„Du wirst also Medizin studieren.“ Matt sah Danielle lange an, und sein anfängliches Erstaunen wich langsam einem Lächeln.
„Was ist?“, fragte sie unsicher. „Ich habe dir vor längerer Zeit bereits erzählt, dass es mein Wunsch war, Ärztin zu werden. Jetzt habe ich die Gelegenheit dazu.“
„Danielle“, erwiderte er kopfschüttelnd, beugte sich vor und küsste sie. „Weißt du eigentlich, dass mir, seitdem wir uns kennen, schon mehrere Leute gesagt haben, du wärst etwas Besonderes? Und sie haben allesamt Recht, das bist du wirklich. Ich bin wahnsinnig stolz auf dich, Frau Doktor.“
„Nun, bis zum Doktortitel ist es noch ein sehr langer Weg“, erwiderte sie lachend und bedachte ihn mit einem prüfenden Blick. „Ich hatte schon befürchtet, dass du vielleicht nicht besonders begeistert von meinem Vorhaben sein würdest.“
„Wie kommst du denn darauf?“ fragte er erstaunt.
„Ich werde in den nächsten Jahren wenig Freizeit haben, und trotzdem ich mich für einen Großteil der Vorlesungen in Fernstudienkursen eingeschrieben habe, werde ich oft nicht zu Hause sein. Es wird nicht leicht für uns, Matt. Vor uns liegt keine leichte Zeit.“
Er nickte und strich ihr sanft übers Haar.
„Wir werden den Weg gemeinsam gehen, du und ich. Schließlich sollst auch du die Möglichkeit haben, all das in deinem Leben zu verwirklichen, was du dir vorgenommen hast. Und ich bin sicher, dass wir das irgendwie hinbekommen. Hauptsache ist doch, wir sind zusammen.“ Danielle umarmte ihn spontan.
„Ich danke dir!“
„Wofür denn?“ fragte er lachend. „Noch habe ich ja nichts getan. Aber ich hoffe, du erlaubst mir zumindest, meine zukünftige Frau bei der Finanzierung des Studium zu unterstützen, damit du die wenige Zeit, die du für mich hättest, nicht mit jobben verbringst.“
„Tja mein Lieber, ich befürchte, dazu ist es zu spät“, grinste sie und zwinkerte ihm geheimnisvoll zu. „Das ist nämlich alles bereits bezahlt.“
Erstaunt hob er die Augenbrauen.
„Ein Studium an der UCLA ist nicht gerade billig. Du hast sicher deine gesamten Ersparnisse dafür gebraucht.“
„Keinen Cent“, erwiderte Danielle zu seiner Überraschung. „Die Einschreibung an der Uni, die Studiengebühren und alles, was dazugehört, hat ein guter Freund für mich bezahlt.“
„Ein Freund?“
Sie lehnte sich zurück und sah ihn bedeutungsvoll an.
„Erinnerst du dich an den Tag nach unserer Verlobungsfeier im OCEANS?“
Bei dem Gedanken daran verdüsterte sich sein Gesicht schlagartig.
„Wie könnte ich den jemals vergessen? Das war der Tag, an dem du spurlos aus Sunset City verschwunden bist. Und ob ich mich erinnere, an jede einzelne, verdammte Minute!“
„An diesem Tag wollte ich dich mit Jemandem bekannt machen...“
„Du sagtest, wir würden einen Ausflug machen, und du wolltest mir bei dieser Gelegenheit jemanden vorstellen. War das dieser Freund?“
„Warte es ab“, erwiderte sie geheimnisvoll. „Du wirst ihn so bald wie möglich kennenlernen. Und ich bin sicher, du wirst ihn genauso sehr mögen wie ich.“
*
Dean und Caroline wurden am anderen Morgen durch das Läuten des Haus-Telefons geweckt. Verschlafen rappelte sich Caroline auf und griff nach dem Hörer.
