10 – Provokation und Reaktion
Fünf vor Acht stand Erik vor dem Haus, in dem Tom lebte. Etwas irritiert durchsuchte er die Namen an den Klingelschildern.
‚Scheiße, wo zum Geier wohnt der Kerl?‘, fragte Erik sich bereits zum dritten Mal und konnte sich weiterhin nicht entscheiden.
An mindestens vier der zehn Schildern standen mehr als zwei Namen und abgesehen von einem „G.“ hatte er keinen Plan, wie Tom überhaupt mit Nachnamen hieß. Mit einem Schnauben kramte Erik das Handy aus der Tasche und rief Toms Nummer an.
„Kommst du doch nicht?“, fragte jener sofort enttäuscht. Keine Begrüßung, nicht einmal ein ‚Hallo‘. Vielleicht hätte Erik beleidigt sein sollen, aber diese Unverfänglichkeit fing an, ihm zu gefallen.
„Ich steh unten vor dem Haus. Mach auf! Kein Plan, wo ich klingeln muss.“
„Ah, sorry! Versuch mal ... Ich glaube ‚Hayek‘ steht dran.“
Erik scannte erneut über die Klingelschilder und fand den Namen tatsächlich. Entschlossen drückte er auf den Knopf und kurz darauf ertönte der Summer. Also legte Erik auf und stapfte in den dritten Stock hinauf, wo Tom bereits in Jogginghose und T-Shirt an der Eingangstür wartete.
„Hab ich nicht dran gedacht, tut mir leid“, begrüßte er Erik grinsend, was der lediglich mit einem kurzen Lächeln und einem noch kürzeren Nicken zur Kenntnis nahm.
Dann ließ Tom ihn auch schon wieder alleine im Flur und verschwand stattdessen in der Küche. Eilig streifte Erik sich die Schuhe von den Füßen und setzte dazu an, Tom zu folgen, als sein dieser bereits mit zwei Bierflaschen in der Hand zu ihm in den Flur heraustrat. Ein weiteres Mal stiegen Tom und dessen Art in Eriks Ansehen eine Stufe höher auf. Kostenloses Bier und Sex. Noch dazu ohne sich irgendwelches Gelaber Musicals anhören, oder Teenieschnulzen schauen zu müssen.
„Hier“, meinte Tom lapidar und reichte Erik eine der gekühlten Flaschen. Ohne ein weiteres Wort wandte Tom sich dann in Richtung seines Zimmers und Erik folgte wortlos.
‚So verflucht unkompliziert‘, dachte er bei sich, während sein Blick auf dem einladend vor ihm dackelnden Hintern lag. Hastig nahm Erik einen Schluck und versuchte, zumindest den Anschein zu erwecken, als wäre er nicht nur hier, um diesen süßen kleinen Hintern zu rammeln. Obwohl genau das nach Toms eindeutiger Einladung ja wohl klar der Fall war.
‚Und von dir erwartet wird.‘
„Ich hoffe, du verstehst das hier nicht falsch“, meinte Tom kaum, dass der die Zimmertür hinter ihnen geschlossen hatte.
Irritiert runzelte Erik die Stirn und setzte sich zunächst aufs Bett. „Inwiefern?“, fragte er entsprechend vorsichtig.
„Na ja, es ist gerade einmal Dienstag und ich klingle schon bei dir durch.“
Allmählich dämmerte Erik, worauf Tom hinauswollte, wusste aber nicht so recht, was er jetzt sagen sollte. Schließlich hatte Erik genau aus dem gleichen Grunde bisher nicht bei Tom angerufen.
„Der Sonntag war nett und irgendwie ist mir heute einfach nach etwas mehr ... Spaß“, fuhr Tom von Eriks Schweigen scheinbar unberührt fort.
„Kann ich verstehen“, antwortete Erik langsam und nahm einen weiteren Schluck aus der Bierflasche.
„Es ist klar, dass das hier nicht der Anfang einer lebenslangen Beziehung sein soll?“
Erik lachte kurz auf und nickte hastig. „Glasklar.“
„Dann stell die Flasche weg und zieh endlich die Klamotten aus.“
✑
Einige Stunden später saß Erik im letzten Bus vor dem Nachtfahrplan und starrte aus dem Fenster. Selbst jetzt noch hatte er das Gefühl, als würde sein ganzer Körper im Nachhall dessen, was Tom mit ihm angestellt hatte, vibrieren. Der Kerl hatte aber auch eine Art, die es Erik leicht machte, an nichts anderes zu denken, als wie er am schnellsten aus den Klamotten bekam. Wobei das zugegeben heute in Eriks Fall nicht viel Mühe oder Überredung bedurfte. Zumal er dafür nicht mal wirklich etwas hatte tun müssen – genauso wenig wie für das, was danach passiert war.
