Innerlich aufgewühlt von ihrem Verdacht, der sie seit ein paar Tagen unablässig beschäftigte, klopfte Suki Yamada an die Tür ihres Kollegen Dr. Mendes.
„Arthur, hätten Sie einen Augenblick Zeit für mich?“
Er sah von dem Bericht hoch, den er gerade schrieb und nickte ihr freundlich zu.
„Natürlich Suki, worum geht es denn?“
„Um eine Patientin von mir. Ich habe den Verdacht, dass ihre Schwangerschaft bereits weiter fortgeschritten ist, als sie zugibt.“
Arthur blickte sie irritiert an.
„Kenne ich die Patientin?“
„Marina Cortez Shelton.“
Sichtlich interessiert legte er seinen Stift beiseite und lehnte sich zurück.
„Stimmt, ich habe die Schwangerschaft vor ein paar Wochen festgestellt. Damals schien Mrs. Cortez Shelton nicht sehr begeistert über die Tatsache, dass sie ein Baby erwartet.“
„Nun, das hat sich ja inzwischen geändert. Allerdings lügt sie eisern, was den Termin betrifft.“
„Warum sollte sie das tun?“
„Weil sie einen Vater für ihr Baby braucht.“
„Sind Sie sicher? Also medizinisch gesehen sollte es ja bereits einen geben.“
Suki nickte.
„Ja, inzwischen bin ich ziemlich sicher. Und es gefällt mir gar nicht, dass hier vielleicht jemand auf ziemlich miese Art hereingelegt werden soll.“
Dr. Mendes stand auf und trat zum Fenster, während Suki ihrem Kollegen ausführlich von den Umständen ihrer Vermutung erzählte.
„Ich befürchte, da können Sie gar nichts tun. Sie sind an Ihre Schweigepflicht gebunden“, gab er schließlich zu bedenken. „Ist Marina noch bei Ihnen in Behandlung?“
„Ja, sie hat übermorgen einen Ultraschall-Termin.“
„Dann reden Sie mit ihr“, schlug er vor. „Als ihre Ärztin, versteht sich.“
„Das wird nichts nützen.“
Arthur überlegte einen Augenblick und schüttelte dann erneut den Kopf.
„In diesem Fall kann man nur abwarten, bis das Kind auf der Welt ist und darauf hoffen, dass sich der angegebene Vater über das gut entwickelte „Frühchen“ wundert und vielleicht einen Test machen lässt.“
´Auf keinen Fall!´, grübelte Suki angestrengt. ´Es dauert viel zu lange, bis Matt und Danielle die Wahrheit erfahren würden, und bis dahin wäre es für die beiden vielleicht zu spät!´
Es musste noch einen anderen Weg geben!
*
„Mister Shelton?“, erklang Rondas angenehme Stimme aus der Sprechanlage, „Dr. Yamada für Sie auf Leitung Eins!“
Erstaunt zog Matt die Stirn in Falten. Suki rief ihn an? Nachdem ihn alle aus Danielles ehemaliger WG in den vergangenen Wochen konsequent gemieden hatten?
„Danke Ronda, stellen Sie durch.“
Er nahm den Hörer ab und holte tief Luft.
„Suki, was kann ich für dich tun?“, fragte er kühl.
„Hallo Matt. Tut mir leid, wenn ich dich störe...“
„Du störst nicht“, erwiderte er. „Obwohl ich doch etwas erstaunt bin, dass überhaupt noch jemand von euch mit mir spricht, nachdem ihr mich behandelt habt, als hätte ich eine ansteckende Krankheit.“
„Matt, wir sollten uns unbedingt treffen.“
„Worum geht es denn? Hast du Neuigkeiten von Danielle?“, fragte er hoffnungsvoll.
„Nein, darum geht es nicht.“
„So? Und worum dann?“
„Ich habe einige Patienten von Dr. Mendes übernommen, da er momentan etwas überlastet ist. Und in deiner Akte habe ich gelesen, dass ein Gesundheits-Check-Up lange überfällig ist. Deshalb wollte ich fragen...“
„Ich fühle mich gesund, danke.“ Enttäuschung klang in seiner Stimme. Er hatte gehofft, Sukis Anruf hätte andere Gründe.