„Rosita? Was ist denn los?“ Sie stutzte, als sie die aufgeregte Stimme der Haushälterin hörte. „Warten Sie einen Augenblick, ich komme hinunter. Wo sind Sie? In der Küche... Ja, beruhigen Sie sich, ich bin gleich da.“ Mit einem Seufzen schwang Caroline die Beine aus dem Bett und griff nach ihrem Hausmantel.
„Was ist denn los?“, fragte Dean und blinzelte verschlafen. Sie waren in der letzten Nacht erst weit nach Mitternacht vom OCEANS nach Hause gekommen, und er hätte sich momentan nichts sehnlicher gewünscht, als den Vormittag einfach zu verschlafen. Aber anscheinend gab es irgendein Problem.
„Rosi hat angerufen“, erklärte Caroline und strich sich mit allen Fingern kurz durch ihr langes, blondes Haar. „Sie hat nicht gesagt, um was genau es sich handelt, aber sie klang ziemlich aufgeregt. Ich werde hinuntergehen und nachsehen, was es so Wichtiges gibt.“ Sie beugte sich zu ihm herunter und gab ihm einen Kuss. „Schlaf weiter, ich bringe uns nachher gleich Frühstück mit.“
„Du bist ein Schatz“, murmelte Dean und vergrub den Kopf wieder in den Kissen. Nicht einmal in einer Nobelvilla wie dieser hier hatte man seine Ruhe!
*
„Danielle?“
„Mmh...“
„Wann musst du zur Arbeit?“
„Erst in ein paar Stunden.“
„Dann haben wir ja noch etwas Zeit...“
„Matt... was tust du da?“ Sie kicherte leise. „Komm schon, lass uns noch eine Weile schlafen…“
„Willst du das wirklich?“
„Ja... mmh... na ja… nein... eigentlich nicht...“
„Soll ich aufhören?“
„Nein… oh nein, bloß nicht...“
„Okay, das könnte ich sowieso nicht, selbst wenn ich es wollte...“
Nur das Rascheln der Seidenlaken und ein wohliges Stöhnen war noch zu hören... und Sekunden später das Läuten des Handys, gefolgt von Matts ungehaltenem Knurren.
„Matt, das Telefon…“
„Ignorier das verdammte Ding!“
„Und wenn es wichtig ist?“
„Nichts ist wichtiger als das, was wir gerade tun...“
Der Anrufbeantworter schaltete sich ein, und eine monoton-freundliche Elektronikstimme verkündete, dass der Anrufer bitte eine Nachricht hinterlassen sollte. Was dieser dann auch tat:
„Matt, hier ist Mitch! Bitte nimm geh ran, es ist wirklich sehr wichtig. Es geht um Edward! Ich glaube, er ist abgehauen!“
„Mitch?“
Matt fuhr herum und griff hastig nach dem Handy auf dem Nachttisch. „Was zum Teufel sagst du da?“
*
Ratlos stand Caroline unten in der Küche.
Was Rosita da in ihrer Aufregung für zusammenhangloses Zeug zusammenstotterte, überstieg momentan ihre Vorstellungskraft.
Mum und Dad sollten weg sein?
Okay, sie hatte sich ja selbst gewundert, dass das Tor zur Einfahrt der Villa sperrangelweit offen gestanden hatte, als Dean und sie nachts nach Hause gekommen waren. Aber sie hatte nicht weiter darüber nachgedacht, sondern angenommen, ihre Eltern seien noch ausgegangen.
Doch was bedeutete es wirklich, wenn die Haushälterin immer wieder unter Tränen behauptete, Mister und Misses Hamilton seien „simplemente desaparecieron – einfach verschwunden“?
Wohin?
Wie lange?
Und - Warum überhaupt?
Rosita wusste es nicht. Sie weinte und schniefte und murmelte ständig etwas auf Spanisch, das Caroline nicht verstand.
Schließlich gab sie es auf und ließ die völlig verstörte Haushälterin in der Küche zurück, um sich selbst ein Bild von dieser äußerst merkwürdigen Sache zu machen.