Tom genau wie beim letzten Mal recht schnell die Führung an sich gerissen. Da war Erik schon froh, dass seine Klamotten bei der ruppigen Behandlung nicht direkt kaputt gegangen waren. Und auch danach, hatte Tom sehr vehement klargemacht, was er wollte – und wie. Mit einem derartig strammen Po, der sich fest um seinen Schwanz schloss, hatte Erik allerdings wahrlich keinen Grund für Protest gehabt. Grinsend starrte er auf die Reflexion in der Fensterscheibe.
‚Fehlt eigentlich nur, dass er schon nackt die Tür aufmacht‘, dachte Erik bei sich und ließ die Bilder der letzten paar Stunden Revue passieren.
Oh ja, Tom war wirklich nicht prüde, ganz im Gegenteil. Und er verstand eindeutig mehr von dem, was er tat als Erik. Nicht, dass der bisher keine Ahnung von Sex gehabt hätte, aber diese zwei Nächte mit Tom fühlten sich an, wie eine völlig neue Erfahrung. Nicht nur in Sachen ‚unverfänglicher Sex‘.
Unruhig rutschte Erik auf dem Sitz im Bus hin und her. Dominik war ebenfalls der Typ gewesen, der zu fast nichts ‚Nein‘ sagte. Allerdings musste man offenbar wissen, welche Fragen man stellen wollte, um da tatsächlich mehr als Blümchensex rauszuholen. Für genau den hielt Erik seine bisherigen Erfahrungen allmählich. Jedenfalls hatte Tom wenig Interpretationsspielraum dafür gelassen, was er von diesem Treffen erwartete.
‚Was Tom mit seinem Mund alles anstellen kann ...‘, dachte Erik versonnen an die letzten Stunden zurück.
Küssen war das eine und ja verdammt, gegenüber dem, was Tom dabei mit seiner Zunge trieb, war es schwer, sich nicht wie ein dummer, naiver Junge zu fühlen. Einer, der noch nie was von Sex gehört hatte, sondern bisher nur kindisches Rumgeknutsche kannte.
Neben dem Küssen, wusste Tom mit seinem Mund zudem noch ganz andere Sachen anzufangen. Obwohl Dominik bekanntlich eine Vorliebe dafür hatte, wenn man ihm einen blies, war er beim Verteilen von Blowjobs leider eher zurückhaltend gewesen.
Die Art und Weise wie Erik hingegen unter Toms Lippen gefühlt das Hirn rausflog, gab dem Wort ‚Blowjob‘ eine ganz neue Bedeutung. Allein wenn er daran dachte, konnte Erik erneut das Kribbeln in seinem Schritt fühlen. Dabei war er an diesem Abend reichlich auf seine Kosten und mehr als nur einmal gekommen.
‚Von zurückhaltend kann man bei Tom definitiv in keiner Hinsicht sprechen.‘
Der Befehlston war zwar etwas gewöhnungsbedürftig, aber da diese ‚Anweisungen‘ sehr zu Eriks eigenen Befriedigung beigetragen hatten, fiel es ihm nicht schwer darüber hinwegzusehen. Mal ehrlich, einem derartig forderndem „Fick mich“, gab man doch nur zu gern nach. Vor allem, wenn der Hintern, der sich Erik dabei entgegengestreckt hatte, so verflucht geil aussah.
Erik schloss die Augen und unterdrückte krampfhaft das Stöhnen, das ihm entkommen wollte. Vorsichtig versuchte er, seinen Schritt zu richten, ohne dass es allzu auffällig für die wenigen übrigen Fahrgäste war. Ob es ihm gelang, war fraglich, aber wenigstens sprach ihn hier niemand deshalb an.
‚In der Schule hätte das anders ausgesehen.‘
Erik seufzte tonlos und ließ den Kopf gegen die kühle Scheibe sinken. Scheiße! Dabei hatte er die verdammte Schule den ganzen Abend, dank Toms Hilfe erfolgreich vergessen können. Aber jetzt, da der Gedanke einmal da war, drängten die Bilder aus diesem beschissenen Klassenzimmer wieder nach vorn. Wurden mit jedem Meter, den Erik sich seinem Zuhause näherte, stärker.
Die Dusche vor dem Zubettgehen half ihm, zumindest ansatzweise zu entspannen. Als Erik deutlich nach Mitternacht endlich im Bett lag und versuchte einzuschlafen, kam der Gedanke an den Unterricht trotzdem direkt zurück. Um genau zu sein, war es einmal mehr dieser dämliche Lehrer, der sich in Eriks Kopf schlicht. Ein Ort, wo der verdammte Mistkerl ganz sicher nichts zu suchen hatte!
