Mehrere Wochen waren vergangen, seitdem Danielle Sunset City verlassen hatte. Der Alltag nahm sie gefangen, und sie war dankbar dafür. Je mehr sie zu tun hatte, desto weniger Zeit blieb zum Nachdenken.
Inzwischen bewohnte sie eine kleine Mansardenwohnung in Venice, mitten im ruhelosen Großstadttreiben am Rande von Los Angeles.
Nachdem John ihr in den ersten Nächten wie selbstverständlich sein Schlafzimmer überlassen und mit der Couch vorliebgenommen hatte, bestand Danielle schließlich darauf, sich selber eine Bleibe zu suchen.
Der Zufall wollte es, dass in dem Mietshaus, in dem der junge Arzt wohnte, zu dieser Zeit gerade eine winzige Wohnung unter dem Dach frei wurde. Danielle nahm das Angebot sofort an. So hatte sie ihre eigenen vier Wände und war doch in Johns Nähe. Ihn wollte sie keinesfalls missen, denn er war während der Zeit für sie zu einem echten Freund geworden, der für sie da war und auf den sie sich verlassen konnte. Trotzdem fühlte sie sich noch immer leer, ausgebrannt und allein. Die Tatsache, dass sie nur fünfzig Autominuten und ziemlich genau zweiunddreißig Meilen von Sunset City entfernt lebte und einfach ins Auto oder in den nächsten Orange-County-Bus hätte steigen müssen, war ihr vor allem dann schmerzlich bewusst, wenn die Sehnsucht sie zu überwältigen drohte. Diese unbändige Sehnsucht nach der Stadt, die ihr so vertraut geworden war, nach dem sonnengelben Haus am Meer, in dem alle ihre Freunde wohnten, und… nach ihm.
Diese schlimmen Momente der Einsamkeit überkamen sie jedoch meistens, wenn sie allein war. Zum Glück war ihre Freizeit rar geworden, denn John hatte ihr zu einer Stelle als Krankenschwester in Notaufnahme der Centinela-Klinik verholfen. Kurz nachdem er seine Arbeit wiederaufgenommen hatte, war sie dort gewesen und hatte den ausgeschriebenen Job auf seine Empfehlung hin sofort bekommen. Gute und zuverlässige Leute waren gefragt, und Danielle war froh, nicht länger allein und untätig in ihrer Wohnung sitzen zu müssen.
Sie hatte sich in der Hektik der Notaufnahme überraschend schnell eingelebt, die Kollegen des Ärzte- und Schwesternteams mochten sie, weil sie flink und umsichtig war und noch immer gute Kenntnisse aus ihrer Praxiszeit in Oklahoma besaß.
Einige von ihnen vermuteten allerdings, sie habe ein heimliches Verhältnis mit John O`Malley, da man die beiden oft zusammen sah. Doch Danielle wusste es besser. Für sie war er einfach ein Freund und momentan ihr einziger Halt inmitten einem endlosen Meer aus persönlicher Einsamkeit.
Ob das, was er für sie empfand, über Freundschaft hinausging, darüber mochte sie nicht nachdenken. Zumindest hatte er sie nie diesbezüglich bedrängt. Nur seine Blicke, mit denen er sie manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlte, betrachtete, sagten etwas Anderes. Aber Danielle war blind dafür und heilfroh, dass er keinen Versuch unternahm, ihr auf mehr als nur freundschaftliche Weise näherzukommen, denn sie war meilenweit davon entfernt, an eine neue Beziehung zu denken.
Da war noch immer Matt.
´Fünfzig Autominuten und ziemlich genau zweiunddreißig Meilen von Sunset City entfernt…´
Seine nachtblauen Augen verfolgten sie bis in ihre Träume, und oftmals lag sie stundenlang wach und sah sein Gesicht überdeutlich vor sich, hörte seine sanfte Stimme und konnte förmlich spüren, wie seine Hände zärtlich über ihre Haut strichen.
Streichelten diese Hände jetzt Marina?
Bald würde er ihr gemeinsames Baby im Arm halten, und inmitten seiner kleinen Familie würde er sicherlich bald vergessen haben, dass es da eine junge Frau aus Oklahoma gab, die ihm ihr Vertrauen und ihr Herz geschenkt hatte.
Der Gedanke daran tat furchtbar weh, und solange das so war, würde sie nicht einmal im Traum über eine neue Beziehung nachdenken.
Ihre Schwester Robyn hatte sie bereits ein paar Mal in Venice besucht. Sie bewohnte inzwischen Danielles kleines Zimmer in Mitchs Haus und jobbte an den Wochenenden im OCEANS. Danielle hatte sie überredet, ihr Studium nicht abzubrechen, sondern sich an der UNIVERSITY OF CALIFORNIA in Los Angeles zu bewerben. Sie bezahlte von ihren Ersparnissen die Aufnahmegebühr für ihre Schwester, so dass diese sich für das nächstmögliche Semester eintragen durfte. Allerdings rang sie Robyn das Versprechen ab, ihr Studium ernst zu nehmen und es ihrer Familie und ihrer eigenen Zukunft zuliebe erfolgreich zu Ende zu bringen.
Die Uni befand sich in Westwood Village zwischen Bel Air und Holmby Hills und war von Sunset City aus bequem mit dem Bus zu erreichen.
Hin und wieder telefonierte Danielle mit ihren Eltern im fernen Oklahoma. Jill und Gordon hatten ihr mehrfach vorgeschlagen, nach ihrer Trennung von Matt wieder zurück nach Hause zu kommen, doch das stand für Danielle außer Frage. Nein, sie wollte hier in Kalifornien bleiben und sich ein eigenes Leben aufbauen. Erst, wenn sie das geschafft hatte, würde sie gerne wieder einmal an den Ort ihrer Kindheit und Jugend zurückkehren - auf einen Besuch.
Einen Teil des Geldes, das George Freeman ihr geschenkt hatte, überwies Danielle ihren Eltern als Unterstützung für die Farm. Vielleicht konnte ihr Vater dafür einen Gehilfen einstellen, der ihm jetzt, wo Robyn weg war, etwas von der schweren Arbeit abnahm.
Mit der anderen Hälfte konnte sie schließlich immer noch studieren, wenn sie wollte, und durch den Job in der Notaufnahme verdiente sie immerhin ihr eigenes Geld, wenn es auch nicht allzu viel war.
Mit Mitch, Suki, Randy und Luke telefonierte Danielle regelmäßig, doch jedes Mal, wenn sie sich vorstellte, wie ihre Freunde in der gemeinsamen Wohnküche beisammensaßen und miteinander scherzten und lachten, überkam sie diese furchtbare Sehnsucht, die sich in ihrem Inneren ausbreitete wie eine unsichtbare hartnäckige Krankheit, die ihr Herz unendlich schwer werden ließ.