Sie betrat das riesige Wohnzimmer und blickte sich suchend um. Auf dem Tisch standen benutzte Gläser, es lagen Zeitschriften achtlos auf dem Boden, und über der Couchlehne hing der Hausmantel ihrer Mutter. Der Kamin war aus, aber davor lagen eine Menge Papierfetzen, so als hätte jemand eilig irgendwelche Papiere verbrannt.
Missbilligend schüttelte Caroline den Kopf.
Sicher hatten sie Rosita nach dem Abendessen nach Hause geschickt, wie sie das öfter taten. Danach blieb einfach alles achtlos liegen, in der Überzeugung, die Haushälterin würde früh morgens schon für Ordnung sorgen.
Seufzend dachte sie daran, dass sie selbst nie jemanden gebraucht hatte, der ihr alles nachräumte. Darauf würde sie auch in Zukunft gut verzichten können. Sie fühlte sich selbstständig genug, ihr Heim für Dean und sich allein in Ordnung zu halten.
Beinahe wäre sie über Sophias Hauspantoffeln gestolpert. Sie kickte sie achtlos beiseite und wollte schon gehen, da sah sie ihn...
Der große weiße Briefumschlag lehnte an der Blumenvase auf dem Tisch, und er trug ihren Namen. Caroline nahm ihn auf und drehte ihn erstaunt in ihren Fingern, bevor sie ihn öffnete.
Gespannt zog sie das dicht beschriebene Blatt heraus und erkannte sofort die Handschrift ihres Vaters, darunter die ihrer Mutter, eilig hin gekritzelt. Neugierig begann sie zu lesen, doch bereits nach wenigen Zeilen begriff sie plötzlich, was das alles zu bedeuten hatte.
Ihre Knie begannen zu zittern, sie sank auf die Couch, und ihr Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei...
*
Ein paar Stunden später hatte Danielles Schicht in der Klinik begonnen.
Vorsichtig schoben sie und ihre Kollegin Lynn gemeinsam ein Roll-Bett mit einem Patienten in den Fahrstuhl.
„Sind wir schon da?“, fragte der ältere Mann schläfrig. Er hatte bereits starke Beruhigungsmedikamente bekommen und befand sich auf dem Weg in den OP.
Danielle lächelte.
„Nur noch einen Augenblick Geduld, Mister Miller, es geht gleich los.“
„Ich kann`s kaum erwarten“, scherzte der Patient mit einem schiefen Lächeln, das nur zu deutlich zeigte, dass trotz der verabreichten Medizin immer noch eine Spur von Angst vorhanden war.
„Keine Sorge, wenn Sie nachher wieder aufwachen, fühlen Sie sich wie neugeboren.“ Danielle wusste zwar, dass dies nach einer schweren Magenoperation sicher nicht der Fall sein würde, aber ihre beruhigenden Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Der Patient schloss nach einem kurzen Nicken die Augen und ergab sich seinem weiteren Schicksal.
Danielle seufzte und lehnte sich an die kühle Wand, während der Lift sanft nach oben fuhr.
„Alles in Ordnung?“, fragte Lynn mit einem prüfenden Blick.
Danielle lächelte. Eine interessante Frage. Die Antwort darauf wusste sie momentan selbst nicht...
Nach Mitchs Telefonanruf war alles sehr schnell gegangen. Die Neuigkeiten, die er überbrachte, waren alles andere als erfreulich gewesen. Danielle konnte gut verstehen, dass Matt sich sofort auf den Weg in die Firma machen musste, um sich dort einen ersten Überblick zu verschaffen, wieviel Schaden Edward durch sein mutmaßliches Verschwinden angerichtet hatte. Hoffentlich war die HSE noch zu retten.
Er hatte Danielle seinen Wagen überlassen, damit sie nach LA zur Arbeit fahren konnte.
„Bitte schau nach Mason“, hatte er sie gebeten und sie sanft in die Arme geschlossen, nachdem er ihren erschrockenen Blick wahrnahm. „Ich weiß, dass ist sehr viel verlangt, Liebling, aber ich möchte gern wissen, wie es ihm geht. Du kannst auch einfach Dr. Pares fragen, ob es inzwischen etwas Neues gibt. Ich kann beim besten Willen noch nicht sagen, wann ich heute aus dem Büro wegkomme.“
„Ist schon gut, Matt“, hatte sie geantwortet und ihr Unbehagen über diesen Auftrag tapfer verdrängt. „Ich werde nach Mason sehen.“
Nun war es an der Zeit, dieses Versprechen einzulösen.