„Goethe und Schiller würden sich im Grab umdrehen. Wir wissen damit wohl beide, dass aus Ihnen so vermutlich kein Schriftsteller werden wird.“
„Was für ein Arschloch“, grummelte Erik, während er sich von einer Seite zur anderen wälzte, um irgendeine Position zu finden, die ihm den erhofften Schlaf bringen würde. Blöderweise gelang ihm das überhaupt nicht. Je mehr Erik versuchte, das Arschloch von Lehrer aus seinem Kopf zu bekommen, desto deutlicher setzte jener sich dort fest.
Immer wieder sah Erik die kühl blitzenden grünen Augen vor sich, die sich geradezu in ihn bohrten. Warum konnte der Mann ihn nicht wenigstens einmal freundlich ansehen? Konnte Berger ihn denn wirklich überhaupt nicht leiden? War er dermaßen angewidert davon, dass Erik auf Männer stand?
Der Gedanke behagt ihm gar nicht, auch wenn Erik nicht hätte sagen können, was genau ihn daran störte. Schließlich mochte er Berger ja nicht einmal ansatzweise. Im Gegenteil! Noch dazu hatte der Scheißkerl es doch förmlich genossen, ihn derartig herunterzuputzen. Der Versuch Berger mit diesem Aufsatz zu beschämen war gründlich nach hinten losgegangen. Anstatt den Vorfall als glücklich ausgegangene Lektion zu bewerten und zu vergessen, gärte es jedoch weiter in Erik.
Irgendwann fing er dann doch an, wegzudämmern. Einer der letzten Gedanken, bevor Erik einschlief, war, dass er sich dringend etwas einfallen lassen musste, um Berger endgültig zu zeigen, was er von ihm hielt.
Die Nacht war entsprechend kurz und somit auch nicht sonderlich erholsam. Als Eriks Wecker am nächsten Morgen klingelte, fühlte er sich, deshalb wenig erholt. Trotzdem quälte er sich aus dem Bett und schlurfte in die Küche für einen Kaffee. Seine Mutter war noch auf Arbeit und Erik wie so oft in den letzten Jahren allein dafür verantwortlich, dass er pünktlich zur Schule kam.
‚Kann man von einem Achtzehnjährigen ja wohl auch erwarten‘, hämmerte es in Eriks Kopf. Nun ja, es gab sicherlich so einiges, was man von einem Jungen in seinem Alter ‚erwartete‘. Vermutlich allem voran die Tatsache, dass er sich nicht einfach heimlich hinter dem Rücken der eigenen Mutter mit fremden Männern vergnügte und unter der Woche erst mitten in der Nacht nach Hause kam.
‚Wen schert’s?‘, dachte Erik bei sich und schlürfte den Kaffee.
Die Ablenkung durch Tom war zwar nicht so langanhaltend gewesen, wie er es sich erhofft hatte, aber ganz sinnlos war sie ebenso wenig. Erik grinste, als sich das vertraute Ziehen in seinen Hoden meldete. Mit einer unbewussten Bewegung der linken Hand rieb er über die Unterhose. Das machte es jedoch nur schlimmer, führte zu einem Kribbeln und Pulsieren, das sich immer deutlicher in Eriks Schritt ausbreitete. Er verstärkte den Druck seiner Hand. Alles in Erik schrie förmlich danach, dass er mehr brauchte, als das bisschen Reibung.
Ein Blick zur Uhr an der Wand genügte. ‚Wenn du zur Schule rennst, ist genug Zeit‘, flüsterte es in seinem Kopf. Stumm stimmte Erik zu und verschwand hastig erneut im Bad. Er war schließlich schon immer ein guter Ausdauerläufer gewesen.
✑
Mit dem Gefühl, als würden seine Beine ihn überhaupt nicht mehr tragen wollen, schlurfte Erik einige Stunden später in Richtung Jungenumkleide. Bei dem kleinen Intermezzo am Morgen hatte er völlig vergessen, dass für den heutigen Mittwoch unter anderem Sportunterricht auf dem Plan stand. Nach der ausschweifenden Runde mit Tom am Vorabend, der viel zu kurzen Nacht im Anschluss und dem deutlich zu heftigen Sprint zur Schule, fühlte Erik sich durch die eben verbrachte Sportstunde nur noch beschissen.