„Hör zu, Matt, ich möchte, dass du unbedingt zu mir in die Klinik kommst“, sagte die junge Ärztin mit einem Nachdruck, der ihn aufhorchen ließ. „Wann passt es dir?“
„Eigentlich gar nicht“, brummte er, besann sich dann aber um der alten Freundschaft willen. „Okay, schlag einen Termin vor, ich werde sehen, ob es sich einrichten lässt.“
„Fein.“ Suki atmete erleichtert auf. „Wie wäre es morgen früh, bevor du ins Büro fährst?“
„Also gut, wenn dir so viel daran liegt, komme ich vorbei.“
„Danke, Matt. Bis morgen.“
*
Der Mann, der am späten Nachmittag die Büroräume der HSE betrat, war schätzungsweise um die Vierzig, mittelgroß und hager. Er trug einen teuer aussehenden, dunklen Blazer, der im krassen Gegensatz zu seinen abgetragenen, ja fast schon schmuddelig wirkenden Jeans stand. Aus seinem kantigen Gesicht sprang eine etwas schiefe Boxernase hervor, die garantiert irgendwann gebrochen und nicht richtig zusammengewachsen war. Zusammen mit der pockennarbigen Haut und den wieselflinken, durchdringend dreinblickenden Augen erinnerte er Matt an einen heimtückischen Schakal. Sein dunkles Haar war zurückgekämmt und sah aus wie frisch geschnitten. Ein Duft von billigem After Shave blieb in der Luft kleben, als er zielstrebig zum Schreibtisch von Edwards Sekretärin hinüberging.
„Mister Logan?“, fragte Elisabeth, die ihn zu kennen schien, erstaunt. „Haben Sie einen Termin mit Mister Hamilton verabredet? Er ist nicht da, und er nichts davon gesagt, dass Sie heute vorbeikommen.“
Der mit Mister Logan Angesprochene blieb dicht vor dem Schreibtisch stehen.
„Ich habe keinen Termin mit Ihrem Boss, Schätzchen. Ich will zu dem anderen, seinem Geschäftspartner.“
„Oh... zu Mister Shelton!“ Elisabeth, der seine plumpe Vertraulichkeit sichtlich unangenehm war, nickte distanziert. „Erwartet er Sie?“
„In gewissem Sinne ja“, erwiderte er und zwinkerte ihr zu. „Sagen Sie ihm einfach, der bestellte Schnüffler sei hier.“
Elisabeth hob missbilligend eine Augenbraue, drückte jedoch auf den Knopf der Wechselsprechanlage und gab das Gewünschte durch. Zu ihrer Verwunderung schien Matt nicht im Geringsten überrascht.
„Schicken Sie ihn bitte herein, Elisabeth.“
Logan grinste breit und warf ihr eine Kusshand zu, während er zielstrebig auf Matts Büro zusteuerte.
Matt verspürte auf Anhieb eine Abneigung gegen den Mann, der sein Büro betrat. Die Art, wie er auftrat und sich blitzschnell umblickte, erinnerte ihn an eine hungrige Hyäne auf Beutezug. Schleichend, allgegenwärtig und immer bereit zum tödlichen Sprung. Mit solchen Leuten gab sich sein Partner also ab, wenn er diverse Aufträge zu vergeben hatte! Und den sollte er wirklich auf Danielles Spur hetzen?
Aber der Kerl musste gut sein in dem, was er tat, sonst hätte Edward ihn nicht empfohlen. Und schließlich sollte er ja nur herausfinden, wo sie sich derzeit aufhielt, weiter nichts.
Er stand auf, ging dem Mann ein paar Schritte entgegen und reichte ihm die Hand.
„Ich nehme an, Sie sind in Edward Hamilton Auftrag hier, Mister...?“
„Sam Logan“, stellte dieser sich vor, während er sein Gegenüber mit durchdringendem Blick gründlich musterte. „Ja, ganz recht, Mister Hamilton rief mich an und teilte mir mit, dass sein Geschäftspartner einen Auftrag für mich hätte.“
„Ich bin Matthew Shelton“, erwiderte Matt mit einem verbindlichen Lächeln und wies auf die Besucherecke. „Bitte nehmen Sie Platz, Mister Logan. Es ist richtig, ich habe tatsächlich einen Auftrag für Sie.“
Logan setzte sich und schlug die Beine übereinander.
„Um was geht es bei dem Auftrag?“
„Ich möchte, dass Sie jemanden für mich ausfindig machen. Eine junge Frau. Sie lebte bis vor kurzem hier in Sunset City, aber vor ein paar Wochen ist sie abgereist und seitdem spurlos verschwunden“, erklärte Matt, nahm Danielles Bild vom Schreibtisch und reichte es Sam Logan. Der warf einen kurzen Blick darauf, grinste und pfiff anerkennend durch die Zähne.