„Ja und nein“, erwiderte sie auf Lynns Frage. „Ich bin seit gestern noch nicht sehr viel zum Nachdenken gekommen. Der Tag heute hat so hektisch begonnen, wie der gestrige endete.“
Ihre Kollegin lachte.
„Schätzchen, mit so einem Sahneschnittchen an der Seite, wie der, der vor dem Eingang auf dich gewartet hat, kann der Tag gar nicht hektisch genug sein!“
Die Fahrstuhltüren glitten auf, und die beiden Schwestern schoben das Bett den Flur entlang zum OP, wo der Patient bereits erwartet wurde.
„Ihr sollt bitte einen der Patienten von der Wachstation mit nach unten nehmen“, ordnete die diensthabende OP-Schwester an. „Es wird allerdings gut zehn Minuten dauern, der Arzt untersucht ihn erst noch.“
„Okay“, nickte Lynn. „Wir warten.“
Danielle sah auf die Uhr.
„Die Intensivstation ist eine Etage tiefer. Ich werde mal schnell nach Matts Bruder sehen.“
„Ist der genauso attraktiv?“, fragte Lynn neugierig.
Danielle verdrehte die Augen.
„Ich fürchte, momentan sieht er überhaupt nicht gut aus.“
*
Als Caroline nach Stunden wieder die Räume betrat, die sie mit Dean gemeinsam bewohnte, wurde sie bereits erwartet.
„Cary!“, rief Dean beunruhigt. „Wo zum Teufel hast du die ganze Zeit gesteckt? Ich habe mir Sorgen gemacht, und Rosi wusste auch nicht, wo du bist...“
„Ich war in der Firma, bei Matt Shelton“, erwiderte sie kurz angebunden und marschierte an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Dean beobachtete erstaunt, wie sie sich in einen der Sessel fallen ließ und mit einem Aufstöhnen die Schuhe von den Füßen kickte.
„Zuerst kommst du in Tränen aufgelöst zurück in unser Schlafzimmer, weigerst dich mit mir zu reden, und dann verschwindest du einfach“, beklagte er sich vorwurfsvoll. „Du hättest mir wenigstens sagen können, wohin du gehst.“
„Nein. Ich musste zuerst mit Matt sprechen.“
„Und worüber?“, fragte Dean sarkastisch. „Über die neusten Eskapaden deines Vaters? Wenn man Rositas hysterischem Gestammel Glauben schenken kann, hat er sich kurzentschlossen zusammen mit deiner Mutter auf eine etwas längere Reise begeben!“
Mit zusammengepressten Lippen nickte Caroline.
„Ja... es ist wahr. Sie sind weg.“
„Hast du davon gewusst?“, forschte Dean.
Caroline sprang erbost auf.
„Wie kannst du so etwas sagen! Ich bin mindestens so überrascht und schockiert wie du!“
Dean musterte sie prüfend.
„Und was wolltest du ausgerechnet bei Matt Shelton, dem Geschäftspartner deines Vaters?“
„Er ist nicht nur sein Geschäftspartner, für mich ist Matt schon immer ein guter Freund“, verteidigte sich Caroline. „Ich brauchte seinen Rat.“
„Wusste er, was dein Vater vorhatte?“
„Ist das ein Verhör?“, fuhr Caroline Dean ungehalten an, besann sich dann jedoch. „Niemand hat es gewusst. Matt ist im Büro und sammelt die Scherben ein, die Dad ihm hinterlassen hat. So wie es aussieht, steht die Firma kurz vor dem Aus.“
Dean spürte, wie sich auf seiner Stirn kleine Schweißtropfen bildeten. Bis jetzt hatte er immer noch gehofft, alles werde sich zum Guten wenden.
