als die Tür ins Schloss fiel, tastete Erik vorsichtig über seinen Mund. Waren seine Mundwinkel etwa tatsächlich hochgezogen? Irgendetwas war heute anders. Aber Erik kam einfach nicht drauf, was es war.