Das einzig Positive an dieser Stunde war gewesen, dass Sandro weiterhin mit Abwesenheit glänzte und die anderen Affen sich ohne ihren König nicht an Erik herantrauten. Vielleicht war er denen aber schlichtweg egal. Wie auch immer, er nahm es zufrieden zur Kenntnis. Vor allem, da Erik so ausnahmsweise einmal nicht erst kurz vor Pausenende aus der Umkleide herauskam und von der Turnhalle in Richtung Schulgebäude trabte.
Als er dann auch zusammen mit einigen anderen aus dem Kurs noch vor Berger das Klassenzimmer betrat, war Eriks Laune fast als ‚gut‘ zu bezeichnen. Kaum fing das Arschloch von Lehrer mit dem Unterricht an, verflog die gute Stimmung allerdings schlagartig.
Gedichtinterpretation. Schon wieder. Gott, wie Erik das Zeug hasste. Schwülstiges Gelaber, das ein normaler Mensch nur verstand, wenn man sich einen Knoten ins Hirn machte. Dabei liebte Erik es, sich in einem Roman zu verlieren. Aber Poesie war was für Mädchen und entzog sich somit absolut seinem Verständnis. Warum zum Teufel musste er diesen Scheiß lernen?! Was brachte das? Wann in seinem verfickten späteren Leben würde er diesen Müll jemals brauchen?!
Unwillig schob Erik seinen Block hin und her, während Berger etwas von einem ‚Richard Dehmel‘ faselte und Zettel mit dessen Lebenslauf verteilte. Am liebsten, hätte Erik das Teil zerknüllt und dem Mistkerl dorthin geschoben, wo bisher vermutlich noch niemand irgendwas reingeschoben hatte.
Finster starrte Erik auf Bergers Po, als der sich zur Tafel umdrehte, um den ersten Vers ihrer heutigen Folter anzuschreiben. Sofort bemerkte Erik das aufkeimende Kribbeln im Schritt und das Ziehen in seinen Eiern setzte ein. Eine nur zu bekannte Unruhe erfasste ihn, während das Blut in Regionen pulsierte, in denen es in diesem Augenblick nichts zu suchen hatte.
Bekenntnis
Ich will ergründen alle Lust,
so tief ich dürsten kann;
ich will sie aus der ganzen Welt
schöpfen, und stürb‘ ich dran.
‚Ach. Du. Scheiße!‘, stöhnte Erik innerlich, als er las, was Berger da an die Tafel schrieb. Wieso musst der Kerl ausgerechnet jetzt so einen Mist bringen? ‚Ernsthaft! Wie beschissen drauf waren Schicksal, Gott und wer sonst noch eigentlich?‘
Womit hatte Erik es verdient, dass einer von denen so brutal war und ihn hier mit einem immer peinlicher werdenden Ständer in der zu engen Jeans sitzen ließ? Zumal Berger weiter vor seiner Nase mit dem für einen Lehrer deutlich zu geilen Arsch wackelte! Und noch dazu irgendwas von ‚Lust‘ und ‚dürsten‘ an die Tafel schmierte.
Geradezu verzweifelt kniff Erik die Beine zusammen und kämpfte gegen die Versuchung an, wenigstens ansatzweise etwas bezüglich des zunehmend stärker werdenden Drangs im Schritt zu unternehmen. Es wäre so leicht – wenn er nicht hier in einem Kurs voller Piranha säße die ihn wegen dieser Sache garantiert auch ohne Sandros Anwesenheit zerfleischen würden.
‚Nur ganz kurz‘, flüsterte die verfickte Stimme in Eriks Kopf. ‚Damit es erträglicher wird.‘
„Was zeigt uns Dehmel in diesem ersten Vers?“, fragte Berger und drehte sich genau in dem Moment um.
Erik verkniff sich ein Winseln und zwang sich, den Blick zu heben, damit er nicht auch noch direkt auf den Schritt dieses Mistkerls starren würde. Aber immer wieder zuckten Eriks Augen genau da hin, während das Arschloch vor der Klasse auf und ab stolzierte und irgendwelchen Leuten Fragen stellte, von denen Erik weder den Inhalt noch die Antwort mitbekam.
Gern hätte Erik gesagt, dass in seinem Kopf Leere herrschte, aber tatsächlich gab es verflucht viel, was in diesem Augenblick darin herumflog. Allem voran die Bilder eines nackten willigen Knackarschs. Oder ein schwarzer Haarschopf, der sich gerade mit dem Teil von Eriks Schritt amüsierte, der auch im Augenblick sehr vehement nach Aufmerksamkeit verlangte.
Eine verfickte Stimme, die Erik dazu aufforderte, dem Knackarsch endlich ebenfalls etwas mehr Interesse zukommen zu lassen. Zu blöd, dass es nicht Toms Stimme war, die da sprach und noch viel beschissener war, dass Berger inzwischen direkt vor Eriks Tisch stand.