„Hübscher Käfer. Ist sie Ihnen durchgebrannt?“
Er sah Matts finsteren Blick und sein Lächeln erstarb sofort.
„Nichts für ungut, Mister. Wie ist der Name der Dame?“
„Danielle Belling.“
Sam Logan nickte und zog ein kleines abgegriffenes Notizbuch aus seiner Jackettasche.
„Okay“, brummte er und begann sich Notizen zu machen. „Ich brauche noch einige Auskünfte von Ihnen.“
Matt beantwortete ihm so geduldig wie möglich seine Fragen und atmete erleichtert auf, als Logan sein Buch zuklappte, denn er hatte das Gefühl, als werde Danielles Privatsphäre beschmutzt, indem ein völlig Fremder sich über sie Notizen machte.
„Noch irgendetwas, was ich wissen sollte?“, fragte Logan und steckte Buch und Stift zurück in seine Tasche.
„Eins noch, Mister Logan.“ Matt sah ihn ernst an. „Falls Sie Miss Belling finden, und davon gehe ich aus, dass sie das tun werden, dann möchte ich keinesfalls, dass Sie in irgendeiner Weise mit ihr in Verbindung treten. Sie soll Sie gar nicht bemerken. Sie rufen mich einfach nur an oder kommen bei mir vorbei und teilen mir ihren derzeitigen Aufenthaltsort mit. Nicht mehr und nicht weniger! Haben wir uns verstanden?“
„Natürlich Sir“, erwiderte Logan ungerührt und starrte wie gebannt auf den Umschlag, den Matt vor ihm auf den Tisch legte.
„Ein kleiner Vorschuss, der erst einmal alle Spesen decken sollte“, erklärte er. „Den Rest bekommen Sie, wenn sie den Auftrag erledigt haben.“
Logan griff nach dem Umschlag, warf einen Blick hinein und ließ ihn dann blitzschnell in seiner Jackentasche verschwinden.
„Sie hören in den nächsten Tagen von mir“, sagte er sichtlich zufrieden, stand auf und ging zur Tür. „Sie werden sehr zufrieden sein, Sir.“
„Das wird sich zeigen", erwiderte Matt distanziert.
Ein breites Grinsen zog über Logans Gesicht.
„Wir sehen uns, Mister Shelton.“
Mit einem unguten Gefühl im Magen sah Matt dem Mann hinterher und fragte sich insgeheim, ob diese Entscheidung wirklich richtig war.
*
Mason saß in seinem Hotelzimmer und grübelte wie besessen darüber nach, was er als nächstes tun sollte.
Alles war so exakt nach seinen Plänen verlaufen, und nun das! Wie konnte dieses kleine Biest es wagen, einfach aus der Stadt zu verschwinden, ohne jemandem zu sagen, wo sie zu finden war! Verdammt!!!
Schließlich ging er hinüber zu Cynthia und klopfte an ihre Tür.
„Wie läuft eigentlich die Beziehung zwischen meinem Bruder und seiner Exfrau?“, fragte er innerlich gespannt, während er so lässig wie möglich im Türrahmen lehnte, als sie ihm öffnete. Erstaunt hob sie die Augenbrauen.
„Das weiß ich nicht“, sagte sie abweisend und dachte insgeheim an ihr Gespräch mit Matts Sekretärin. „Er ist den ganzen Tag über im Büro, und darüber, wo er seine Abende verbringt, habe ich keine Informationen.“
„Haben Sie ihn irgendwann mit seiner Exfrau zusammen gesehen?“
„Ich weiß ja nicht einmal, wer seine Ex-Frau ist“, erklärte Cynthia leicht gereizt. Mason hob ungeduldig die Augenbrauen.
„Marina Cortez Shelton, die Frau, die ein Kind von ihm erwartet.“
„Woher soll ich denn bitte wissen, mit wem sich Matt Shelton in seiner Freizeit trifft oder wer ein Kind von ihm bekommt.“ Cynthia wandte sich beleidigt ab und ging zurück ins Zimmer. „Ich arbeite zwar in Ihrem Auftrag in dieser Firma, aber ich wusste nicht, dass ich mich auch noch für das Privatleben Ihres Bruders zu interessieren habe!“
Mason verdrehte genervt die Augen und atmete tief durch. Nur die Ruhe, er musste die Sache etwas anders anfangen. Sacht schloss er die Tür und folgte ihr, bis er ganz dicht hinter ihr stand.
