Matt wusste nicht, wie lange er schon dort oben auf den Klippen gestanden hatte. Der bevorstehende Sonnenuntergang tauchte den Platz, der vor langer Zeit einmal sein Lieblingsplatz gewesen war, in ein märchenhaft goldenes Licht. Doch dafür hatte er heute keinen Blick. Weder spürte er den lauen Abendwind auf seinem Gesicht, noch nahm er das unmittelbar vor ihm liegende, atemberaubende Panorama aus Himmel, Meer und der weit unter den Felsen malerisch daliegenden Stadt wahr. Die Hände tief in den Hosentaschen vergraben lehnte er an einer der uralten Akazien, starrte vor sich hin und hing seinen Gedanken nach, die sich allesamt um seinen Bruder drehten, und immer wieder neue düstere Erinnerungen an Mason mit seinen nie enden wollenden Gemeinheiten heraufbeschworen. Dazu hallten die Worte von Dr. Pares und John O`Malley in seinem Gedächtnis wider:
„…solch eine schwere Operation birgt immer ungeahnte Risiken. Eines davon wäre eine totale oder eine Teilamnesie, das heißt, Ihr Bruder könnte sich an gar nichts oder nur an bestimmte Lebensabschnitte zurückerinnern. Oder er erinnert sich an alles und kann sich sein Verhalten nicht erklären. Vielleicht benimmt er sich aber auch genauso wie vorher. Das bedeutet, dass man ihn therapieren müsste, um seine Persönlichkeitsstruktur wieder in normale Bahnen zu lenken... Er war krank… Es ist alles möglich... Die Natur geht manchmal eigenartige Wege… Denken Sie in Ruhe über alles nach, vielleicht können Sie irgendwann verzeihen… Sie sollten Danielle nicht unterschätzen. Sie kann mehr verkraften, als Sie glauben… “
Plötzlich riss ihn das Geräusch von knirschendem Kies jäh aus seinen Gedanken. Sein Herzschlag drohte auszusetzen, als Bruchteile von Sekunden später eine Bewegung hinter ihm in sein Bewusstsein drang und er unmittelbar darauf eine Hand auf seiner Schulter spürte. Zutiefst erschrocken durch die unerwartete Berührung fuhr er herum. Als er jedoch sah, wem er gegenüber stand, verschwand die Anspannung schlagartig aus seinem Gesicht.
„Danielle! Woher wusstest du...“, begann er fassungslos, doch sie legte lächelnd einen Finger auf seine Lippen.
„Keine Ahnung, es war nur so eine Vermutung“, flüsterte sie, glücklich ihn gefunden zu haben. „John hat mich hergefahren. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, und als er aus der Klinik kam und mir erzählte, wie durcheinander du nach deinem Gespräch mit Dr. Pares gewesen bist, habe ich ihn gebeten, mich herzufahren. Als ich eben deinen Wagen an der Straße sah, wusste ich, dass meine Vermutung, dich hier zu finden, richtig war, also schickte ich ihn zurück.“
„Ich bin froh, dass du da bist.“
Sie sah ihn prüfend an.
„Du weißt also von Mason?“
Er nickte.
„Ja, Dr. Pares hat mir alles genau erklärt.“
„Und… Was wirst du nun tun? Vorausgesetzt, Mason wacht überhaupt wieder auf.“
„Ich weiß es nicht. Er hat so vielen Menschen geschadet. Menschen, die mir eine Menge bedeuten.“
„Ja, das hat er.“
„Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. In meinem Kopf ist ein einziges Durcheinander.“
Danielle wandte sich ab und starrte aufs Meer hinaus. Sie dachte daran, wie Mason sie aus den Bergen entführt und in seinem Haus gefangen gehalten hatte. Als wäre es gestern gewesen, sah sie ihn mit der Spritze in der Hand vor dem Bett stehen. Sie fröstelte bei dem Gedanken an die panische Angst, die sie damals ergriffen hatte.
Damals... Alles, was vor der Operation geschehen war, zählte dazu und war somit Vergangenheit.
Sie atmete tief durch und straffte die Schultern.
„Das ist jetzt vorbei, Matt“, sagte sie entschieden und sah ihn wieder an. „Mason wird niemandem mehr wehtun. Er ist dein Bruder. Und wenn du ihm irgendwann verzeihen kannst, dann werde ich es auch versuchen.“
Matt sah sie einen Augenblick lang überrascht an, während ihm Johns Worte von vorhin in den Sinn kamen:
„Sie sollten Danielle nicht unterschätzen. Sie kann mehr verkraften, als Sie vermuten.“
„Du bist unglaublich“, sagte er bewundernd. „Und ich kann noch immer kaum fassen, dass du mir hierher gefolgt bist.“
Er hob die Hand und strich ihr zärtlich eine Haarsträhne aus der Stirn, während ihre Blicke miteinander verschmolzen.
„Du hast mir irgendwann einmal von diesem Ort erzählt, erinnerst du dich?“, sagte Danielle leise. „Hoch oben auf den Klippen über Sunset City, der Platz, an dem du dich früher immer mit Marina getroffen hast. Du warst nie mit mir hier, aber ich ahnte trotzdem, wo du in diesem Moment sein würdest. Hier treffen sich Vergangenheit und Gegenwart.“ Sie zögerte und sah ihn mit großen Augen fragend an. „Sei bitte ehrlich, Matt... Ist da auch ein Platz für die Zukunft?“
Von einem Augenblick auf den nächsten durchflutete ihn ein wohliges Gefühl von Wärme und Zuneigung. Erneut spürte er mit allen Sinnen, wie schmerzlich er sie die ganze Zeit vermisst hatte. Er schlang seine Arme um sie und zog sie fest an sich, so als wolle er sie nie wieder loslassen.