„Was?“, brachte ebender gebrochen heraus.
Bergers Stimme war kühl wie immer: „Keine Ahnung, wo Sie sich schon wieder geistig aufhalten, Herr Hoffmann. Aber ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit mir und diesem Unterricht schenken würden anstatt ständig ihren ... Tagträumen nachzuhängen.“
Erik nickte stumm und senkte den Blick. Am liebsten hätte er Berger an den Kopf geknallt, dass er diesem vor zwei Sekunden verflucht viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte – und zumindest geistig dabei gewesen war, diese noch weiter zu vertiefen. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass Erik in dieser Klasse sowieso schon dank Sandro als ‚krank‘ und ‚abartig‘ abgestempelt war, verkniff er sich den Kommentar lieber.
Ohne auf eine weitere Antwort zu warten, drehte Berger sich wieder zur Tafel um und schrieb den zweiten Vers des Gedichtes an.
Ich will’s mit all der Schöpferwut,
die in uns lechzt und brennt;
ich will nicht zähmen meiner Glut
heißhungrig Element.
Ein Lachen ging durch den Kurs und die ersten anzüglichen Kommentare in Richtung der Damen konnte der Männliche Teil des Kurses jetzt doch nicht mehr zurückhalten. Für Erik nur zu verständlich, denn ihm fielen so einige Sachen ein, die er nur zu gern in diese weiteren vier Zeilen ‚interpretiert‘ hätte. Allen voran eine Fortsetzung dessen, was er Berger am vergangenen Samstag in die Hand gedrückt hatte. Denn im Augenblick ‚brannte‘ und ‚lechzte‘ da so einiges in Erik. Von ‚heißhungrig‘ ganz zu schweigen.
„Beherrschen Sie sich“, fauchte Berger sofort und schlagartig kehrte Ruhe ein. „Sie sind doch keine Achtklässler mehr!“
‚Nein, aber vermutlich gerade genauso spitz.‘
Den erneuten Blick in Richtung Berger konnte Erik sich wieder einmal nicht verkneifen. Wenigstens schaffte er es diesmal, oberhalb der Gürtellinie zu bleiben. Dadurch trafen Eriks Augen aber direkt auf ein funkelndes Grün.
‚Fuck!‘, zuckte es Erik durch den Kopf. Er wollte verflucht sein, wenn der Blick ihn nicht herausfordernd anblitzte. Für eine Sekunde stockte sein Atem. Erik hätte schwören können, dass da wieder ein verficktes Lächeln an Bergers Mundwinkeln zuckte.
‚Das Arschloch macht das mit Absicht!‘
Hastig senkte Erik den Blick und starrte auf das leere Blatt des Blocks. Gleichzeitig kämpfte er weiter darum, die Kontrolle sowohl über seinen Schritt als auch den Herzschlag zurückzuerlangen. Während Ersterer eindeutig zu viel Blut verlangte, schlug Letzteres umso heftiger.
‚Um deinen Schwanz ausreichend zu versorgen‘, versuchte Erik sich einzureden. Leider nur mit verdammt mäßigem Erfolg. Denn die Vorstellung, dass Berger ihn hier tatsächlich mit diesem Scheiß absichtlich quälte, hob die tägliche Schulfolter auf ein völlig neues Level.
Im Grunde war es Eriks eigene Schuld, oder? Er hatte dem Mistkerl ja die notwendige Munition geliefert. Ohne diesen beschissenen Aufsatz, wäre Berger nie auf die Idee gekommen, dass Erik durchaus Gefallen daran finden könnte, die für einen Lehrer deutlich zu geile Rückseite persönlicher kennenzulernen.
„Erik?“, holte der Besitzer besagten Hinterteils ihn erneut aus den abschweifenden Gedanken.
Um weder Berger noch der Versuchung unterhalb der Gürtellinie zu erliegen, versuchte Erik es aus Verzweiflung mit Augenkontakt. Eine reichlich dämliche Idee, denn sofort beschleunigte sich Eriks Herzschlag erneut.
‚Nur um das Blut in deinen hormongesteuerten Schwanz zu leiten‘, betete Erik vor sich hin. Denn ganz sicher sah er sich nicht spontan dazu verleitet, diese verhassten Lippen auch noch küssen zu wollen. ‚Garantiert nur, weil der Arsch von Lehrer es hassen würde!‘
„Herr Hoffmann!“, rief Berger ein weiteres Mal. Allmählich klang er genervt.