„Cynthia“, raunte er ihr leise ins Ohr, während er von hinten die Arme um ihre Taille schlang und sie zu sich heranzog. „Nun komm schon, sei nicht gleich sauer, du weißt doch, all das hier gehört zu meinem Plan. Je mehr ich über Matt weiß, desto besser.“
´Über Matt, oder vielmehr über... Danielle Belling?´, dachte sie bitter, doch seine Lippen, die verführerisch über ihren Hals fuhren und begannen, sacht an ihrem Ohrläppchen zu knabbern, ließen keine weiteren Überlegungen zu. Seine Hände begannen sich langsam Stück für Stück aufwärts zu tasten und die Knöpfe ihrer Bluse zu öffnen. Jede seiner Bewegungen jagte heiße Schauer über ihren Rücken und ließ ihren Körper und ihre Sinne vor Lust vibrieren. Sie stöhnte leise auf, lehnte sich an ihn und schloss die Augen.
´Was soll’s…´, dachte sie, bereits schon verloren in dieser sinnlichen Umarmung. ´Genieße einfach den Augenblick, Cynthia. Vielleicht empfindet er ja doch mehr für dich, als du glaubst.´
Ein Mann, der so ausgesprochen zärtlich zu sein vermochte, konnte doch nicht lügen. Oder doch?
„Wann hat Matt dir denn diese Belling weggeschnappt? Vor oder nach seiner Ex?“, murmelte sie in einem letzten hilflosen Versuch der Gegenwehr zwischen Verzückung und Neugier. Für einen kurzen Augenblick stutzte Mason, doch dann hatte er sich sofort wieder in der Gewalt.
„Ist doch egal“, flüsterte er, während seine Lippen ihren Mund suchten. „Er ist ein hinterhältiger Tyrann. Dani wollte weg von ihm, und ich habe ihr dabei geholfen. Alles andere ist nur erfunden, glaub mir!“
„Und jetzt ist er wieder mit seiner Ex zusammen?“
„Das wollte ich ja von dir wissen, meine Süße!“
„Mmh...“, schnurrte Cynthia und presste sich sehnsüchtig an seinen Körper, „Sie ruft ihn ab und zu an, aber er verhält sich sehr distanziert. Ich habe sie jedenfalls noch nicht zusammen gesehen, seitdem ich hier bin. Er ist immer allein.“
´Das ist nicht gut´, dachte Mason grimmig, während er Cynthia mit Leichtigkeit hochhob und auf seinen Armen ins Schlafzimmer hinübertrug. ´Die beiden sollten sich doch inzwischen wieder etwas näher gekommen sein!´
Noch während er sich ungeduldig sein Hemd abstreifte, um sich dem schlanken, verführerischen Körper seiner persönlichen Assistentin zu widmen, beschloss er insgeheim, der Sache mit Matt und Marina auf jeden Fall etwas nachzuhelfen.
*
Müde und übernächtigt war Danielle am Morgen vom Nachdienst in ihre kleine Wohnung zurückgekehrt, und obwohl sie etwas Schlaf dringend nötig gehabt hätte, wusste sie doch genau, dass sie kein Auge zu tun würde. Zu viele Gedanken schwirrten ihr im Kopf herum, und vor allem beschäftigten sie die Worte, die John kürzlich zu ihr gesagt hatte...
„Ihr seid unglücklich, weil keiner sich mit dem anderen ausspricht. Rede noch einmal mit Matt. Damit ihr beide wisst, wo ihr steht. Bevor es endgültig zu spät ist!“
Aber war denn nicht ohnehin schon alles zu spät? Eine innere Stimme behauptete unaufhörlich, dass es nicht so war.
Danielle seufzte. Schließlich gab sie aller Vernunft zum Trotz diesem Gefühl nach, dass sie seit Tagen zu beherrschen schien. Sie griff kurzentschlossen zum Telefon, rief John, dessen Dienst bereits begonnen hatte, in der Klinik an und fragte ihn, ob sie sich seinen Wagen leihen dürfe.
Eine halbe Stunde später befand sie sich bereits auf dem Pacific Coast Highway Richtung Sunset City.
*
Am Morgen suchte Matt wie verabredet das Sunset City Memorial auf.
Nachdem die wichtigsten Tests durchgeführt worden waren, saß er Suki schließlich im Behandlungsraum gegenüber und erwartete das Ergebnis.
Sie las sich sorgfältig die notierten Werte durch, lehnte sich dann zurück und sah ihn nachdenklich an.
„Ist alles okay?“, fragte er mit einem etwas ungeduldigen Blick zur Uhr.
„Nun, rein körperlich gesehen scheint alles in bester Ordnung. EKG, Blutdruck und alle anderen Tests zeigen, dass du bei bester Gesundheit bist.“
„Fein.“ Matt wollte sich bereits erheben, doch Suki bedeutete ihm sitzenzubleiben.