„Ich liebe dich, Danielle. Du bist meine Zukunft. Egal, was auch immer heute, morgen oder irgendwann passiert, ich möchte es mit dir erleben. Niemals wieder werde ich zulassen, dass dir irgendwer so wehtut, wie es mein Bruder getan hat, das schwöre ich dir.“
Während sich tief unter ihnen weiterhin die schäumenden Wellen an den Felsen brachen, um in Form von unzähligen, winzig kleinen Wassertröpfchen ihren Weg zurück in den endlosen Ozean zu finden, legte Danielle ihren Kopf an Matts Schulter, spürte seine Wärme und fühlte sich das erste Mal seit Wochen wieder geborgen.
Langsam färbte sich der Himmel über den Klippen glutrot, ein Zeichen dafür, dass sich ein ereignisreicher Tag seinem Ende näherte.
„Komm mit“, sagte Matt irgendwann und nahm kurzentschlossen ihre Hand, um sie mit sich fortzuziehen. „Lass uns dahin gehen, wo für uns alles angefangen hat.“
Sie lachte.
„Wie willst du denn so schnell in achttausend Meter Höhe über den Pazifik gelangen?“
Er verharrte und blinzelte ihr bedeutungsvoll zu.
„Dort oben sind wir uns zum ersten Mal begegnet, du und ich, das ist wahr. Aber wirklich angefangen hat es mit uns an einem anderen Ort. Komm schon, beeil dich, bevor die Sonne ganz untergeht!“
*
Cynthia Rodriges stand da, von Kopf bis Fuß perfekt gestylt, in einem eleganten kirschroten Kostüm von Dior, ein dazu passendes Ledertäschchen lässig unter den Arm geklemmt und lächelte strahlend.
„Edward… Wie ich hörte, hat man Sie endlich wieder entlassen! Die Ermittler sollten sich wirklich schämen. Diese ganze Aktion war eine unnötig peinliche und völlig überflüssige Sache.“
„Cynthia“, murmelte er entgeistert. „Was wollen Sie?“
„Nun“ Sie warf einen kurzen vorsichtigen Blick nach allen Seiten, um unerwünschte Lauscher auszuschließen und lächelte dann unbeirrt weiter. „Sagen wir mal so, ich bin hier, weil ich eventuell dafür sorgen könnte, dass Sie nie wieder dahin zurück müssen, wo Sie heute hergekommen sind.“
Edwards Gesicht verfinsterte sich zusehends.
„Was zum Teufel soll dieses alberne Geschwätz! Was sollten Sie schon tun können? Wollen Sie etwa den Staatsanwalt bestechen?“
„Schsch…“ Warnend legte sie den Zeigefinger an die rotgeschminkten Lippen. „Nein, mein Lieber. Selbst wenn ich das könnte, würde ich einen anderen Weg wählen.“
„Und der wäre?“
Sie musterte ihn mit dem überlegenen Blick einer Frau, die sich ihrer Sache sicher war.
„Vielleicht sollten Sie mich erst einmal hereinbitten und mir ein paar Minuten Ihrer kostbaren Zeit widmen. Mein Angebot wird Sie garantiert interessieren.“
Edward überlegte einen Augenblick angestrengt. Er mochte Cynthia nicht besonders, weder als unerwünschte Teilhaberin, noch als Frau, denn als solche erschien sie ihm viel zu emanzipiert. Aber das tat momentan nichts zur Sache. Sie hatte sich in der kurzen Zeit, seitdem sie in der Firma tätig war, als überaus clevere Geschäftsfrau erwiesen, und vielleicht tat er gut daran, sich anzuhören, was auch immer sie ihm vorzuschlagen hatte. In seiner gegenwärtigen Situation musste er für jede Hilfe dankbar sein, dessen war er sich leider voll bewusst. Also trat er widerwillig beiseite und ließ sie ein.
Sophia bemühte sich angesichts des unerwarteten Gastes um ein verbindliches Lächeln, obwohl auch sie über Cynthias Erscheinen keineswegs sehr erfreut war.
„Oh, was für eine nette Überraschung, meine Liebe! Was führt Sie zu uns?“
„Ich entschuldige mich für diesen späten Überfall“, erwiderte Cynthia mit jener kühlen Freundlichkeit, über die sich Sophia bereits auf der Party insgeheim geärgert hatte. „Ich würde Ihren Mann gerne einen Augenblick unter vier Augen sprechen. Es handelt sich um eine wirklich dringende rein geschäftliche Angelegenheit, und ich verspreche, dass ich mich so kurz wie möglich fassen werde.“
„Wir gehen in mein Arbeitszimmer“, knurrte Edward unwirsch, bevor Sophia zu antworten vermochte. Mit einer Miene, die nichts Gutes verhieß, wies er Cynthia den Weg. „Hier entlang.“
Sophia stand einen Augenblick lang wie versteinert. Was nahm sich diese anmaßende Person eigentlich heraus?
Kurz entschlossen folgte sie den beiden und lauschte neugierig an der Tür zu Edwards Arbeitszimmer, doch sie musste frustriert feststellen, dass sie kein Wort von dem verstehen konnte, was dahinter gesprochen wurde. Wütend rauschte sie hinauf in ihr Schlafzimmer und warf die Tür hinter sich zu.