´Fünfzig Autominuten und ziemlich genau zweiunddreißig Meilen von Sunset City entfernt…´
Von Matt hatte sie bislang nichts erfahren. Er selbst wusste noch immer nicht, wohin sie verschwunden war, denn weder ihre Eltern, noch Robyn oder ihre Freunde waren bereit, mit ihm darüber zu reden. Auch Danielle gegenüber wurde Matt aus Rücksicht auf ihre Gefühle nicht erwähnt. Sie wiederum wagte nicht nach ihm zu fragen.
Matt Shelton war in jeder Hinsicht zu einem Tabuthema geworden.
Trotzdem gelang es ihr nicht zur Ruhe zu kommen, und die Trennung von ihm schmerzte nach wie vor.
Fast jeden Tag ging sie nach Dienstschluss hinunter zur Strandpromenade, die nur ein paar Straßen von ihrer Wohnung entfernt war. Sie setzte sich auf eine der Bänke, schaute hinaus aufs Meer und hing ihren Gedanken nach.
Derselbe Ozean, derselbe Himmel, dieselbe Sonne, die jeden Abend am Horizont versank… Die Erde drehte sich weiter, unaufhaltsam, doch für Danielle schien es, als sei sie stehengeblieben.
Wo waren all ihre Träume von einer großen Liebe und einer wundervollen gemeinsamen Zukunft geblieben? Ihr Herz lag schwer wie Blei in ihrer Brust, und von den Schmetterlingen in ihrem Bauch hatte nicht ein einziger die Enttäuschung und den Schock über Matts vermeintlichen Verrat überlebt.
Eines war allerdings sicher: Sie würde nie wieder in ihrem ganzen Leben einem Mann so blind vertrauen.
Sie erschrak, als das neue Handy in ihrer Tasche vibrierte.
Ein Blick aufs Display zauberte ein schwaches Lächeln auf ihr müdes Gesicht, und in Erwartung der vertrauten Stimme am anderen Ende nahm sie den Anruf an.
„Mitch!“
„Hallo Kleines, wie geht’s dir?“
„Ich bin vor einer Stunde aus der Klinik gekommen.“
„So spät?“
„Wir hatten viel zu tun.“
„Du solltest dich ein wenig schonen.“
„Die Arbeit macht mir Spaß. Und sie hindert mich daran, zu viel nachzudenken.“
„Und was tust du jetzt?“
„Ich bin am Strand.“
„Allein?“
„Ja.“
Sie hörte ihn unwillig grummeln.
„Das gefällt mir überhaupt nicht, hörst du? Komm zurück zu uns, du kannst genauso gut auch hier im Medical Center arbeiten!“
´Fünfzig Autominuten und ziemlich genau zweiunddreißig Meilen von Sunset City entfernt…`
„Nein Mitch, das kann ich nicht.“
„Warum nicht?“
Sie zögerte einen Augenblick, bevor sie leise hervorbrachte:
„Er wäre da.“
Mitch schnaufte abfällig.
„In deinen Gedanken ist er doch sowieso immer da!“
„Das ist nicht dasselbe.“
Er hörte die Traurigkeit in ihrer Stimme, und es tat ihm weh. So durfte das nicht weitergehen.
„Lass uns darüber reden, Danielle“, brach er kurzentschlossen das Tabu. „Lass mich mit Matt darüber reden!“
Sie schwieg, tief erschrocken über seine direkten Worte.
„Danielle? Komm schon…“, bohrte Mitch.
„Wie geht es ihm?“ Die Frage war heraus, bevor sie darüber nachdenken konnte.
„Willst du das wirklich wissen?“
„Nein… Ja...“
„Er war weder hier, noch im OCEANS, seitdem wir ihm gesagt haben, dass du weg bist. Um ehrlich zu sein, ist das auch nicht verwunderlich, denn es war keiner von uns besonders nett zu ihm, nachdem du ihn verlassen hast. Anni Parker meinte, er vergräbt sich in seiner Arbeit und abends ist er nie zu Hause.“
„Sicher ist er bei Marina“, vermutete Danielle.
„Lass mich mit ihm reden, dann wissen wir es.“
„Nein!“
„Dann vergiss ihn.“
„Das kann ich nicht.“
„Ich weiß. Du solltest vielleicht selbst noch einmal in Ruhe mit ihm über alles reden?“
„Wozu? Das bringt doch nichts. Es ist vorbei.“
Wieder entstand eine Pause, und sie hörte, wie Mitch resigniert seufzte.
„Ich habe hier noch ein paar Sachen von dir. Bist du einverstanden, wenn Suki und ich sie dir in den nächsten Tagen vorbeibringen?“
„Ja, das wäre schön. Aber ruf bitte vorher an, damit ich auch zu Hause bin.“
Als sie auflegte, war ihr Herz schwerer als vorher.
„…Anni Parker meinte, er vergräbt sich in seiner Arbeit, und abends ist er nie zu Hause.“
Was bedeutete das?
Verbrachte Matt seine gesamte Zeit im Büro? Oder, wohl eher bei der zukünftigen Mutter seines Kindes? War er am Ende schon mit Marina zusammengezogen? Aber... würde dann nicht viel eher Marina bei ihm wohnen und nicht umgekehrt?
Sie stöhnte innerlich. Diese verdammte Grübelei würde doch sowieso nur wieder dazu führen, dass sie sich am Ende noch schlechter fühlte!
Entschlossen stand sie auf und wollte sich auf den Heimweg machen, als ihr Handy abermals zu vibrieren begann...
*
„Herrgott nochmal, Matt!“
Erschrocken blickte Matt vom Display seines Laptops, auf das er die ganze Zeit über gestarrt hatte, hoch. Edward stand an der Tür zu seinem Büro und schüttelte missbilligend den Kopf. „Ich habe dich schon zweimal angesprochen, aber du scheinst ja meilenweit weg zu sein mit deinen Gedanken.“
Matt lehnte sich zurück und massierte mit den Fingerspitzen die seit Stunden schmerzenden Schläfen.
„Entschuldige, Edward, was gibt es denn?“
„Ich wollte dich zur Einweihungsparty für unser neues Haus am kommenden Wochenende einladen“, verkündete sein Geschäftspartner gutgelaunt.
Matt zwang sich zu einem Lächeln.
„Ist die Prachtvilla endlich fertig?“
„Ja, ich kann es kaum erwarten, aus dieser verdammten Penthouse- Suite herauszukommen. Also, kann ich mit dir rechnen?“
„Ich weiß noch nicht“, erwiderte Matt ausweichend, doch Edward ließ nicht locker.