„Ich sagte, rein körperlich. Was jedoch deinen seelischen Zustand betrifft.“
„Mir fehlt nichts“, beharrte er abweisend. „Ich habe meine Arbeit, die mich ausfüllt.“
„Und du wirst bald Vater“, ergänzte Suki und sah ihn dabei forschend an.
„Ja“, war die knappe Antwort.
„Nimm es mir bitte nicht übel, wenn ich das so offen sage, aber wie ein glücklicher werdender Vater siehst du nun wirklich nicht aus.“
„Ich bin okay.“
„Nein, das bist du nicht“, widersprach Suki und blickte ihm fest in die Augen. „Du ziehst dich zurück, vernachlässigst deine Freunde...“
„Das ist so nicht ganz richtig, Suki“, unterbrach er sie mit eisiger Stimme. „Meine Freunde haben sich von mir abgewandt, wie du sicher weißt. Und das, ohne mir eine Chance zu geben, mich irgendwie zu rechtfertigen.“
Suki nagte einen Augenblick lang verlegen an ihrer Unterlippe.
„Es tut mir leid, Matt, aber du hast Danielle mit deinem Verhalten zutiefst verletzt. Das hat sie nicht verdient.“
„Nein, verletzt zu werden hat sie wirklich nicht verdient, deshalb möchte ich ja unbedingt wissen, wo sie ist, um mit ihr über alles zu reden!“
„Ich kann dir nicht sagen, wo sie ist. Nicht, solange sie es nicht will.“ Die junge Ärztin griff nach den Testunterlagen, als müsse sie sich daran festhalten. „Um noch einmal auf die Untersuchungsergebnisse zurückzukommen... Du siehst blass aus und wirkst übernächtigt, und du hast abgenommen. Den Lebensstil, den du derzeit führst, wird dein Körper bestimmt nicht lange mitmachen, ohne sich zu wehren. Du bist ganz und gar nicht okay. Und das weißt du auch.“
„Was willst du denn jetzt hören?“, erwiderte er heftiger als beabsichtigt. „Das sie mir fehlt? Oh ja, sie fehlt mir ganz entsetzlich! Und ich kann nichts dagegen tun.“
Suki beugte sich etwas vor und blickte ihn eindringlich an.
„Dann lass uns endlich reden.“
Er lachte bitter.
„Und was zum Teufel soll das bringen?“
„Klarheit.“
„Worüber?“
„Über deine Gefühle, über deine Beziehung zu Marina und dem Baby, das sie erwartet. Und vor allem über eure gemeinsame Nacht.“
Er sah erstaunt hoch.
„Woher willst du wissen, dass es nur eine war? Hat sie das gesagt?“
Suki lehnte sich wieder zurück und verzog das Gesicht.
„Du weißt, ich habe eine ärztliche Schweigepflicht zu wahren. Das bedeutet aber nicht, dass ich dir keine Fragen stellen darf. Als deine Ärztin selbstverständlich“, fügte sie hinzu und sah ihn bedeutungsvoll an. „Die Antworten auf meine Fragen unterliegen dann natürlich wiederum dieser Schweigepflicht. Du kannst also ganz offen sein. Zu deinem Besten, Matt.“
Er schien kurz über ihre Worte nachzudenken, dann nickte er und lehnte sich ebenfalls zurück.
„Okay. Was genau willst du wissen, Suki?“
„Alles über diese eine Nacht, in der ihr zusammen gewesen seid.“
Er schüttelte ärgerlich den Kopf.
„Darüber wüsste ich auch gern etwas mehr, das kannst du mir glauben.“
„Wie soll ich denn das verstehen?“
Matt stand auf und trat ans Fenster des Sprechzimmers, die Hände tief in den Taschen seiner Hose vergraben.
„Marina hatte mich an jenem Abend zum Essen eingeladen. Sie wollte endlich die Vergangenheit begraben und Frieden schließen. Um der alten Zeiten willen habe ich die Einladung angenommen, nicht mehr und nicht weniger.“
Während er erzählte, lehnte sich Suki zurück und lauschte aufmerksam seinen Worten, ohne ihn zu unterbrechen. Er selbst spürte zu seiner eigenen Überraschung, dass es ihm guttat, über jene merkwürdige Nacht, die er in der Wohnung seiner Ex-Frau verbracht hatte, zu sprechen. Als er fertig war, atmete Suki tief durch und blickte ihn prüfend an.