„Oh Mann“, stöhnte er schmerzlich und fuhr sich verzweifelt mit den Fingern durchs Haar. „Ich hätte nie gedacht, dass er uns das antun würde. Vor allem dir, seiner eigenen Tochter.“ Er drehte sich um, trat auf Caroline zu und fasste sie bei den Schultern. Eindringlich sah er sie an.
„Du weißt hoffentlich, was seine Flucht für uns bedeutet? Wir verlieren das OCEANS!“
„Nicht nur das OCEANS“, erwiderte Caroline leise und trat einen Schritt zurück. Ihr starrer Blick verhieß nichts Gutes.
„Wie meinst du das?“, fragte er vorsichtig. Caroline holte tief Luft.
„Dean… Es gibt nur einen Weg für uns, um aus dieser Misere herauszukommen. Ich möchte, dass wir unsere Ehe annullieren lassen!“
„Waaas?“
„Ich will die Scheidung!“
*
Roger Miles hatte sich nach dem Frühstück in sein Büro zurückgezogen, um sich um die Firmengeschäfte zu kümmern. Seit George Probleme mit dem Herzen hatte, versuchte ihn sein Anwalt und treuer Freund so wenig wie nur möglich mit geschäftlichen Dingen zu belasten. Nach dem Herzanfall, den Freeman vor nicht allzu langer Zeit auf dem Rückflug von Tokio nach LA erlitten hatte, unternahm Roger sogar Geschäftsreisen fast immer allein. Soweit es ging, erledigte er alles selber und fragte George nur dann um Rat, wenn es absolut unerlässlich war.
So wie jetzt.
Roger zog irritiert die Stirn in Falten, rückte seine Brille zurecht und starrte zum wiederholten Male ungläubig auf den Monitor des Computers. Schließlich aktualisierte er die aufgerufene Seite und stellte fest, dass sich dadurch auch nichts von dem änderte, was dort überraschenderweise angezeigt wurde. Nachdem er zielstrebig einen dicken Aktenordner gewälzt und schließlich etwas gefunden hatte, was seine Ahnungen zu bestätigen schien, griff Roger kurzentschlossen zum Telefon und wählte Freemans hausinterne Privatnummer.
„George? Würdest du bitte kurz in mein Büro herüberkommen? Ich habe hier etwas, das dürfte dich sehr interessieren.“
*
Danielle drückte auf den Klingelknopf am Eingang der Intensivstation. Als sie eingelassen wurde und der diensthabenden Schwester den Flur entlang folgte, befürchtete sie fast, diese könnte hören, wie laut ihr Herz klopfte.
´Er kann dir nichts mehr anhaben, beruhige dich. Was immer er in der Vergangenheit getan hat, er war krank´, versuchte sie sich permanent einzureden, während sie routinemäßig Kittel und Mundschutz anlegte.
Selbst als sie Mason Minuten später in seinem Krankenbett liegen sah, unnatürlich blass, friedlich schlafend, mit riesigem Kopfverband, angeschlossen an unzählige Geräte und Schläuche, wollte das unbehagliche Gefühl nicht weichen.
„Dr. Pares ist momentan in einer Besprechung“, erklärte die Schwester, die regelmäßig die Apparaturen kontrollierte. „Er hat mich beauftragt, den Angehörigen zu sagen, dass bisher alles sehr gut aussieht. Die Werte des Patienten liegen allgemein im Normalbereich.“
„Wann können wir damit rechnen, dass er zu Bewusstsein kommt?“, fragte Danielle angespannt. Die Schwester wiegte abschätzend den Kopf.
„Schwer zu sagen. Es kann jederzeit passieren, das kommt ganz auf die innere Verfassung des Patienten an. Manche brauchen nur ein paar Stunden, während andere Tage oder sogar Wochen so liegen. Aber je eher, desto besser. Wir schauen jede Viertelstunde nach ihm, und wenn er erwacht, werden wir Dr. Pares und den diensthabenden Arzt sofort informieren.“ Sie sah auf die Uhr. „Ich bin draußen, falls irgendetwas sein sollte.“
Danielle nickte stumm. Ihr Mund war wie ausgetrocknet, als die Schwester den Raum verließ und die Tür hinter sich schloss.