„Sophia meinte, sie würde ein „Nein“ von dir keinesfalls akzeptieren. Außerdem kannst du mitbringen, wen du möchtest, nur bitte lass deine Nachbarin zu Hause!“
„Keine Sorge, ich hatte nicht vor, Anni zu fragen“, schmunzelte Matt.
´Ich habe überhaupt nicht vor, irgendjemanden zu fragen...´, fügte er in Gedanken hinzu.
„Fein, dann sind wir uns ja einig.“ Edward wies ungläubig auf den Stapel Akten, der sich auf Matts Schreibtisch türmte. „Willst du das alles heute noch fertig machen?“
„Ja, allerdings.“
„Wozu hast du eine Sekretärin?“
„Das mache ich lieber selbst.“
„Du arbeitest zu viel, mein Freund“, bemerkte Edward leicht vorwurfsvoll. „Geh nach Hause und entspann dich.“ Ein boshaftes Grinsen umspielte seine Mundwinkel. „Leg doch die Akten unserer neuen Teilhaberin auf den Schreibtisch, dann ist sie für eine Weile beschäftigt.“
Gedankenverloren sah Matt ihm nach, als er hinausging.
Sein Geschäftspartner schien viel ausgeglichener zu sein, seitdem er sich mit seiner Frau wieder ausgesöhnt hatte und erstaunlicherweise auch Dean und Caroline in Ruhe ihr OCEANS führen ließ.
„Wenigstens einer, der privat zufrieden ist“, murmelte er und schob den Aktenberg beiseite. Dabei fiel sein Blick auf Danielles Bild, welches nach wie vor auf seinem Schreibtisch stand. Mechanisch streckte er die Hand danach aus und strich zärtlich mit den Fingerspitzen über den zarten Silberrahmen.
Sein Leben war trostlos und leer, seitdem sie ihn verlassen hatte.
Sie fehlte ihm so sehr.
Zu Marina hatte er kaum Kontakt, und obwohl sie bald die Mutter seines Kindes sein würde, änderte das nichts an seinen Gefühlen für sie. Er liebte diese Frau nicht mehr. Sie war ihm egal. Er wollte Danielle, mit jeder Faser seines Herzens. Aber bisher wusste er ja nicht einmal, wo sie sich aufhielt.
Wütend hieb er mit der Faust auf den Schreibtisch.
Es war wie eine Ohnmacht, und er konnte nichts, rein gar nichts dagegen tun!
Mit einem resignierten Seufzen klappte er den Laptop zu und griff nach dem Aspirin, das ihm Ronda hingelegt hatte, bevor sie vorhin nach Hause gegangen war.
Kurz darauf verließ er sein Büro und ging hinunter zum Hafen.
Denselben Weg, den er jeden Abend nahm.
*
Claudia starrte auf den Kugelschreiber in ihrer Hand.
„H & S Enterprises – Future“ war mit zierlicher Schrift in den vergoldet glänzenden Stift eingraviert. Er war bei ihren Sachen gewesen, als sie die Klinik verließ. Alex meinte, dies sei sicherlich ein Werbegeschenk der HSE, doch da er selbst keinen solchen Kugelschreiber besaß, konnte sie sich auch nicht vorstellen, dass Edward Hamilton ausgerechnet ihr ein solches teuer aussehendes Exemplar geschenkt haben sollte.
Inzwischen ging es ihr wieder recht gut, abgesehen davon, dass ihre Beine noch halb taub waren, weil ein herabstürzender Gesteinsbrocken in der Höhle ihr einen Nerv im Rücken geklemmt hatte. Aber man hatte ihr in der Klinik versichert, dass die Lähmung nur vorübergehend sei, und dass sie bei guter Physiotherapie bald wieder laufen würde wie früher.
Nun befand sie sich hier in Madame Dolores` Haus, genauer gesagt, in Stefanos Zimmer, das er ihr zur Verfügung gestellt hatte, nachdem er hartnäckig darauf bestand, sie wegen der Pflege, die sie noch eine Weile benötigte, in seinem Elternhaus einzuquartieren. Er hatte sogar eine eigene Therapeutin engagiert, die sich während seiner Abwesenheit um die Patientin kümmerte, obwohl Claudia sich insgeheim fragte, ob er sich das bei seinem Gehalt überhaupt leisten konnte.
Stefano sorgte sich sehr um sie.
Die Schwester in der Klinik hatte ihr erzählt, dass er die ganze Zeit neben ihrem Bett gesessen und gewartet habe, bis sie endlich wieder bei Bewusstsein war. Froh und unendlich erleichtert reagierte er auf die Aussage des Arztes, dass sie schon bald wieder völlig in Ordnung sein würde. Sooft es seine knapp bemessene Freizeit zuließ, besuchte er sie, und ihr Krankenzimmer glich einem Blumenmeer.
Madame Dolores dagegen war ihr, seitdem sie hier im Haus weilte, noch nicht ein einziges Mal begegnet. Entweder hatte Stefano seiner Mutter verboten, das Zimmer zu betreten, oder die ehemalige Schwiegertochter war ihr schlichtweg egal.
Claudia beschloss, sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen. Sie kannte das Familiengeheimnis der Cortez` und hatte sich, was die Scheidung von Manuel betraf, nichts vorzuwerfen. Außerdem hatte sie in der Klinik viel Zeit zum Nachdenken gehabt und war zu dem Schluss gekommen, dass sie aufhören musste, Manuel nachzutrauern. Das brachte sowieso nichts ein, seine Entscheidung für das Leben, das er jetzt führte, war unwiderruflich, und sie musste ihr eigenes Leben ohne ihn ebenfalls wieder in den Griff bekommen.
Claudia lächelte. Sie spürte, sie war auf dem besten Wege dazu.
Und Stefano würde ihr dabei helfen, er war ihr in den letzten Tagen näher gekommen als je zuvor.
Das Ganze hatte nur einen einzigen Haken:
Sie konnte sich nach dem Unfall an alles erinnern, nur nicht an den Unfall selbst. Sie wusste weder, wie sie in die Höhle gekommen, noch, was dort passiert war. Alles war wie ausgelöscht. „Amnesie“ nannten es die Ärzte. Sie selbst nannte es ein „schwarzes Loch“ in ihrem Erinnerungsvermögen.
Diese Gedächtnislücke wollte sie unbedingt wieder füllen, sonst würde sie keine Ruhe finden.
Wieder blickte Claudia auf den Kugelschreiber in ihrer Hand, und wie schon so oft in den letzten Stunden hatte sie das untrügliche Gefühl, er sei der Schlüssel dazu, ihre Amnesie zu überwinden und sich daran zu erinnern, was dort unten in den Felsen geschehen war.
*
Abermals zog Danielle das Handy aus der Tasche, und wie beim ersten Mal erhellte sich ihr Gesicht, als sie sah, wessen Name auf dem Display erschien: George Freeman.