Edward hatte ihr versprochen, dass er diese Rodriges sehr bald loswerden würde. An dieses Versprechen musste sie ihn unbedingt erinnern.
*
Während sich Cynthia in einen der gut gepolsterten Clubsessel setzte und die langen, schlanken Beine gekonnt übereinander schlug, trat Edward zur Bar und nahm eine Flasche heraus.
„Cognac, Cynthia?“
„Gerne“, erwiderte sie, lehnte sich scheinbar entspannt zurück und wartete geduldig, bis er ihr den Drink reichte und sich ihr gegenüber niederließ.
„Nun, ich höre? Um was für ein Angebot handelt es sich?“
„Es ist mir zu Ohren gekommen, dass jemand eine beachtlich hohe Kaution gezahlt hat, damit man Sie heute aus der Untersuchungshaft entließ“, begann sie, während sie das Glas leicht hin und her bewegte und scheinbar interessiert beobachtete, wie die goldgelbe Flüssigkeit das einfallende Licht reflektierte.
Unwillig zog Edward die Augenbrauen zusammen.
„Darf ich fragen, was Sie das angeht?“
Cynthia hob leicht die Augenbrauen und bedachte ihn über den Rand des Glases hinweg mit einem prüfenden Blick.
„Kautionen in dieser Höhe werden normalerweise nur gestellt, wenn der Betreffende ein wirklich wichtiger Mann ist, der... nun sagen wir... einiges zu verlieren hat. Und das haben Sie, nicht wahr, mein Lieber?“
„Woher...“
„Ich habe meine Quellen.“ Sie nippte an ihrem Drink und stellte das Glas dann vor sich auf den Tisch, während sie Edward eindringlich musterte.
„Man wird Sie diesmal drankriegen, soviel ist sicher. Doch Sie wollen um keinen Preis ins Gefängnis, habe ich Recht?“
Er starrte sie finster an, und in seinem Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander. Cynthia wusste anscheinend mehr, als ihm lieb war. Er sollte sich auf jeden Fall anhören, was sie zu sagen hatte. Sie lag mit ihrer Vermutung verdammt richtig, er hatte nichts zu verlieren, diesmal nicht.
„Ich bin ganz Ohr.“
„Okay.“ Zufrieden lächelnd lehnte sie sich zurück. „Haben Sie schon einmal von der Firma CASTILLO CORPORATIONS gehört?“
*
Sie waren mit dem Auto hinunter in die kleine Stadt gefahren und standen eng umschlungen im märchenhaften Licht der untergehenden Sonne draußen auf dem Pier, dort, wo der Himmel das Meer berührte und die Legende von Sunset City manchmal Wirklichkeit wurde. Für Matt und Danielle jedenfalls schien sie sich zu erfüllen. Im gleißenden Rot des Sonnenunterganges sahen sie einander in die Augen und nahmen das bunte Gewimmel von unzähligen Touristen, die sich genau wie sie um diese Zeit an dem herrlichen Schauspiel der Natur erfreuten, gar nicht wahr.
„Hier hat alles richtig begonnen, in jener Nacht, als wir uns wiederbegegnet sind“, raunte Matt und zwinkerte ihr zu. „Obwohl ich zugeben muss, dass ich bereits im Flieger von dir fasziniert war. Aber hier auf dem Pier, als du mir von deiner geplatzten Hochzeit erzählt hast, und davon, wie du Brendon einfach vor dem Traualtar hast stehen lassen, da wusste ich plötzlich, dass es für mich einen Neuanfang geben könnte – mit dir.“
Sie lächelte versonnen.
„Becky hat mir genau an diesem Tag von der Legende erzählt, an die die Einwohner von Sunset City glauben. Dass der Mensch, dem man nach Sonnenuntergang als erstem am Ende des Piers begegnet, für einen bestimmt sein soll. Und dann warst du plötzlich da. Es war fast wie Magie.“
Er lachte.
„Magie, bei der Mitch ein wenig nachgeholfen hatte. Dafür werde ich diesem Teufelskerl ewig dankbar sein.“
Der Sonnenball war bereits fast ganz am Horizont verschwunden, als beide Hand in Hand über den Pier zurück zur Strandpromenade schlenderten, hinüber zu Matts Haus, hinter dem er vorhin seinen Wagen geparkt hatte.
Dort blieben sie stehen und Matt sah Danielle etwas unschlüssig an.
„Möchtest du zurück nach Hause?“, fragte er zögernd, um sie zu nichts zu drängen. Sie sah ihn mit großen Augen an.
„Du meinst nach Venice? Oh nein. Venice ist nur eine vorübergehende Bleibe, aber niemals mein Zuhause.“
Er zog sie dicht zu sich heran.
„Und, wo fühlst du dich zu Hause?“
Sie blinzelte verschmitzt.
„Noch so eine dumme Frage, Matthew Shelton, und ich ziehe sofort wieder bei Mitch ein.“
„Das werde ich verhindern!“
Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte er sie schwungvoll auf seine Arme genommen und trug sie zum Eingang seines Hauses. Vor der Tür setzte er sie ab, beugte sich zu ihr herunter und begann unvermittelt damit, sie voller ungeduldiger Leidenschaft zu küssen. Als hätte sie nur darauf gewartet erwiderte Danielle seinen Kuss mit all der Sehnsucht, die sich in den vergangenen Wochen tief in ihrem Herzen aufgestaut hatte.
Hungrig suchten sich ihre Lippen, während sie sich beide dicht aneinanderdrängten und sich schließlich eng umschlungen in den Armen hielten, als wollten sie sich niemals wieder loslassen.