Also rang Erik sich ein reichlich dämliches „Hm?“, ab während er verzweifelt versuchte, nicht auf dem Stuhl herumzurutschen. Die Reibung, die Eriks ohnehin zu enge Jeans dabei verursachte, war so überhaupt nicht hilfreich.
„Der nächste Vers!“
„Was?“, gab Erik zurück, zwang sich aber dann, doch endlich zur Tafel zu sehen, wo offenbar wie aus dem nichts weitere vier Zeilen entstanden waren.
Ward ich durch frommer Lippen Macht,
durch zahmer Küsse Tausch?
Ich war erzeugt in wilder Nacht
Und großem Wolllustrausch!
Welche Gottheit, welches Schicksal auch immer Erik das hier antat, die waren alle, genau wie Berger, verfickte Arschlöcher!
Seufzend schüttelte jener den Kopf, als Erik noch immer nicht antwortete: „Wer wurde in diesem Vers ‚gezeugt‘, Herr Hoffmann?“
Woher zum Geier sollte er wissen, was für ein Gör da bei irgendeinem Fick entstanden war?! „Keine ... Ahnung“, presste Erik keuchend heraus und erntete einen reichlich genervten Blick Bergers, der daraufhin zur Tafel deutete.
Verzweifelt ließ Erik die Augen über die bisherigen drei Verse gleiten, konnte aber beim besten Willen keinen vernünftigen Gedanken Zustandebringen. Alles, was Eriks Hirn bei dem Mist erzeugte, waren Bilder, die er ganz sicher weder mit Berger, noch mit dem Rest des Kurses teilen wollte. Okay, zumindest nicht mit seinen Mitschülern, über alles Weitere müsste Erik nachdenken, wenn sein Hirn wieder mit ausreichen Blut versorgt war.
„Wie lautet der Titel ...“, seufzte Berger und schüttelte genervt den Kopf.
Ein weiteres Mal zuckten Eriks Augen über die Tafel. „Bekenntnis?“ Okay, er wusste, dass das eine Frage und keine Antwort war, aber mehr hatte Erik schlichtweg gerade in seinem anderweitig beschäftigen Hirn nicht zu bieten.
Berger schien damit allerdings einigermaßen zufrieden zu sein: „Und was für ein Bekenntnis wird das wohl sein?“ Glücklicherweise wandte der Mistkerl sich mit dieser Frage wieder an die Klasse und so kam Eriks zu abgelenktes Hirn um weitere Verrenkungen herum.
„Ein Liebesgeständnis!“, rief Ines aus einer der hinteren Reihen mit einem unverhohlenen Kichern.
Geradezu verzweifelt stürzte Erik den Kopf auf seine Hände und starrte auf seinen Block hinunter. „Wohl eher Geilheit“, murmelte er kaum hörbar und schloss die Augen.
Um Erik herum die Mädels kichernd zu debattieren begannen, ob ein derartiges Geständnis beim Sex jetzt überhaupt als Liebesgeständnis gelten durfte. Erik hätte sich für die Frage sowie ihre Antwort nicht weniger interessieren können. Er war schlicht und ergreifend froh, zumindest vorerst aus Bergers Fokus gerutscht zu sein.
Der ließ den Kurs diskutieren, während er den letzten Vers an die Tafel schrieb:
Und will nun leben so der Lust,
wie mich die Lust erschuf,
Schreit nur den Himmel an um mich
Ihr Beter von Beruf!
„Verändert dieser letzte Vers Ihre Wahrnehmung bezüglich des ‚Bekenntnisses‘?“, fragte Berger in den Raum, nachdem er fertig war.
Sofort brach die anhaltende Diskussion ab und alle Aufmerksamkeit lag wieder auf Berger. Erik selbst schielte lediglich aus dem Augenwinkel zur Tafel. Mit einer Spur Erleichterung stellte er fest, dass die letzten Zeilen des Gedichts ihn zumindest nicht vollends in die Katastrophe rissen.
Im Gegenteil. Als Erik versuchte, eine Antwort auf Bergers Frage zu finden, lenkte ihn das sogar weit genug ab, dass Erik sich allmählich von den unpassenden Bildern befreien und stattdessen zur Realität zurückkehren konnte.
„Auf welche ‚Beter von Beruf‘ könnte Dehmel sich Ihrer Meinung nach hier beziehen?“ Berger sah sich kurz in der Klasse um: „Hanna.“
„Einen Priester?“, fragte die verunsichert zurück.
Das verächtliche Schnauben konnte Erik nicht unterdrücken, zog damit aber natürlich prompt die Aufmerksamkeit von Berger auf sich. „Sie sind anderer Meinung?“
„Ein Priester wird ja wohl hoffentlich nicht irgendwelche Geständnisse im ‚Wollustrausch‘ herbeisehnen“, murmelte Erik beschämt.