Der gutmütige alte Herr hielt konsequent Verbindung zu ihr. Seitdem sie hier in LA war, hatte er sie mindestens zweimal die Woche angerufen, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, und auch, wenn sie nach wie vor ein schlechtes Gewissen hatte, weil er noch immer glaubte, John O`Malley sei ihr Verlobter, so freute sie sich doch sehr über seine Anrufe.
Am letzten Sonntag hatte er sie beide mit der Limousine abgeholt, und sie waren nach Malibu hinausgefahren, wo sie alle drei in einem gemütlichen kleinen Lokal zu Mittag aßen.
Es war ein schöner Tag gewesen, an dem Danielle sich nach langer Zeit einmal wieder etwas entspannter gefühlt hatte. Allerdings war ihr aufgefallen, dass John an diesem Nachmittag merkwürdig still und in sich gekehrt zu sein schien und George des Öfteren, wenn er glaubte, die anderen bemerkten es nicht, verstohlen betrachtete, doch sie schob es auf den Stress in der Klinik und beschloss, ihn später zu fragen, was ihn beschäftigte. Leider hatte sich dazu noch keine Gelegenheit ergeben, denn die beiden sahen sich kaum, da sie seit ein paar Tagen in unterschiedlichen Schichten arbeiteten.
„Wie wäre es, wenn wir alle am Wochenende einen Ausflug nach Santa Barbara machen würden?“, fragte George am Handy. „Ein Freund von mir hat dort in der Bucht eine kleine Yacht liegen, die könnten wir benutzen und auf einen Sprung hinüber nach Santa Rosa Island fahren.“
Danielle lachte.
„Eine tolle Idee, aber ich muss erst auf meinem Dienstplan nachsehen, wann wir beide gemeinsam frei haben.“
´Sonntag...´, sinnierte sie nachdenklich, nachdem sie aufgelegt hatte. ´Sonntag fahren wir mit der Yacht hinaus.´
Unwillkürlich tauchte ein Bild vor ihr auf, so frisch und lebendig, als wäre es erst gestern gewesen, dass sie dort war. Paradise Island, Matts kleine exotische Insel mit den zwei freundlichsten Menschen, die sie jemals kennengelernt hatte: Evita und Vincent.
Sie verspürte einen schmerzlichen Stich in der Brust.
Was mussten die beiden bloß von ihr denken! Sie hatte nicht einmal angerufen, um sich von ihnen zu verabschieden!
Obwohl - das konnte man ja nachholen.
Ohne lange darüber nachzudenken nahm Danielle ihr Notizbuch, zückte abermals ihr Handy und wählte kurzentschlossen die Nummer des Hausmeisterpaares auf Paradise Island.
*
Bereits nach dem ersten Klingelton nahm Evita den Hörer ab.
„Paradise Island Privatinsel, guten Tag“, meldete sie sich und lauschte gespannt, weil der Anrufer sich nicht gleich meldete. „Hallo? Wer ist denn da?“
„Hallo Evita“, hörte sie plötzlich eine Stimme, die sie sofort erkannte.
„Señorita Danielle? Dios mio...“
„Wie geht es Ihnen, Evita? Was macht der Gemüsegarten?“, fragte Danielle und versuchte vergeblich, ihre Stimme unbeschwert klingen zu lassen.
„Oh, hier ist alles wie immer, Señorita Danielle. Bis auf die traurige Tatsache, dass Sie nicht da sind. Wie geht es Ihnen, mi querida?“
„Es geht mir gut“, log Danielle und kämpfte mit den Tränen, denn sie konnte Evita in Gedanken vor sich sehen, wie sie oben auf der blumenumrankten Terrasse der schneeweißen Villa mit Blick aufs Meer stand und telefonierte.
„Das klingt aber gar nicht so“, kommentierte Evita ihre Antwort prompt. „Kommen Sie, Kindchen, heraus mit der Sprache, ich will die Wahrheit hören!“
„Die Wahrheit?“ Danielle schluckte. „Nun, Evita, Sie haben Recht, es geht mir wirklich nicht besonders gut. Aber das wird schon wieder, irgendwann... Ich rufe auch nur an, weil ich mich von Ihnen und Vincent verabschieden möchte. Ich hätte das gerne persönlich getan, aber es war keine Gelegenheit mehr, es ging alles so schnell.“
„Was ging so schnell? Dass Sie ihm weggelaufen sind?“, fragte Evita empört. „Das hätten Sie nicht tun dürfen! Señor Matthew ist ein guter Mann. Auch wenn es zwischen Liebenden ab und zu mal einen Streit gibt, das ist doch normal. Vincent und ich haben uns oft gestritten, bis die Fetzen flogen, aber die Versöhnung danach war immer das Schönste!“
„Evita, bitte nicht böse sein, doch ich fürchte, Sie verstehen das falsch. Ich wäre niemals weggegangen, aber… Matt liebt mich nicht.“
„Wie bitte? Schätzchen, was erzählen Sie denn da für einen Unsinn? Er liebt Sie nicht?“ Danielle hörte, wie die Haushälterin empört schnaufte. „Und warum läuft er hier herum wie sein eigener Schatten, redet nicht, isst nicht, schläft nicht und starrt die ganze Zeit nur aufs Meer hinaus?“
„Er ist auf der Insel?“, fragte Danielle fast erschrocken.
„Ja, er kommt jeden Abend nach der Arbeit hierher, hockt in seinem Haus und will niemanden sehen. Es ist ein Jammer!“
„Und sie ist nicht bei ihm?“
„Wen meinen Sie?“
„Marina, seine Exfrau.“
„Marina?“, wiederholte Evita verwirrt. „Ich kenne keine Marina.“ Sie holte tief Luft. „Hören Sie, Kindchen, ich weiß nicht, was zwischen Ihnen und Señor Matthew vorgefallen ist, aber falls es um eine andere Frau geht, da kann ich Sie beruhigen. Er war bisher nur mit einer einzigen Frau hier bei uns... und das waren Sie, mi querida!“
Danielles Gedanken überschlugen sich. Marina war nicht mit auf der Insel! Er war… allein?
„Mit wem telefonieren Sie, Evita?“, fragte Matt, der in diesem Moment aus dem Haus trat.
Erschrocken hörte Danielle seine Stimme am anderen Ende der Leitung, und ihr Herzschlag schien für einen Augenblick auszusetzen.
„Mit einer guten Freundin“, erwiderte Evita augenzwinkernd. „Vielleicht sollten Sie auch gleich einmal mit ihr reden!“
Matt stutzte und riss der Haushälterin kurz darauf förmlich das Telefon aus der Hand.
„Danielle... bist du das?“
Ein Piepton in der Leitung war die Antwort.
Die unbekannte Teilnehmerin hatte aufgelegt.