„Und du findest es nicht etwas eigenartig, dass du dich nach einem einzigen Glas Champagner plötzlich an nichts mehr erinnern kannst? Immerhin habt ihr in dieser Nacht ein Kind gezeugt!“
Matt starrte sie irritiert an. Hatte ihm Anni nicht genau die gleiche Frage gestellt?
„Was willst du damit sagen?“
„Gar nichts. Du kennst dich selbst am besten. Und wenn du irgendwelche Zweifel an der ganzen Sache hast, dann lass einen Vaterschaftstest machen. Mehr darf ich dazu nicht sagen. Aber du solltest gut darüber nachdenken.“ Sie griff nach ihrem Rezeptblock und schrieb etwas auf. Mit den Worten „Hier sind ein paar Vitamine, die deinem angegriffenen Nervenkostüm guttun werden“ erhob sie sich und drehte wie nebenbei den Bildschirm des Computers in seine Richtung. „Warte bitte noch einen Augenblick. Ich möchte zum Abschluss eine Blutanalyse machen lassen. Nur um sicher zu gehen, das dir auch wirklich nichts fehlt. Die Schwester wird in ein paar Minuten da sein, um dir etwas Blut abzunehmen. Morgen ist die Analyse fertig.“ Sie lächelte irgendwie eigenartig und bedachte ihn mit einem letzten bedeutungsvollen Blick, als sie ihm zum Abschied die Hand reichte. „Danke für deine Offenheit, Matt. Und vergiss dein Rezept nicht.“
Matt sah Suki nach, als sie den Raum verließ. Was hatte sie mit all ihren Fragen bezweckt? Es schien fast so, als zweifelte sie Marinas Schwangerschaft an. Aber sie war ihre Ärztin, sie musste es doch besser wissen!
Nachdenklich griff er nach dem Rezept auf dem Schreibtisch, als er plötzlich mitten in der Bewegung innehielt. Erstaunt beugte er sich vor und sah genauer auf den ihm zugewandten Bildschirm des PC.
„Marina Cortez- Shelton“ stand ganz oben auf der aktuell aufgerufenen virtuellen Krankenakte.
Marinas Krankenakte? Hatte Suki die Daten seiner Ex-Frau versehentlich aufgerufen?
Oder...
Er schielte nach der Tür.
´Die Schwester kommt in ein paar Minuten, um dir etwas Blut abzunehmen´, hatte Suki gesagt. Ein paar Minuten...
Entschlossen begann er zu lesen.
´Meine Güte´, dachte er, während er neugierig in den ärztlichen Aufzeichnungen weiterscrollte. ´Wonach suche ich hier eigentlich? ´
In diesem Augenblick fiel ihm etwas auf, das mit roter Schrift unterlegt war. „Rücksprache mit Dr. Mendes wegen voraussichtlichem Geburtstermin“ stand da deutlich lesbar. Darunter in Klammern: „Medizinisch errechneter Termin sowie Ultraschall- Ergebnis weicht um mindestens acht Wochen von dem Termin ab, den die Patientin angegeben hat.“
Er stutzte.
Es kam doch nur der eine Termin in Frage, wieso sagten die Untersuchungen und der Ultraschall etwas Anderes aus? Marina konnte sich nicht irren! Mindestens acht Wochen? Das war unmöglich! Es sei denn...
Matt durchfuhr es eiskalt.
Er schloss die Akte per Mouse Klick und sprang auf. An der Tür wäre er fast mit der Schwester zusammengeprallt, die mit den nötigen Utensilien hereinkam, um ihm Blut abzunehmen.
„Das müssen wir auf später verschieben. Ich habe einen dringenden Termin“, erklärte er hastig und war Sekunden später verschwunden. Kopfschüttelnd sah die Krankenschwester ihm nach.
„Immer dasselbe mit den Männern. Kaum sehen sie eine Spritze, laufen sie plötzlich davon wie die aufgescheuchten Hasen!“
*
Ein Gefühl unbändiger Sehnsucht überkam Danielle, als sie vom Highway nach Sunset City abbog und den vertrauten Namen der kleinen Stadt auf dem Ortseingangsschild las. Unwillkürlich musste sie daran denken, als sie damals zusammen mit der ganzen Crew hier angekommen war. Mitch hatte seinen alten Chevy genau vor diesem Schild gestoppt.
„Hey Leute! Seid ihr bereit?“
„Yeah...!“, riefen alle, trotz ihrer Müdigkeit in bester Laune.
Und Mitch war es auch gewesen, der bereits im Flugzeug ein wenig Schicksal gespielt hatte.