In der Hoffnung, dass es auf diese Weise nur so aussah, als würde er sich richtig hinsetzten, nutzte Erik die Gelegenheit, um beide Hände kurz gegen seinen Schritt zu pressen und diesen einigermaßen zu richten.
„Es sei denn, er bedient sich genau wie Hoffmann gern an kleinen Hintern“, rief Luca, einer von Sandros Schergen aus den letzten Reihen hämisch nach vorn.
Von null auf hundert in unter einer Sekunde – das war ungefähr die gefühlte Beschleunigung, die Eriks Herzschlag bei dieser Äußerung erfuhr. Man hatte ihn in dieser verfluchten Klasse in den letzten Wochen so einiges genannt. Aber das ging zu weit!
Wütend fuhr Erik hoch und fauchte stinksauer zurück: „Wenn du dir eine fangen willst, dann komm her und sag mir das ins Gesicht!“
„Erik!“, ermahnte Berger ihn sofort. „Setzen Sie sich!“
„Aber ...!“
Weiter kam er nicht, denn umgehend wurde er wiederum unterbrochen. „Hinsetzen!“, fauchte Berger erneut und funkelte ihn wütend an. „Solche Ausbrüche will ich in meinem Unterricht nicht haben. Genauso wie Ihre Wortwahl, Luca! Sie sind alle erwachsen, benehmen Sie sich entsprechend!“
„Der bezeichnet mich einfach als Kinderschänder und Sie Arsch lassen das durchgehen!“, schrie Erik wütend zurück, als Berger keine Anstalten machte, auf Lucas Bemerkung weiter einzugehen.
Dessen Stimme war ruhig, aber mit einem Mal eiskalt, als er Erik mit zusammengekniffenem Mund anstarrte: „Setzen. Herr Hofmann. Jetzt!“
Mit einem entrüsteten Schnauben ließ Erik sich auf den Stuhl fallen und funkelte seinerseits Berger wütend an.
„Luca“, fuhr jener ungerührt aber mit weiterhin eiskaltem Blick fort. „Ich will doch mal sehr stark hoffen, dass Ihre Bemerkung nicht als Ziel hatte, Erik als pädophil hinzustellen?“
„Was?“, entwich es Luca. Die Verunsicherung in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Na...türlich nicht“, murmelte er hastig, vermied es aber wohlweißlich sowohl Erik als auch ihren Lehrer direkt anzusehen.
„Ich erwarte von einem Abschlussjahrgang einen zivilisierten Umgang. Das betrifft Sie beide.“
„Ist das alles?“, zischte Erik ungehalten zurück. „Der kann solche Kommentare hier ablassen und es passiert nichts?“
Für einen Sekundenbruchteil hatte Erik wieder den Eindruck, als würde ein beschissenes Lächeln an Bergers Lippen ziehen. Diesmal bildete er sich das allerdings garantiert nur ein, denn als Berger antwortete, war seine Stimme noch genauso kühl, wie zuvor.
„Sie sollten Ihren eigenen Ton überdenken, Erik.“
„Mein Ton?!“
In dem Moment klingelte die Schulglocke und unterbrach jede Erwiderung, die Berger ihm womöglich hatte geben wollen. „Ich möchte bis morgen von Ihnen allen eine Zusammenfassung der heutigen Stunde. Und eine Antwort samt Begründung auf die Frage, wer für Sie die in der letzten Zeile angesprochenen ‚Beter vom Beruf‘ sind“, rief Berger stattdessen in die Menge, die bereits dabei war, ihre Taschen für die nächste Stunde zu packen und zu verschwinden.
Weiterhin wütend, dass Berger Luca für diesen Kommentar nicht weiter zurechtgewiesen hatte, fing Erik an, Block und den Stift zurück in den Rucksack zu schmeißen. Wenigstens hatte der Zwischenfall dafür gesorgt, dass er sich keinen Kopf mehr darum machen musste, wie er aus diesem Klassenzimmer kam, ohne dass der Ständer auffiel. Das Thema hatte sich mit Lucas Bemerkung quasi sofort erledigt gehabt.
„Erik! Einen Moment“, rief Berger ihm zu, bevor er entkommen konnte.
Genervt stöhnte Erik, hielt aber gehorsam inne. Berger seinerseits packte zunächst alle Sachen zusammen und das in einem Tempo, das Erik wieder einmal um seine Pünktlichkeit zur nächsten Stunde bangen ließ.