Danielle stöhnte leise auf, als sich Matts Hand zielstrebig ihren Rücken hinauf tastete und sich schließlich in ihren seidigen, braunen Locken vergrub, während die andere den eher umgekehrten Weg einschlug und ihr fast den Atem nahm.
„Willkommen zu Hause, Liebling“, raunte er zwischen seinen Küssen. „Findest du nicht, dass es sinnvoller wäre, wenn wir...?“
„...hineingehen?“, vollendete Danielle die Frage mit einem verklärten Lächeln. „Ich habe schon befürchtet, du würdest nie fragen!“
*
Eine ganze Weile, nachdem Cynthia gegangen war, saß Edward noch immer regungslos an seinem Schreibtisch, den Kopf in die Hände gestützt und düster vor sich hinstarrend, während seine Gedanken fieberhaft arbeiteten.
Das Angebot, dass sie ihm soeben unterbreitet hatte, war mehr als verlockend. Es bedeutete Freiheit, Unabhängigkeit, Reichtum und Macht. Aber wenn er es annahm, würde er einen sehr hohen persönlichen Preis dafür zahlen müssen.
Cynthia war unglaublich clever, das musste er zugeben. Er hatte sie unterschätzt. Oder besser gesagt, er war in der letzten Zeit zu sehr mit sich selbst und seinen Problemen beschäftigt gewesen, als dass er auf den Gedanken gekommen wäre, die neue Teilhaberin so genau zu durchleuchten, wie er das ansonsten mit jedem neuen Mitarbeiter zu tun pflegte. Ein unverzeihlicher Fehler, der ihm unter anderen Umständen leicht den Kopf hätte kosten können.
Und Cynthia Rodriges schien sich ihrer Sache absolut sicher zu sein…
„Ich habe von Anfang an hart für diese Firma gearbeitet, ich war zuverlässig, umsichtig und bedingungslos loyal“, hatte sie ihm mit ruhiger, fester Stimme erklärt. „Ich war die Beste, und Joanna Castillo wusste das zu schätzen. Doch dann ist sie leider ganz plötzlich verstorben. Ich blieb in der Firma und arbeitete fortan für den Mann, den Joanna kurz vor ihrem Tod geheiratet hatte. Jetzt weiß ich, dass er meine Loyalität schamlos ausgenutzt hat. Schlimmer noch, er hat mich skrupellos dazu benutzt, seine zwielichtigen Geschäfte abzuwickeln.“ Cynthia atmete tief durch und straffte die Schultern. „Aber ich lasse mich nicht benutzen! Von niemandem!“
„Und was hat das alles mit mir zu tun, Teuerste?“, hatte Edward ungeduldig gefragt. Sie beugte sich vor, und ihre Augen funkelten wie die einer Wildkatze auf Beutezug, während sie ihn aufmerksam fixierte.
„Ich bin sicher, dass Joanna Castillos Tod kein Zufall war. Leider kann ich das nicht beweisen. Aber dennoch hat Mister Castillo einen entscheidenden Fehler gemacht.“
„Und welchen?“
„Er hat mich unterschätzt. Ich bin nicht die dumme kleine Assistentin, die gottergeben ihre Arbeit leistet, und die man nach Belieben benutzen kann wie einen primitiven Lakaien. In den vielen Jahren habe ich einflussreiche Verbindungen geknüpft, die mir jetzt von Nutzen sein werden.“
Edward nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas. Der Cognac brannte in seiner Kehle.
„Was genau wollen Sie, Cynthia?“
In ihren dunklen Augen loderte ein gefährliches Feuer.
„Ich will, dass Mason Castillo alles verliert, was er besitzt. Seine Existenz, die Firma, sein Haus in Caracas, jeden Cent... Alles!“
„Sie wollen also die Firma vernichten?“
„Nein, die Firma soll dabei keinen Schaden nehmen, im Gegenteil. Nur ihr derzeitiger Besitzer. Und Sie werden mir dabei helfen.“
Edward spürte, wie er wider Willen eine Gänsehaut bekam. Eine Frau, die so viel Hass in sich trug, wie Cynthia das anscheinend tat, durfte man keinesfalls unterschätzen.
„Warum sollte ich das tun?“, erkundigte er sich vorsichtig.
„Dafür gibt es zwei gute Gründe, Edward“, erwiderte sie gelassen. „Erstens: Sie lieben Macht und Reichtum genauso sehr wie ich. Clever geführt wirft CASTILLO CORPORATION genug Gewinn für uns beide ab.“ Sie machte eine Pause und nippte ebenfalls an ihrem Cognac, ohne ihr Gegenüber jedoch dabei aus den Augen zu lassen.
„Und der zweite Grund?“, fragte Edward, der sich unter ihrem Blick leicht unbehaglich zu fühlen begann. Cynthia lächelte verhalten.
„Ganz einfach. Wir beide sitzen im selben Boot. Ihr Thron in Sunset City wackelt bereits, und es ist mehr als fraglich, ob Sie Ihre Freiheit behalten werden, die Ihnen so viel bedeutet. Ich für meinen Teil habe auch nichts zu verlieren. Aber ich will meine Rache und den Platz in der Firma, den ich mir rechtmäßig erarbeitet habe. Mit Ihrer Skrupellosigkeit und Ihrem Privatkapital, sowie meinen Verbindungen und dem detaillierten Insider-Wissen über CASTILLO CORPORATIONS gehört uns beiden im Handumdrehen bald die mächtigste Firma an der Küste Venezuelas.“
Edward schluckte. Das hörte sich verdammt nochmal gar nicht so schlecht an.