*
Cynthia hatte sich in den vergangenen Wochen sehr gut in der Firma eingearbeitet. Matt und Edward mussten erstaunt feststellen, dass ihre neue Teilhaberin über ausgezeichnete Grundkenntnisse verfügte. Zudem besaß sie eine bemerkenswert leichte Auffassungsgabe, die es ihr ermöglichte, bereits aktiv mitzuarbeiten und einen wichtigen Teil der anfallenden Aufgaben selbstständig zu erledigen. Allerdings hatte sie auf eine persönliche Assistentin bisher bewusst verzichtet. Sie mochte Mason nicht vorgreifen. Er sollte selbst entscheiden, wen er zu seiner Unterstützung einstellen wollte, wenn er bald ihren Platz übernahm.
Ihren Platz....
Der Gedanke daran versetzte Cynthia einen schmerzhaften Stich in der Brust, denn sie musste sich eingestehen, dass sie begann, sich in der HSE wohlzufühlen. Die Arbeit machte ihr Spaß, sie hatte Verantwortung zu tragen und besaß ein Mitspracherecht in allen anstehenden, wichtigen Entscheidungen. Zudem verfügte die Firma über einen guten Ruf und wurde tadellos geführt, zumindest schien es bisher so.
Edward Hamilton begegnete ihr inzwischen nicht mehr so feindselig wie am Anfang, aber sie spürte genau, dass sie vor ihm auf der Hut sein musste. Zwar hatte sie bislang noch nichts Spezielles herausgefunden, was beweisen würde, dass er nebenbei heimlich unseriöse Geschäfte tätigte, doch vieles wies darauf hin, dass man ihm besser nicht allzu sehr vertraute.
Und was Matt betraf...
Masons so genannter „zwielichtiger, bösartiger, psychopatischer“ Zwillingsbruder wurde ihr, ohne dass sie etwas dagegen zu tun vermochte, mit jedem Tag sympathischer.
Er war es, der sie von Anfang an als gleichwertige Partnerin in der Firma akzeptierte, der ihr half, sich einzuarbeiten und ihr alle Fragen geduldig beantwortete. Mit jeder Stunde, in der sie mit ihm zusammenarbeitete, konnte sich Cynthia weniger vorstellen, dass er wirklich der war, als den Mason ihn beschrieben hatte. Er hatte zwar Masons Gesicht, das Gesicht, von dem sie vom ersten Augenblick an fasziniert gewesen war, aber ansonsten war er völlig anders. Sein gesamtes Wesen, sein Umgang mit ihr und mit anderen Menschen beinhaltete alles, was man sie sich insgeheim an einem Mann in einer Leitungsposition wünschte: Sicherheit, Kompetenz, Ausgeglichenheit und eine gewisse, geschäftsmäßige Freundlichkeit, aber auch einen ausgewogenen Geschäftssinn mit einer dafür notwendigen Härte und Konsequenz in den Verhandlungen mit seinen Geschäftspartnern. Obwohl er in unbeobachteten Augenblicken oftmals etwas traurig und in sich gekehrt wirkte, hatte sie Matt Shelton, seitdem sie hier war, nie launisch erlebt, und sie begann sich ernsthaft zu fragen, ob ein Mensch überhaupt in der Lage war, sich dauerhaft derart zu verstellen.
Ronda, Matts persönliche Assistentin, hatte ihr vor kurzem auf ihre diesbezügliche Frage hin den Grund für seine offensichtliche Traurigkeit anvertraut. Angeblich trauerte er seiner großen Liebe nach, die ihn vor kurzem verlassen hatte, weil seine Exfrau ein Baby von ihm erwartete.
„Seine Ex- Frau?“, hatte Cynthia erstaunt gefragt und interessante Details über die Vergangenheit von Matt Shelton erfahren, die sie gar nicht mehr zur Ruhe kommen ließen.
So hatte ihr Ronda zum Beispiel während eines Mittagessens in dem kleinen, italienischen Restaurant um die Ecke bereitwillig erzählt, dass Matt mit Marina Cortez verheiratet gewesen war, die dann jedoch eines Tages mit seinem Zwillingsbruder Mason durchgebrannt war. Später habe er dann Danielle Belling kennengelernt, eine junge Frau aus Oklahoma, in die er sich Hals über Kopf verliebt hatte, so dass die beiden sogar heiraten wollten. Doch eine angeblich kurze Affäre mit Marina, die inzwischen, von Mason getrennt, wieder in Sunset City lebte, hatte den Zukunftsplänen des jungen Paares ein jähes Ende bereitet.
Warum hatte Mason ihr nie von dieser Marina erzählt? Immerhin hatte er seinem Bruder die Frau ausgespannt und damit dessen Ehe zerstört!
Und warum war Mason so an dieser Danielle Belling interessiert, die doch bis vor kurzem ebenfalls mit seinem Bruder liiert war?
War er am Ende gar der Zwielichtigere von beiden?
Unmöglich...
Diesen Gedanken verwarf Cynthia sofort wieder. Sie dachte an das Vertrauen, dass Mason in sie setzte, indem er sie hier in die Firma eingeschleust und ihr alle Vollmachten gegeben hatte, an ihre enge Zusammenarbeit in den letzten Wochen, und nicht zuletzt an die Intimitäten, die sie beide kurz vor seiner Abreise nach Caracas ausgetauscht hatten... Schon allein der Gedanke daran jagte ihr Blut augenblicklich schneller durch die Adern.
Oh ja, sie musste sich eingestehen, dass sie sich wie verrückt nach ihm sehnte! Auch wenn das bedeutete, dass sie dann hier alles aufgeben müsste und wieder nur Masons kleine, unbedeutende Assistentin sein würde.
Aber schließlich konnte sie ja nur eines haben: Ihn oder...
Cynthia stutzte plötzlich und zog nachdenklich die Stirn in Falten. Über ein ODER hatte sie bisher noch gar nicht nachgedacht.
Das Klingeln ihres Handys riss sie abrupt aus ihren Gedanken.
„Hallo?“
Die Stimme am anderen Ende der Leitung ließ ihr Herz sofort höher schlagen.
„Cynthia, hier ist Mason. Ich habe in der Firma erst einmal alles erledigt. Die Geschäfte können eine Weile ohne mich laufen. Würden Sie mich bitte morgen in LA am Flughafen abholen? Ich komme mit der Nachmittags-Maschine.“
*
Als Mitch am Abend nach Hause kam, saß Suki in der Küche und blickte gedankenverloren zum Fenster hinaus in den Garten.
Er trat näher und schlang sacht seine Arme um ihre Schultern.
„Hey Schönheit, schaust du den Blumen beim Wachsen zu?“
Erschrocken sah sie sich um.