Kaum waren alle Mitschüler verschwunden, drehte Berger sich um und trat auf ihn zu. Wie schon so oft, wurde Erik bewusst, dass er mindestens zehn Zentimeter größer war als Berger. Das tat dem wütenden Funkeln in den so beschissen grünen Augen aber keinen Abbruch.
„Was sollte das eben, Herr Hoffmann?“
Wie immer, wenn Berger seinen Nachnamen verwendete, war Erik klar, dass er in Schwierigkeiten gelandet war. Unverschuldet wohlgemerkt. Genau wie sonst auch!
„Luca hat den beschissenen Kommentar gemacht!“, gab Erik trotzig zurück, während er versuchte, dem Blick standzuhalten und nicht wegzusehen.
„Nun, Sie sind hier ja im Deutschunterricht. Also sagen Sie mir doch bitte, Erik, was er Ihrer Meinung nach gesagt hat“, fuhr Berger fort, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete.
Genervt, weil er kurz davor war, zu spät zu Mathe zu kommen, schnaufte Erik verächtlich. „Er hat behauptet, ich würde mich an Kindern aufgeilen!“
Diesmal bildete er sich das Lächeln, das an Bergers Mundwinkeln zog nicht ein, da war sich Erik absolut sicher. Und es machte ihn nur noch wütender als ohnehin schon. Gerade wollte er zu einer entsprechenden Erwiderung ansetzen, als Berger einen Schritt zurücktrat und die Hände nun in den Hosentaschen vergrub.
„Seine Worte waren: ‚Es sei denn, er bedient sich genau wie Hoffmann gern an kleinen Hintern‘.“ Bei der Wiederholung von Lucas Aussage zuckte Erik erneut zusammen. „Soll ich sie Ihnen aufschreiben, oder können Sie sich die diesmal merken?“
„Was?!“
„Liefern Sie mir bis morgen in mindestens 300 Worten eine Begründung dafür, warum Ihre Interpretation von ‚kleine Hintern‘ zu ‚Kinderschänder‘ gerechtfertigt ist. In dem Fall werde ich darüber hinwegsehen, dass Sie mich vor dem ganzen Kurs hier als ‚Arsch‘ tituliert haben.“
Erik erstarrte. Scheiße! War ihm das tatsächlich herausgerutscht?! Er versuchte, sich zu erinnern, war sich aber nicht sicher. In seiner Wut hatte Erik, wie so oft, auf nichts anderes mehr geachtet. Letztendlich würde er ohnehin nicht wirklich dagegen argumentieren können. Öffentlich einen Lehrer zu beleidigen würde ganz sicher nicht gut beim Direktor ankommen. Erst Recht nicht in Kombination mit dem verfluchten Aufsatz, den er Berger vorgesetzt hatte.
Keuchend drehte Erik sich deshalb um und verließ schweigend das Klassenzimmer. Das war definitiv der Moment, das vorlautes Maul zu halten und zu verschwinden. Trotzdem kotzte es Erik gelinde gesagt an, dass das Arschloch von Lehrer wieder auf der Seite der anderen war. Wahrscheinlich weil Berger genauso dachte, wie der ganze Rest dieser beschissenen Affen.
Ein ungutes Gefühl blieb allerdings in Eriks Magengegend bestehen. Hatte er Luca tatsächlich so falsch verstanden? Wenn ja, sollte er in der Tat verdammt froh sein, falls Berger da mit läppischen dreihundert Worten über den herausgerutschten ‚Arsch‘ hinwegsehen würde. Auch wenn der Mistkerl ihn damit garantiert nur in Sicherheit wiegen wollte. Denn ‚nett‘ genug, um zum zweiten Mal einen derartigen Aussetzer Eriks zu ignorieren, war Berger definitiv nicht!
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Der Vollständigkeit halber noch einmal das komplette Gedicht dieses Kapitels.
Bekenntnis
Ich will ergründen alle Lust,
so tief ich dürsten kann;
ich will sie aus der ganzen Welt
schöpfen, und stürb‘ ich dran.
Ich will’s mit all der Schöpferwut,
die in uns lechzt und brennt;
ich will nicht zähmen meiner Glut
heißhungrig Element.
Ward ich durch frommer Lippen Macht,
durch zahmer Küsse Tausch?
Ich war erzeugt in wilder Nacht
und großem Wollustrausch!
Und will nun leben so der Lust,
wie mich die Lust erschuf,
Schreit nur den Himmel an um mich
ihr Beter von Beruf!
Autor: Richard Dehmel (1863 - 1920), Richard Fedor Leopold Dehmel, dt. Dichter, Lyriker, Dramatiker und Kinderbuchautor
Gemeinfrei nach dt. Urheberrecht.