„Was wissen Sie über diesen... Castillo?“ fragte er interessiert.
Cynthia lächelte geheimnisvoll.
„Genug, um ihn zu vernichten.“
„Erzählen Sie mir mehr.“
Ihre Augen verengten sich.
„Alles zu seiner Zeit. Erst will ich eine klare Entscheidung von Ihnen!“
Er zog die Stirn in Falten.
„Unterschätzen Sie mich nicht, Cynthia. Ich kaufe keine Katze im Sack.“
„Und ich kann es mir nicht leisten, unvorsichtig zu sein. Sobald Sie bereit sind, mich bei meinen Plänen zu unterstützen, werden Sie alles erfahren.“
Nun hockte er hier, vor der wahrscheinlich schwersten Entscheidung seines Lebens. Und er musste sie sofort treffen, denn die Zeit saß ihm im Nacken.
Pässe für ihn und Sophia, ein Flugzeug, das sie problemlos außer Landes bringen würde, eine neue Identität und eine mächtige Firma, die er sich nur mit Cynthia teilen musste... Das war die positive Seite.
Über die negative mochte er momentan gar nicht nachdenken.
Cynthia hatte ihm bis eine Stunde vor Mitternacht Bedenkzeit gegeben, dann wollte sie ihn erneut kontaktieren. Und erst, wenn er hundertprozentig zustimmte, würde er genauere Details erfahren.
Genau genommen blieb ihm keine Wahl. Er wusste, was ihn hier in Sunset City erwartete. Er hatte zu hoch gepokert und würde alles verlieren, wenn er weiterhin nur dasaß und abwartete. Alles, einschließlich seiner Freiheit.
„Edward?“
Erschrocken fuhr er herum.
Sophia stand im Türrahmen und musterte ihn fragend.
„Was ist los? Was wollte diese Person von dir?“
Edward starrte seine schöne Frau lange und eindringlich an, bevor er antwortete.
„Es könnte durchaus sein, dass diese Person, wie du sie so abfällig nennst, momentan der einzige Mensch in unserem Leben ist, der uns den Weg aus dieser derzeitigen Misere in eine sorgenfreie Zukunft sichern kann.“
Sophia schüttelte ungläubig den Kopf.
„Was redest du denn da?“
„Pack die wichtigsten Sachen ein“, erwiderte Edward ungerührt und atmete tief durch. „Wir verreisen.“
„Jetzt? Aber wohin denn, um Gottes willen?“
„In ein neues Leben.“
Schockiert riss Sophia die Augen auf und trat einen Schritt zurück.
„Ja aber… ich will Sunset City nicht verlassen!“
„Du willst also stattdessen riskieren, dass ich wieder ins Gefängnis muss? Für sehr lange Zeit?“
„Meine Güte, nein!“
„Dann geh jetzt und pack die Koffer.“
„Und unsere Kinder?“
„Die sind beide erwachsen. Corey braucht uns schon lange nicht mehr, und Caroline hat uns in den letzten Wochen mehr als deutlich gezeigt, dass sie auch ohne uns bestens klarkommt. Es ist Zeit, dass wir an uns selbst denken.“
Mit zwei Schritten war Sophia am Schreibtisch. Eindringlich sah sie ihren Mann an.
„Was hast du vor?“
„Ich erkläre es dir später. Je weniger du momentan weißt, desto besser.“
„Edward, du machst mir Angst!“
Er sah die Furcht in ihren Augen, aber er durfte jetzt keine Rücksicht nehmen.
„Sophia... Ich weiß, ich muss ins Gefängnis, wenn ich hierbleibe. Und das will ich auf keinen Fall. Also gibt es nur diese eine Möglichkeit.“
Die Erkenntnis traf Sophia wie ein Keulenschlag.
„Flucht?“, hauchte sie leise.
Er nickte.
„Ja, genau.“
„Ich... ich muss erst mit Cary reden!“
„Ich werde ihr ein paar Zeilen schreiben.“
Sophia griff sich an die Stirn, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
„Edward, Caroline und Dean verlieren das OCEANS, wenn du das Land verlässt!“
„Es war mir sowieso zuwider, dass meine Tochter in einer schäbigen Bar hinterm Tresen stehen und andere Leute bedienen muss. Ich werde ein Schriftstück aufsetzen, in dem ich ihr die Villa überschreibe.“
„Oh mein Gott! Das geht alles viel zu schnell!“
„Tut mir leid, Sophia, mehr Zeit haben wir nicht.“
*
Irgendwann gegen Mitternacht schreckte Danielle plötzlich aus dem Schlaf hoch und brauchte einen Augenblick um sich zu erinnern, wo sie war. Hatte sie etwa nur geträumt? Ein Blick zur Seite genügte, und sie entspannte sich.
Matt... Er lag neben ihr und schlief.
Liebevoll betrachtete sie sein markantes Gesicht. Selbst im Schlaf lag noch immer diese raue Männlichkeit, diese Attraktivität in seinen Zügen, die sie so sehr faszinierte. Sie verspürte den dringenden Wunsch, ihn zu berühren, mit ihren Fingerspitzen über seine Wangen zu streichen, doch sie wollte ihn nicht aufwecken. Die letzten vierundzwanzig Stunden waren für ihn genauso aufregend gewesen wie für sie selbst.