Da lag er nun - Mason Shelton.
Sein Gesicht war das von Matt, eine exakte Kopie. Doch was steckte hinter der Fassade?
Sie fröstelte. Wie würde er sein, wenn er erwachte? Würde er sich an alles erinnern können, was vor seinem Unfall geschehen war?
„Matt möchte, dass du lebst“, sagte sie leise, und ihre eigene Stimme klang fremd in ihren Ohren. „Aber wie wird es danach weitergehen? Wirst du ihn dann endlich in Ruhe lassen? Und… wirst du uns beide endlich in Ruhe lassen?“ Sie spürte, wie ihr gegen ihren Willen die Tränen in die Augen schossen und wandte sich schnell ab. Hinter ihr befand sich das Fenster und sie blickte hinaus in Richtung Highway, der zum nahe gelegenen Flughafen führte. Soeben donnerte eine riesige Maschine der United Airlines im Landeanflug darüber hinweg, doch das Fensterglas war so dick, dass man den Lärm, den sie verursachte, überhaupt nicht wahrnahm. Fasziniert beobachtete Danielle, wie die 747 stetig tiefer sank und schließlich hinter den hohen Airport-Hotels verschwand.
„Die starten und landen hier im Zwei-Minuten-Takt“, hatte ihr John irgendwann einmal erklärt, und Danielle verspürte einen leichten Anflug von Sehnsucht. Schließlich war sie oft genug mitgeflogen, und sie hatte dieses Gefühl geliebt, wenn sich hunderte Tonnen von Stahl mit gewaltiger Energie in die Lüfte erhoben, als wäre das ein Kinderspiel.
Ihre innere Anspannung hatte sich etwas gelegt. Sie würde warten, bis die nächste Maschine vorüberflog und dann wieder gehen. Im Augenblick konnte sie ohnehin nichts für Mason tun, er war hier in den besten Händen.
Sie vermochte es sich nicht zu erklären, aber plötzlich überkam sie erneut eine merkwürdige Unruhe. Sie fühlte sich, als würde sie irgendwo her beobachtet. Langsam wandte sie sich um, und ihr Herzschlag drohte für Sekunden auszusetzen.
Sie erstarrte mitten in der Bewegung, als sie dem Blick aus seinen dunklen Augen begegnete. Diese Augen, vor denen sie sich so gefürchtet hatte.
Unfähig sich von der Stelle zu bewegen, sah sie ihn an.
Er blinzelte, und bevor sie es verhindern konnte, hob er die Hand und fasste nach ihrem Arm. Sein Griff war unerwartet fest, und seine Lippen formten mühsam ein einziges Wort:
„Danielle...“
Ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Mason hatte sie immer nur Dani genannt.
Außerstande, sich seinem Zugriff zu entziehen, sah sie in seine Augen, die ihr in diesem Moment genauso bedrohlich vorkamen wie früher. Oder bildete sie sich das am Ende nur ein?
Mason stöhnte leise und begann wieder seine Lippen zu bewegen.
„Ich... habe... Durst...“, brachte er schließlich mühsam heraus.
Langsam löste sich Danielle aus ihrer Erstarrung.
„Du... kannst dich an mich erinnern?“, flüsterte sie fassungslos.
Irritiert verzog Mason das Gesicht. Dann hob er langsam den anderen Arm etwas an und deutete mit der Hand auf den Anstecker mit ihrem Vornamen an ihren Kittel.
„Oh!“ Endlos erleichtert nickte Danielle. „Ja natürlich!“
„Wo bin ich?“, fragte Mason und tastete mit der anderen Hand nach seinem Kopfverband, was nicht so einfach war, da sein Unterarm bis zum Ellenbogen dick mit Gips bandagiert war. Panisch hob er den Kopf an. „Was ist das?“
Danielle versuchte sich aus seinem Griff zu befreien.