„Auf jeden Fall habe ich ihm gesagt, wenn er dich wiedersehen möchte, soll er sich bei mir melden.“, hatte er Danielle später verraten. Sie war total überrascht gewesen.
„Du hast... was? Hey, das hättest du nicht tun sollen!“
„Oh doch.“, hatte er genickt und ihr spontan einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange gedrückt. „Mein Gefühl sagt mir, dass ich genau das Richtige getan habe.“
Danielle lächelte in Erinnerung an diese Unterhaltung still vor sich hin, während sie bereits in die Ocean Avenue einbog. Im Grunde war sie Mitch damals unendlich dankbar gewesen, denn dank seiner Eigenmächtigkeit hatte es für sie eine kleine Chance gegeben, diese tiefblauen Augen wiederzusehen, die sie so sehr beeindruckt hatten. Und dann, wie durch ein Wunder, waren sie sich wirklich ein zweites Mal begegnet, hier in Sunset City, der Stadt, von der die Legende behauptete, die Liebe habe sie erschaffen.
Danielle passierte die letzte Kurve, als vor ihr bereits Matts Haus auftauchte. Ein vertrautes Bild, das ihr Herz sofort schneller schlagen ließ. Plötzlich wurde sie von einem tiefen Glücksgefühl erfasst. Vielleicht gab es ja doch ein Schicksal! Und vielleicht würde sich letztlich alles zum Guten wenden!
Was so traumhaft begonnen hatte, konnte doch nicht einfach so enden!
„Sei zu Hause, bitte Matt, sei zu Hause“, murmelte sie inbrünstig, als sie mit zitternden Knien an der Ocean Avenue 1303 ausstieg und zum Eingang hinüberging. Sie blieb einen Augenblick andächtig vor dem Haus, das fast schon ihr Zuhause gewesen war, stehen, bevor sie zögernd die Hand ausstreckte und den Klingelknopf drückte.
Doch in diesem Falle schien das Schicksal sie nicht zu erhören. Im Haus rührte sich nichts, alles blieb still. Vergeblich lauschte sie auf die vertrauten Schritte hinter der Tür. Nervös sah sie zur Uhr. Sollte Matt um diese Zeit bereits in der Firma sein? Oder hatte er die Nacht wieder auf Paradise Island verbracht?
Oder...
Leider gab es da noch eine weitere Möglichkeit. Der Gedanke daran durchfuhr sie wie ein Stromschlag. Sie drehte sich um, stieg in den Wagen und fuhr los, geradewegs zum Ocean Drive.
Wenn Matt bei Marina übernachtet hatte, dann wollte sie das wissen.
*
„Matt!“
Erstaunt öffnete Marina die Tür zu ihrer Wohnung und ließ ihn eintreten.
„Was tust du denn um diese Zeit hier?“
„Ich war gerade auf dem Weg ins Büro, und da wollte ich einfach mal sehen, wie es dir und dem Baby geht.“ Er sah an ihr vorbei in die Wohnung. „Darf ich kurz hereinkommen, oder störe ich?“
„Nein, du störst überhaupt nicht, im Gegenteil!“ Hastig trat sie beiseite und ließ ihn eintreten. „Möchtest du etwas trinken?“
„Ein Glas Champagner vielleicht“, erwiderte er sarkastisch, worauf sie ihn erschrocken anblickte.
„Champagner? Entschuldige bitte, aber ich habe keinen Alkohol im Haus.“
„Ist schon okay, das sollte auch nur ein Scherz sein. Also, wie geht es dir, beziehungsweise euch beiden?“
„Es geht uns hervorragend“, erwiderte Marina und lächelte. „Morgen will Dr. Yamada noch einen Ultraschall machen, und vielleicht sagt sie mir sogar schon, was es werden wird.“
„Möchtest du es denn wissen?“, fragte Matt.
Marina sah ihn mit großen Augen an.
„Ich weiß nicht. Und du?“
„Eigentlich ist es egal, was es wird, Junge oder Mädchen, Hauptsache gesund und kräftig.“ Er musterte Marina aufmerksam, wie sie dort am Tisch stand und die Hände nervös auf der Stuhllehne ineinander knetete. Sie wirkte etwas unruhig, fast nervös. Das helle Shirt, das sie an diesem Morgen trug, spannte bereits deutlich um ihre Brüste und vor allem um die Taille. Marina folgte seinem Blick und legte in einer Art Schutzreaktion ihre Hände auf den Bauch.
„Dr. Yamada sagt, bisher entwickelt sich das Baby ganz normal.“
Seine prüfenden Blicke beunruhigten sie. Was wollte er wirklich hier?