Der Unfall vor dem Krankenhaus, dieses eisige Entsetzen, als sie glauben musste, dass er es war, der Sekunden später um sein Leben kämpfte, bis zu dem Augenblick, als sie plötzlich erkannte, dass es sich in Wirklichkeit um den von allen tot geglaubten Mason handelte, der sie bis nach Los Angeles verfolgt hatte. Dann das unverhoffte Wiedersehen mit Matt, die unbändige Freude darüber, vermischt mit der bitteren Erkenntnis, dass man sie beide belogen und wie Marionetten in einem billigen Theaterstück benutzt hatte, um sie voneinander zu trennen. Und als wenn das noch nicht genug war, dann auch noch diese unerwartete Nachricht über Masons Gesundheitszustand, die alles schlagartig veränderte.
Das Ganze war ein einziger Strudel aus Überraschung, Angst, Ungewissheit, aber auch höchsten Glücksgefühlen gewesen, in dem sie beide zu versinken drohten, bis sie dann in stillem Einvernehmen hier in Matts Strandhaus in Sunset City erneut zueinander gefunden hatten. In diesem Augenblick, als sie sich liebten und in den Armen hielten, war nichts Anderes mehr von Bedeutung, es zählte nur dieser Moment, und sie kosteten ihn aus, als hätten sie beide ewig darauf gewartet. Und so war es ja irgendwie auch.
Danielle lächelte.
Plötzlich erschienen ihr die letzten Wochen nur noch wie ein schlechter Traum, so als wären sie nie wirklich voneinander getrennt gewesen. Aber gleichzeitig war sie sich dessen bewusst, dass sie nichts von dem, was sich ereignet hatte, nur geträumt war. Es würde Veränderungen geben, denn auch sie selbst hatte in der Zwischenzeit wichtige Entscheidungen getroffen, und da waren einige Dinge in ihrem Leben, die es zu regeln galt. Aber nicht jetzt, nicht in diesem kostbaren Augenblick, hier in Matts Haus, in seinem Schlafzimmer, in seinen Armen.
Eine Weile lauschte sie seinen ruhigen gleichmäßigen Atemzügen, doch irgendwann konnte sie nicht länger widerstehen. Sie beugte sich vorsichtig hinüber und hauchte ihm liebevoll einen Kuss auf die Wange. Er blinzelte verschlafen, doch bevor sie sich zurückziehen konnte, um seinen Schlaf nicht weiter zu stören, spürte sie, wie sie zwei starke Arme umfingen und zu sich hinunterzogen.
„Entschuldige Matt, ich wollte nicht...“, begann sie, doch er verschloss ihre Lippen mit einem langen sehnsüchtigen Kuss.
„Mmh... So geweckt zu werden, ist wohl das Beste, was einem Mann passieren kann, selbst, wenn es mitten in der Nacht ist“, meinte er und grinste. „Versprich mir, dass du so etwas auch noch tun wirst, wenn wir schon mindestens zwanzig Jahre miteinander verheiratet sind.“
Sie lachte.
„Was soll das heißen, Mr. Shelton?“
„Nun, Miss Belling“, ging er auf ihren Tonfall ein und richtete sich etwas auf, während er verschlafen blinzelte. „Ich erinnere mich noch recht gut, dass wir, bevor man uns auf so hinterhältige Weise voneinander trennte, gewisse Pläne geschmiedet haben. Diese Pläne sollten wir nun vielleicht verwirklichen. Es sei denn, du willst mich nicht mehr?“
Danielle hielt unwillkürlich den Atem an.
„Natürlich will ich dich, Matt. Mehr als alles andere“ meinte sie nach kurzer Überlegung. „Allerdings sollten wir mit unseren Hochzeitsplänen vielleicht noch etwas warten. Zumindest so lange, bis wir wissen, wie Mason die Operation überstanden hat.“
Matts Gesicht verdüsterte sich zusehends. Nachdenklich ließ er sich zurück in die Kissen fallen.
„Vielleicht hast du recht. Ich kann dir kaum beschreiben, mit welchen Gefühlen ich den Moment erwarte, in dem er aufwacht. Wird er sich an irgendetwas erinnern können? Ist er noch der Selbe wie vorher? Oder ein völlig veränderter Mensch?“ Er atmete tief durch und strich sich über die Stirn. „Alles ist möglich, hat Dr. Pares gesagt.“
Eine Weile lagen sie schweigend da, hingen jeder für sich ihren Gedanken nach und genossen einfach gegenseitig die Nähe des anderen.
Irgendwann richtete Matt sich erneut auf und suchte Danielles Blick.
„Die letzten Wochen waren die Hölle. Wir haben so viel kostbare Zeit verloren. Ich möchte jeden Morgen neben dir aufwachen, egal, was heute, morgen oder irgendwann passiert.“ Zärtlich strich er mit den Fingerspitzen über ihr Haar, und seine Lippen verzogen sich zu einem bedeutungsvollen Lächeln. „Zieh bei mir ein, am besten heute noch! Was meinst du dazu?“
Sie blickte ihn erstaunt an.
„Ich soll bei dir einziehen? Heute noch? Matt, ich fürchte, das wird nicht gehen.“
„Aber warum denn nicht?“, fragte er verständnislos. „Wir könnten gleich nach dem Frühstück nach Venice fahren und deine Sachen holen. Die Wohnung zu kündigen dürfte doch kein Problem sein!“
Sie seufzte leise.
„So einfach ist das nicht.“
Er zog irritiert die Augenbrauen hoch.