„Mitch, ich habe dich gar nicht gehört!“
„Stimmt. Du warst meilenweit weg mit deinen Gedanken.“ Er beugte sich hinunter und küsste seine zukünftige Frau liebevoll, bevor er sich neben ihr niederließ und sie gespannt musterte. „Möchtest du darüber reden?“
Erstaunt hob sie die Augenbrauen.
„Worüber?“
„Na, zum Beispiel über das, was dich eben derart intensiv beschäftigt hat, dass man hinter dir die Wohnung hätte ausräumen können, ohne dass du etwas davon wahrgenommen hättest.“
Suki lächelte wehmütig.
„Ich habe an Matt und Danielle gedacht.“
Mitchs Lächeln verschwand.
„An Danielle denke ich auch sehr oft, aber an Matt will ich keinen Gedanken mehr verschwenden.“
„Ich weiß nicht recht“, widersprach Suki etwas zögernd. „Vielleicht tun wir ihm alle unrecht.“
„Wie meinst du das?“
„Ach, das ist nur so ein Gefühl“, erwiderte sie ausweichend. „Er tut mir irgendwie leid.“
Mitch stand auf und begann unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen. Die Freundschaft mit Matt Shelton hatte ihm sehr immer viel bedeutet, und die Zwietracht zwischen ihnen belastete ihn insgeheim sehr.
„Was gibt es da leid zu tun?“, grummelte er, leicht verärgert darüber, dass Suki ihn anscheinend genau durchschaute. „Immerhin hatte er die Wahl. Er hat sich für Marina entschieden und damit basta.“
„Nein, so einfach ist das nun auch wieder nicht“, entgegnete sie. „Hat sich eigentlich einer von euch bisher einmal die Mühe gemacht, sich in aller Ruhe seine Version der Geschichte anzuhören? Nein, ihr habt ihn verurteilt und euch von ihm abgewandt.“
Mitch blieb einen Moment lang nachdenklich stehen und setzte sich dann wieder zu Suki.
„Was versuchst du mir zu sagen?“
Sie sah an seinem Gesichtsausdruck, wie ihre letzte Bemerkung ihn getroffen hatte und legte beschwichtigend ihre Hand auf seinen Arm.
„Sieht er etwa aus wie ein glücklicher werdender Vater? Hast du ihn, seitdem Danielle weg ist, einmal mit Marina zusammen gesehen? Ich meine, die beiden könnten sich doch jetzt in der Öffentlichkeit zeigen und sich zu ihrer Liebe bekennen. Wenn da überhaupt Liebe zwischen ihnen ist. Immerhin haben die beiden ja angeblich ein Kind zusammen gezeugt.“
„Hast du einen Grund, daran zu zweifeln, Suki?“
„Ich bin Marinas Ärztin, und alles, was sich in der Praxis abspielt, unterliegt einer strengen Schweigepflicht.“
„Das weiß ich doch.“
„Trotzdem habe ich das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt.“
Etwas irritiert verzog Mitch das Gesicht.
„Was soll denn nicht stimmen? Marina bekommt ein Kind von Matt. Er war doch selbst hier und hat es Danielle gesagt, auf eine so unschöne Art, dass ihr gar keine andere Möglichkeit blieb, als ihre Koffer zu packen.“
„Das ist es ja gerade! Es passt irgendwie nicht, und vor allem passt es nicht zu Matt“, beharrte Suki.
„Wem sagst du das“, brummte Mitch verdrossen. „Ich kenne Matt schon so lange…“
„Eben drum“, nickte Suki. „Dir als seinem besten Freund müsste doch aufgefallen sein, dass er niemals so gemein sein könnte! Und außerdem ist da noch die Sache mit dem Termin...“ Erschrocken hielt sie inne und wandte sich rasch ab, doch seine Neugier war sofort geweckt.
„Was für ein Termin?“, hakte er beharrlich nach.
„Ach“ Suki, die ihre unüberlegte Bemerkung zutiefst bereute, dachte einen Moment angestrengt nach. Wenn sie Mitch jetzt etwas über die eigenartigen Unstimmigkeiten rund um Marinas Geburtstermin erzählte, dann würde sie ganz eindeutig gegen ihre ärztliche Schweigepflicht verstoßen. Vielleicht würde dadurch etwas ins Rollen kommen, das garantiert kein gutes Ende nahm. Das wollte sie auf keinen Fall riskieren. „Ich... ich wollte Matt zu einem Termin für einen Gesundheits-Check überreden. Er sieht wirklich nicht gut aus, findest du nicht auch?“, zog sie sich gekonnt aus der Affäre.
„So ein Check-up bringt ihn bei seinen Problemen auch nicht weiter“, widersprach Mitch, besann sich dann aber, als er Sukis eindringlichen Blick sah. „Okay, vielleicht hast du Recht. Ruf ihn an.“
Suki nickte, zuerst nachdenklich, dann mit einem Mal jedoch sehr entschlossen.
„Das werde ich.“
*
„Also wirklich, Tante Cloe, findest du nicht, dass das etwas zu weit geht?“, schimpfte Anni und tigerte ungehalten vor dem dampfenden Whirlpool, in dem sich ihre Tante genüsslich rekelte, auf und ab.
Cloe schien das nicht im Geringsten zu beeindrucken. Sie wirkte absolut entspannt und hob nur einmal kurz den Kopf, um ihre Nichte amüsiert anzublinzeln.
„Ich verstehe gar nicht, weshalb du dich so aufregst, Schätzchen! Ronald ist wirklich ein sehr netter Mann.“
Anni verdrehte genervt die Augen.
„Dieser Modegockel! Es ist mir unerklärlich, was du an dem Kerl findest, außer vielleicht an seinem Bankkonto. Außerdem ist er verheiratet.“
Cloe lachte hell auf und zwinkerte bedeutungsvoll.