Trieb ihn sein schlechtes Gewissen her, oder sehnte er sich plötzlich doch nach einem Zusammenleben mit ihr und dem Baby?
Hoffnungsvoll lächelte sie ihn an.
„Möchtest du vielleicht mit mir... mit uns frühstücken?“
„Nein danke, ich muss wieder los.“
Matt wandte sich wieder zur Tür, doch nach kurzer Überlegung drehte er sich um und trat dicht an sie heran. Erwartungsvoll, aber auch ein wenig misstrauisch sah Marina ihn an.
„Darf ich?“, fragte er zögernd und wies auf ihren Bauch.
Ein freudiges Lächeln zog über ihr Gesicht.
„Natürlich.“
Vorsichtig legte er seine Hand auf die bereits deutlich erkennbare Wölbung ihres Bauches.
„Das wird ein strammer Bursche“, sagte er anerkennend.
„Wie kommst du darauf?“, fragte Marina erstaunt.
„Nun, für Anfang des vierten Monates scheint das Baby schon beachtlich gewachsen.“
Schien es ihm nur so, oder war Marina bei seinen Worten einen Schein blasser geworden?
„Ja weißt du, das ist bei jeder Frau anders“, erwiderte sie, etwas zu hastig für seine Begriffe. „Einige bleiben in den ersten Monaten noch recht schlank, bei anderen wiederum bemerkt man die Schwangerschaft gleich von Anfang an. Allem Anschein nach gehöre ich zur letzteren Kategorie.“
Matt nickte und trat einen Schritt zurück.
„Irgendwie ist es schon mehr als nur eine Ironie des Schicksals“, meinte er mit einem bitteren Lächeln.
„Was meinst du?“, fragte Marina unsicher.
„Nun, damals habe ich mir nichts mehr gewünscht, als eine Kind mit dir zu haben. Und ausgerechnet in einer Nacht, an die mir jegliche Erinnerung fehlt, soll dieser Wunsch sich jetzt erfüllt haben.“
Marinas Herzschlag drohte einen Augenblick lang auszusetzen, doch nach ein paar Sekunden hatte sie sich wieder unter Kontrolle.
„Es kann noch alles gut werden, Matt“, sagte sie beschwörend. „Du und ich und das Baby, wir können die Familie sein, die du dir immer gewünscht hast.“
„Nein“, erwiderte er entschlossen und machte damit ihren neuen Hoffnungsschimmer zunichte. „Ich werde mich nicht vor der Verantwortung drücken, Marina. Ich werde für dich und unser Kind sorgen. Aber eine Familie, wie du sie dir vorstellst, werden wir niemals sein.“
*
Als Danielle ein paar Minuten später in den Ocean Drive einbog, stellte sie erleichtert fest, dass Matts Wagen nicht, wie erwartet, vor Marinas Haus stand. Dann war er also doch nicht hier gewesen!
Trotzdem parkte sie zunächst zwei Häuser weiter und überlegte, was sie tun sollte. Ihn auf seinem Handy anrufen? Nein, das war zu unpersönlich. Sie mussten unbedingt miteinander reden, aber auf gar keinen Fall am Telefon.
Einfach zur Firma fahren? Ja, das wäre wohl am sinnvollsten. Wenn er wirklich die Nacht auf Paradise Island verbracht hatte, dann würde er sicher bald in seinem Büro sein.
Danielle lächelte verträumt. Sie würde Ronda bitten, sie nicht anzumelden, sondern einfach zu ihm hineingehen. Zugegeben, er würde bestimmt total überrascht sein, aber dann würde er lächeln, dieses Lächeln, das sie so vermisst hatte, und er würde leise und zärtlich ihren Namen sagen, während er aufstand und schnellen Schrittes auf sie zukam, um sie endlich wieder in die Arme zu schließen...
Während bei diesen Gedanken die totgeglaubten Schmetterlinge in ihrem Bauch zu neuem Leben zu erwachen schienen, hatte Danielle mit einem Mal das sichere Gefühl, genau das Richtige zu tun, als sie nach dem Zündschlüssel griff, um den Wagen zu starten.
Mitten in der Bewegung hielt sie plötzlich inne, und ihr Herzschlag drohte auszusetzen, als sie sah, wie sich die Tür von dem Haus öffnete, in dem Marina wohnte.
Seinen Aktenkoffer in der Hand trat Matt heraus und sah sich kurz um, bevor er schnellen Schrittes zielstrebig den Weg zur Firma einschlug...