„Du hast es dir also doch anders überlegt?“
„Nein“, erwiderte Danielle schnell und lächelte dann verstohlen. „Das ist es nicht. Ich würde wirklich liebend gern sofort bei dir einziehen, aber nicht heute Vormittag!“
„Das verstehe ich nicht.“
„Ich habe einen Job, schon vergessen? Ich muss arbeiten.“
„Oh klar, natürlich! Du arbeitest in der Klinik“, lachte Matt sichtlich erleichtert. „Sorry, das hatte ich total vergessen. Dann ändern wir eben unsere Pläne.“
„Wie meinst du das?“, fragte Danielle verwirrt.
„Das ist doch kein Problem“, erwiderte er mit der ihm eigenen Entschlossenheit. „Dann nutze ich die Zeit, um nach Mason zu sehen und einige geschäftliche Dinge zu erledigen. Nach deinem Dienst hole ich dich ab, wir kündigen die Wohnung und deinen Job gleich dazu, und dann...“
„Matt! Warte einen Moment“, unterbrach ihn Danielle und hob abwehrend die Hand. In ihr Laken gewickelt setzte sie sich auf und sah ihn ernst an. „Ich werde meinen Job im CENTINELA Hospital nicht kündigen.“
„Ja aber, als meine zukünftige Frau musst du nicht unbedingt arbeiten gehen.“
„Das ist sehr großzügig von dir, aber danke, ich will mich keinesfalls von dir aushalten lassen. Ich werde den Job behalten.“
Er hob ergeben die Hände.
„Okay, dann arbeite wenigstens hier vor Ort in Sunset City Memorial.“
„Nein, ich bleibe in LA.“
„Und warum? Wegen John?“, fragte Matt argwöhnischer als beabsichtigt und ärgerte sich sofort über seine eigene Reaktion, doch Danielle schmunzelte nur.
„Ja, er ist in der Tat einer der Gründe dafür“, erwiderte sie geduldig. „Ich werde in der CENTINELA weiterarbeiten, weil John O`Malley mein Mentor an dieser Klinik ist.“
Matt starrte sie ungläubig an.
„Dein... Was?“
„Für das, was ich vorhabe, brauche ich einen vorgesetzten Arzt, einen sogenannten Mentor, denn ich muss während der zahlreichen Praktika in den nächsten acht bis zehn Semestern alle medizinischen Stationen durchlaufen. Und John wird mich dabei unterstützen und mir helfen.“
„Wovon redest du, Danielle?“
Sie lächelte geheimnisvoll.
„Ich habe begonnen, mir meinen Jugendtraum zu erfüllen, Matt. Ich werde Medizin studieren.“
*
Flughafen Long Beach
„So, ich bin fertig mit dem Check up.“ Mitch stellte die Motoren des kleinen HSE- Privatflugzeuges ab und lehnte sich zurück. „Eine Mammut-Tour, aber dafür läuft das Vögelchen jetzt perfekt.“
„Wie oft soll ich dir das noch sagen, du Bruchpilot: Es soll nicht laufen, es soll fliegen“, grinste sein Bordmechaniker Joey, der mit ihm zusammen die fällige Wartung der Maschine durchgeführt hatte. Dieser Check up hatte jedoch erheblich länger gedauert als geplant, denn auf dem anschließenden Probeflug hatten sie eine Unregelmäßigkeit in den Messgeräten entdeckt und über Stunden hinweg nach der Ursache für den Fehler im System gesucht.
„Willst du etwa noch eine Proberunde drehen?“, fragte Mitch und nahm die Kopfhörer ab.
„Nichts da, es ist bereits nach Mitternacht“, protestierte der Mechaniker. „Auf mich wartet zu Hause eine verdammt hübsche Frau.“
Mitch warf ihm einen erstaunten Blick zu.
„Seit wann das denn?“
„Seit gestern“, erwiderte Joey trocken und schob sein Basecap zurück, während seine braunen Augen schelmisch blitzten. „Zumindest hoffe ich, dass sie noch da ist, wenn ich heimkomme“
Er war um die dreißig, mittelgroß und gut durchtrainiert. Bei der Damenwelt war er nicht nur wegen seiner wilden Rasta- Mähne, die ihm ein verwegenes Aussehen verlieh, sehr beliebt, sondern auch wegen seiner fast unverwüstlichen und geradezu ansteckend gute Laune, selbst an einem Tag wie heute, wo an einen pünktlichen Feierabend nicht zu denken gewesen war. Außerdem war er ein absoluter Profi, was Flugzeugwartung betraf. Mitch arbeitete gern mit ihm zusammen.
„Na dann lass deine neue Eroberung nicht länger warten“, meinte er augenzwinkernd und öffnete die Tür. „Für mich gibt es einen nicht minder attraktiven Grund, endlich nach Hause zu fahren.“
„Das will ich meinen“, grinste Joey gutmütig. „Für deine Frau Doktor würde ich jedes andere Date sofort sausen lassen.“
Lachend kletterten die beiden Männer aus der Maschine und waren eben dabei, das Privatterrain der HSE zu verlassen, als der Bordmechaniker verwundert stehen blieb.
„Wo kommt denn die plötzlich her?“, fragte er erstaunt und wies auf die kleine Privatmaschine, die unweit vom Stellplatz der HSE in Warteposition stand.
Mitch hob die Schultern.