„Nicht, wenn er mit mir zusammen ist, du Lämmchen.“
„Wie kann man denn nur so furchtbar blauäugig sein“, wetterte Anni. „Weißt du, was die Presse über seine Ehefrau schreibt? Sie ist der bösartigste und intriganteste Drache entlang der ganzen Westküste!“
„Kein Wunder, dass er sich sein Vergnügen bei anderen Frauen sucht“, erwiderte Cloe ungerührt, legte ihren Kopf wieder zurück und schloss die Augen. „Allerdings fallen mir auf Anhieb mindestens ein Dutzend andere Frauen ein, die ebenfalls ein Anrecht auf diesen Titel hätten.“
„Umso mehr Grund für dich, auf der Hut zu sein.“
„Ach Anni, ich mag diesen Mann einfach“, schwärmte Cloe unbeirrt. „Er ist so überaus charmant, witzig, großzügig und für sein Alter noch... mmh, wie soll ich sagen... ziemlich aktiv.“
„Estelle Austin wird Hackfleisch aus dir machen, wenn sie erfährt, dass du mit ihrem Ehemann herummachst!“
„Keine Sorge, Schätzchen, aus mir macht keiner so leicht Hackfleisch. Und ich mache auch nicht mit ihm herum, wie du es so respektlos ausdrückst. Ich habe eine Beziehung mit Mister Ronald Austin begonnen. Eine sehr interessante und überaus romantische Beziehung. Und jetzt lass mich ein wenig entspannen, sonst kriege ich meinen Teint bis zum Wiedersehen mit ihm nicht ordentlich hin.“
„Uuuh...“ Anni hob in theatralischer Verzweiflung die Hände in die Höhe, ließ sie jedoch kurz darauf wieder sinken. Es war ohnehin sinnlos, Tante Cloe etwas ausreden zu wollen, wenn diese frisch verliebt war. „Okay, mach was du willst. Sag aber hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“ Sie wollte schon gehen, drehte sich jedoch noch einmal um. „Und damit du es weißt, ich bin bis spätestens Mitternacht zurück, und dann erwarte ich, dass dieser.. dieser... Schneider hier verschwunden ist!“
„Designer, meine Süße. Er ist ein überaus bekannter Modedesigner, kein Schneider.“ Cloe lächelte nachsichtig, als sie hörte, wie die Tür geräuschvoll hinter ihrer Nichte ins Schloss fiel.
Seitdem Anni für eine stattliche Summe ihre HSE-Anteile verkauft hatte, lebten sie beide wieder ziemlich sorglos. Anni hatte sofort das Haus renovieren lassen und neue Möbel gekauft. Und sie hatte mit viel Begeisterung ihre Garderobe um eine nicht unbeträchtliche Stückzahl ergänzt. „Eine absolute Notwendigkeit“ nannte sie es. Cloe dagegen nannte es „eine absolute Verschwendung“. Mit einiger Mühe hatte sie ihre Nichte schließlich davon überzeugen können, einen Teil ihres Vermögens fest anzulegen, anstatt es sinnlos zu verschleudern. Sie liebte Anni und würde trotz allem auch weiterhin auf sie Acht geben. Und ihre eigene, heimlich fest angelegte finanzielle Notreserve würde sie erst angreifen, wenn bei Anni und ihr finanziell gar nichts mehr ging.
Zum Glück schien sich Annis anfangs etwas schwierige Beziehung zu Alex Franklyn mittlerweile gefestigt zu haben. Sie hatte aufgehört, Matt ständig hinterherzujagen und verbrachte viel Zeit mit dem gutaussehenden Archäologen. Blieb nur zu hoffen, dass Alex es eines Tages schaffen würde, den „Teufel“ einigermaßen zu bändigen und dann vielleicht den „Engel“ zu heiraten.
„Aber bis dahin, meine liebe Anni “, murmelte Cloe mit geschlossenen Augen entspannt, „bis dahin musst du noch eine ganze Menge lernen!“
*
„Danielle, bist du da?“
John klopfte an ihre Tür, die nur angelehnt war und trat zögernd ein.
Sie stand am Küchenfenster und starrte gedankenverloren hinaus. Sie schien ihn gar nicht bemerkt zu haben.
Er blieb im Türrahmen stehen und betrachtete ihre schlanke Gestalt einen Moment lang schweigend. Sie sah so zerbrechlich aus, so verloren, und doch wusste er inzwischen nur zu gut, wieviel Kraft und Energie in dieser zierlichen Person steckte. Wenn sie in der Klinik ihren Dienst tat, ging sie voll in ihrer Arbeit auf und arbeitete teilweise schon effektiver und umsichtiger als manche der erfahrenen Krankenschwestern. John kannte sie bereits ziemlich gut und wusste genau, dass die Arbeit ihr nicht nur Freude machte, sondern gleichzeitig eine Art persönliche Therapie war. Sie stürzte sich voller Elan in jede Schicht, um ihren persönlichen Kummer zu vergessen und nicht nachdenken zu müssen.
Er lächelte wehmütig.
Nur zu gerne hätte er ihr geholfen, endlich über die Sache mit Matt hinwegzukommen, aber inzwischen musste er sich eingestehen, dass sich seine Empfindungen für sie in den vergangenen Wochen geändert hatten und nicht mehr so selbstlos waren wie am Anfang. Er wollte sie beschützen und ein Freund für sie sein, bei dem sie sich sicher fühlen durfte. Aber da war auch noch etwas Anderes. Er hatte sich in sie verliebt, in ihre bernsteinbraunen Augen, ihr Lächeln, das so selten geworden war, ihre zurückhaltende, fast scheue Art, ihre eiserne Selbstbeherrschung und Zähigkeit, mit der sie versuchte, ihr neues Leben hier zu meistern. Er hätte ihr zu gern gestanden, was er fühlte, doch ihr tiefes Vertrauen in seine selbstlose Freundschaft hielt ihn zurück.
Sie brauchte einfach noch etwas Zeit…
Vielleicht, wenn er nur lange genug wartete, würde aus ihrer Freundschaft zu ihm irgendwann einmal mehr werden.
Und da gab es noch diese andere Sache, die ihn beschäftigte, und wegen der er überhaupt erst hierher nach Südkalifornien gekommen war.
Er hatte bisher mit niemandem darüber gesprochen, aber seitdem er wieder von Sunset City zurückgekehrt war, konnte er an nichts Anderes mehr denken. Er musste endlich mit jemandem darüber reden. Jemand, der ihn verstehen konnte: Danielle.
Er räusperte sich vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken.
Sie drehte sich um und lächelte, doch er sah, dass sie geweint hatte. In ihrer Hand hielt sie das Handy.
„John! Du bist spät dran.“
„Stimmt“, nickte er und trat näher. „Wir hatten noch einen Notfall.“
„Ich habe dir Abendessen gemacht“, sagte sie, legte das Handy auf den Küchentisch und nahm einen Teller mit belegten Broten aus dem Kühlschrank. „Was möchtest du dazu trinken? Einen Weißwein oder lieber nur Soda?“
„Ein Glas Wein wäre genau richtig“, erwiderte er und setzte sich. „Aber nur, wenn du mir Gesellschaft leistest.“
Während Danielle zwei Gläser füllte, begann er zu essen.
„Ausgezeichnet“, lobte er mit vollem Mund kauend, was Danielle unwillkürlich an Randy Walker erinnerte. „Jetzt merke ich erst, wie hungrig ich bin. Und du scheinst meinen Geschmack bereits sehr gut zu kennen.“
Es gelang ihr tatsächlich, ein Lächeln zustande zu bringen..
„Truthahn-Pastete und Schinken... das habe ich mir gerade noch merken können.“
„Wie war dein Nachmittag?“, fragte er so beiläufig wie möglich, ohne sie jedoch aus den Augen zu lassen.