„Keine Ahnung. Die ist gelandet, als wir vorhin hereinkamen. Wenn ich mich nicht irre, sind die beiden Piloten noch immer an Bord.“
„Könnte vom Typ her `ne DC sein“, mutmaßte Joey mit Kennerblick. „Sicher einer von diesen reichen Geschäftsleuten, die keinen Fuß mehr in einen überfüllten Airbus setzen wollen.“
„Tja, das ist eben das Privileg der Reichen. Und wir beide haben wiederum das Privileg, diese Leute zu fliegen oder stundenlang an ihren fliegenden Kisten herumzuschrauben“, seufzte Mitch grinsend und wollte eben die Garage verschließen, als der Pilot der kleinen Privatmaschine nebenan die Motoren startete.
Genau in diesem Augenblick näherte sich eine dunkle Limousine dem Stellplatz.
Während von einigen Flughafen- Bediensteten eilig eine kleine Gangway herangerollt und verschiedene Gepäckstücke aus dem Wagen ins Flugzeug gebracht wurden, stiegen drei Leute aus der Limousine und gingen schnellen Schrittes auf die Maschine zu. Sie trugen Mäntel und hatten trotz der Dunkelheit Sonnenbrillen auf. Mitch konnte im Schein der Flughafen- Beleuchtung erkennen, dass zwei davon Frauen waren, denn sie trugen große Hüte, die sie tief ins Gesicht gezogen hatten. Der dritte im Bunde, ein hochgewachsener, stattlicher Mann, hielt den Kopf gesenkt und sah sich vor dem Besteigen der Gangway noch einmal kurz um, als wolle er sichergehen, dass sie nicht beobachtet wurden, bevor er hinter den Damen hastig im Rumpf der Maschine verschwand.
Sofort wurde die Gangway wieder entfernt. Die Türen schlossen sich, das Flugzeug verließ seine Park-Position und rollte langsam in Richtung der Startbahn, wo die Crew auf ihre Abflugerlaubnis warten musste.
Die ganze Aktion hatte nicht länger als fünf Minuten gedauert.
„Da sieht man es mal wieder, die können sich alles erlauben“, meinte Joey kopfschüttelnd. „Eine richtige Nacht-und-Nebel-Aktion.“
Mitch starrte der Maschine nach.
„Eigenartig“, murmelte er und fuhr sich mit der Hand über die Augen. „Ich glaube, ich habe schon Halluzinationen.“
Joey sah ihn fragend an.
„Was meinst du?“
„Nun, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, der da soeben in diese Maschine gestiegen ist, war der Big Boss persönlich – Edward Hamilton! Aber das kann ja unmöglich der Fall sein, denn der sitzt momentan in Untersuchungshaft.“
Joey kniff nachdenklich die Augen zusammen.
„Also, wo du es gerade erwähnst, irgendwer von den Kollegen hat mir erzählt, dass Hamilton heute Morgen zeitweise auf freien Fuß gesetzt wurde.“
„Auf freien Fuß, einfach so? Das gibt’s doch nicht!“
„Na ja, sein Schwiegersohn... Der, dem das OCEANS gehört, der hat angeblich die Kaution gestellt.“
„Dean Lockwood?“ Mitchs Augen wurden immer größer. „Aber der hat doch gar kein Geld!“
„Das brauchte er auch nicht. Er hat angeblich die Bar als Sicherheit eingesetzt.“ Joey verzog bedenklich das Gesicht. „Der, von dem ich das weiß, meinte noch, hoffentlich haut Hamilton nicht ab, sonst verliert dieser Lockwood seinen Laden, und wir wissen nicht mehr, wo wir uns abends treffen sollen. Der Schuppen ist nämlich wirklich cool.“
„Verdammt“, murmelte Mitch, dem plötzlich klar wurde, was er eben beobachtet hatte. Eine Sekunde lang stand er noch wie versteinert, dann machte er auf dem Absatz kehrt und lief zurück zum Flugzeug, das er eilig aufschloss.
„Was hast du denn vor?“, rief Joey entgeistert.
„Ich will versuchen, die Maschine aufzuhalten!“
In fliegender Eile griff sich Mitch das Funkgerät im Cockpit.
„HSE 1, HSE 1 an Tower! Tower bitte melden!“
„Hier Tower, was gibt es, HSE 1?“, meldete sich einer der Fluglotsen.
„Hier spricht Kapitän Mitch Capwell. Es geht um die Maschine, die eben um Starterlaubnis gebeten hat!“
„Die DC 9? Die geht nach Venezuela. Ist etwas nicht in Ordnung?“
„Lasst sie nicht starten, hört Ihr? Nicht rauslassen!“
„Aber wieso denn nicht?“
„An Bord ist aller Wahrscheinlichkeit nach ein Untersuchungsgefangener, der illegal ausreisen will!“
„Ihr müsst euch irren, HSE 1.“ erwiderte der Fluglotse. „Das ist eine Privatmaschine, alles ist korrekt gemeldet. Aber ich kann ja mal nachfragen.“
Ungeduldig starrte Mitch auf das Funkgerät in seiner Hand, bis sich endlich die Stimme des Lotsen wieder meldete.
„Hören Sie, HSE 1...“
„Ja?“
„Tut mir leid, die Maschine hat soeben ihre Starterlaubnis erhalten und ist bereits in der Abflugphase.“
Mitch unterdrückte einen wütenden Fluch.
„Welchen Flughafen in Venezuela fliegt sie an?“
„Moment, ich muss nachsehen. Eigenartig...“
„Was ist eigenartig?“
„Es ist kein genauer Zielflughafen angegeben. Normalerweise...“
Mitch unterdrückte einen deftigen Fluch und knirschte mit den Zähnen.
„Vergessen Sie`s, Tower, jetzt ist es zu spät! HSE 1, Ende.“
Fortsetzung folgt in etwa drei Wochen!