„Mitch hat angerufen. Er und Suki kommen am Wochenende zu Besuch“, berichtete sie.
„Dr. Yamada?“ John grinste. „Fein, die muss ich unbedingt etwas zum Thema Endoskopie fragen.“
Danielle verdrehte die Augen.
„Ja klar, ihr beiden Doktoren werdet wieder fachsimpeln, dass uns normalen Sterblichen die Ohren klingen.“
„Wir könnten alle vier zusammen essen gehen“, schlug John vor. „Ich lade euch ein.“ Er sah sie aufmerksam an, gespannt auf ihre Reaktion. „Aber nur, wenn du mir verrätst, warum du vorhin geweint hast.“
„Ich hab doch gar nicht...“, begann Danielle, doch sie wusste längst, dass sie John O`Malley nichts vormachen konnte und senkte den Kopf. „Ich habe auf Paradise Island angerufen.“
Er zog überrascht die Stirn in Falten.
„Wieso das denn?“
„Ich wollte mich von Vincent und Evita verabschieden. Sie waren so freundlich zu mir, als wir dort waren.“
„Und?“
Danielle schluckte.
„Er war da.“
„Matt?“
Sie nickte stumm. Zögernd begann sie von ihrem Gespräch mit Evita zu erzählen, von dem Erstaunen in der Stimme der alten Frau, als sie Danielles Gründe hörte, warum sie Matt verlassen hatte, und von der Tatsache, dass er jeden Abend allein auf Paradise Island verbrachte, während Marina laut Evitas Aussage noch nie mit ihm dort gewesen sei. „Und dann hörte ich plötzlich seine Stimme“, gestand sie schließlich atemlos. „Er fragte Evita, wer am Telefon sei und sie meinte, eine gute Freundin…“
„Und weiter?“, fragte John gespannt.
Danielle hob die Schultern.
„Dann habe ich aufgelegt.“
Schweigend nippte John an seinem Wein.
„Vielleicht hättest du mit ihm reden sollen“, meinte er nach einer Weile nachdenklich.
„Und was hätte das gebracht? Er hätte mir ja doch nur dasselbe gesagt wie damals, und glaub mir, John, darauf kann ich verzichten.“
„Das kannst du nicht wissen. Vielleicht sieht er die Sache inzwischen etwas anders.“ John konnte selbst kaum glauben, dass er das eben gesagt hatte. Er war auf dem besten Wege sich an diese faszinierende, junge Frau zu verlieren, und anstatt daran zu arbeiten, dass sie seine Gefühle vielleicht eines Tages erwidern würde, gab er ihr tatsächlich noch Tipps, wie sie sich mit ihrer verflossenen Liebe wieder aussöhnen könnte. Etwas Absurderes gab es doch wohl gar nicht! Und trotzdem wollte er doch im Grunde nur, dass sie endlich wieder glücklich war.
Er fasste über den Tisch hinweg nach ihrer Hand.
„Du kannst so nicht weitermachen, Danielle. Fahr nach Sunset City und rede noch einmal mit Matt.“
Sie schüttelte traurig den Kopf.
„Das kann ich nicht.“
„Dann vergiss ihn endlich.“
„Das kann ich auch nicht...“
Sie starrten einander sekundenlang an und mussten plötzlich beide lachen.
„Oh mein Gott“, meinte Danielle schließlich nach Luft ringend. „Du musst glauben, ich bin nicht ganz normal!“
John grinste.
„Normal? Wer ist schon normal! Normal ist doch langweilig.“ Er hob sein Glas und prostete ihr zu. „Auf alle, die nicht ganz normal sind, uns beide eingeschlossen.“
Nachdem sie einen Schluck getrunken hatten, fiel Danielle der Anruf von George Freeman ein.
„Fast hätte ich es vergessen... George hat uns am Wochenende eingeladen, mit der Yacht eines Freundes einen kleinen Ausflug von Santa Barbara nach Santa Rosa Island zu machen. Hast du Lust dazu?“
Johns Miene verdüsterte sich.
„Dann müssen wir wieder ein Liebespaar spielen“, gab er zu bedenken. „Nicht, dass mich das stören würde, aber wann willst du ihm endlich die Wahrheit sagen?“
Danielle verzog schuldbewusst das Gesicht.
„Ich habe schon tausendmal bereut, dass wir uns auf diese Schwindelei überhaupt erst eingelassen haben. Bei der ersten passenden Gelegenheit erklären wir ihm alles. Er ist ein wirklich guter Mensch und hat es nicht verdient, belogen zu werden, selbst dann nicht, wenn es im Dienste seiner Gesundheit ist.“
„Du hast Recht“, stimmte John nachdenklich zu. „Er muss die Wahrheit erfahren. Nicht nur, was uns beide betrifft. Ich frage mich allerdings, wieviel Wahrheit sein krankes Herz ertragen kann.“
Danielle horchte auf.
„Wie meinst du das?“
John nahm einen großen Schluck aus seinem Glas, lehnte sich zurück und atmete tief durch. Er musste es einfach loswerden, und keiner eignete sich besser dazu, sein Geheimnis mit ihm zu teilen, als Danielle.
„Du hast ein gesundes Herz, also werde ich dir zuerst von dieser Wahrheit erzählen. Aber schnall dich an, Danielle, sonst haut es dich vielleicht um.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause und starrte einige Sekunden auf sein Weinglas, in dessen golden schimmernden Inhalt sich das letzte Licht des Tages brach, welches das Zimmer erhellte.
Erwartungsvoll sah Danielle ihn an.
„Nun rede schon, John, du weißt doch, nach dem, was in den letzten Wochen alles passiert ist, bringt mich so leicht nichts mehr aus der Fassung.“
Er hob den Kopf und blickte in ihre Augen, entschlossen, sein Geheimnis mit ihr zu teilen.
„Als wir das erste Mal bei George Freeman waren, fragte er aufgrund meines Namens, ob ich Ire sei. Im Verlauf unseres Gespräches erzählte ich ihm, dass meine Mutter aus Süd-Irland stammte.“
Danielle nickte irritiert.
„Ja, genau wie Shannon, seine große Liebe. Daran erinnere ich mich.“
„Shannon Walsh“, sagte John leise, wie zu sich selbst.
„Moment mal, du kennst diese Frau?“
„Sie war meine Mutter. Die Jugendliebe, von der er erzählt hat. Als sie ihrer Heimatstadt damals für immer den Rücken kehrte, nahm sie den Mädchennamen ihrer Mutter an, um nicht gefunden zu werden. O`Malley.“
„John!“ Danielle starrte ihn fassungslos an, und er nickte lächelnd.
„Ja, ich habe mehr mit George Freeman gemeinsam, als irgendjemand ahnt. Ich weiß es von ihr. Ich bin sein Sohn.“