„Ganz ruhig! Ich hole schnell den Arzt, der wird dir... Ihnen alles ganz genau erklären.“
Mason hielt ihr Handgelenk nach wie vor fest umklammert.
„Bitte... Was ist geschehen? Wo bin ich?“
„Es ist alles in Ordnung!“ Sie vermochte nicht mit Gewissheit zu sagen, ob sie mit diesen Worten den Patienten oder vielmehr sich selbst beruhigen wollte.
„Nur noch einen kleinen Augenblick Geduld, ich sage dem Doktor, dass Sie wach sind, und dann werden Sie alles erfahren.“
Überraschenderweise nickte Mason gehorsam und ließ sie los. Sein Kopf sank erschöpft in die Kissen zurück. Er schien gar nicht mehr zu bemerken, wie Danielle sich umwandte und fast panisch hinauseilte.
„Dr. Pares soll sofort herkommen!“, rief sie der diensthabenden Schwester zu, während sie sich auf dem Weg nach draußen in fliegender Eile der Schutzkleidung entledigte. „Sein Tumor-Patient ist soeben aufgewacht!“
*
Dean stand da und starrte seine junge Frau entsetzt an.
„Könntest du das bitte noch einmal wiederholen?“, fragte er, unfähig sich von der Stelle zu rühren.
Caroline schluckte.
„Ich möchte, dass wir uns sofort scheiden lassen.“
Dean brauchte noch ein paar Sekunden, dann plötzlich schien er zu begreifen.
„Oh nein!“ Kopfschüttelnd trat er einen Schritt zurück, ohne sie dabei jedoch aus den Augen zu lassen. „Oh nein, Caroline, so kommst du mir nicht davon! Ich weiß nicht, was dein intriganter, bösartiger Vater sich diesmal ausgedacht hat, aber durch ihn habe ich von einer Minute auf die andere alles verloren, was ich besaß. Das tut verdammt weh, doch ich kann es verkraften. Wenn es jedoch um meine Frau geht, werde ich nicht kampflos aufgeben!“
Carolines Gesicht verzog sich mit einem Mal zu einem mühsamen Lächeln.
„Das sollst du doch auch nicht, Liebling. Das würde ich gar nicht wollen. Aber es muss sein!“ Sie kramte in ihrer Tasche und zog einen zerknitterten Brief heraus. „Bitte lies das, und dann lass uns in Ruhe über alles reden.“
Dean starrte abwechselnd auf das Blatt Papier, das Caroline ihm reichte und dann wieder auf seine Frau, die ihm eben einen seiner Meinung nach total absurden Vorschlag gemacht hatte.
„Was soll das, Cary? Warum um alles in der Welt willst du, dass wir uns scheiden lassen?“
„Lies den Brief!“, forderte sie mit Nachdruck. „Dann wirst du verstehen.“
Widerwillig löste Dean den Blick von ihrem angespannten Gesicht, entfaltete das dicht beschriebene Papier und begann zu lesen.
„Das gibt` s doch nicht“, murmelte er nach einer Weile und zog ungläubig die Stirn in Falten. Caroline hatte ihn aufmerksam beobachtet.
„Und, begreifst du nun?“
Dean schaute auf und nickte stumm.
„Dein Vater ist ein Teufel“, brachte er mühsam zwischen den Zähnen hervor, „Ein hinterhältiger, gemeiner, berechnender Teufel!“
Caroline trat einen Schritt auf ihn zu.
„Es tut mir leid“, begann sie, doch er wehrte mit einer Handbewegung ab.
„Kaum zu glauben, dass ihr beide miteinander verwandt seid“, knurrte er und reichte ihr den Brief zurück. „Hier, nimm... du wirst ihn sicher noch brauchen!“
Caroline legte beschwichtigend ihre Hand auf seinen Arm.
„Hör zu, hier ist die Stelle, auf die es ankommt.“ Sie entfaltete den Brief erneut und begann die entsprechenden Zeilen zu zitieren:
„Du brauchst keine Angst zu haben, dass du nach unserer Abreise mittellos dastehst, Caroline. Für dich und deinen Bruder ist bestens gesorgt. Andrew wird alles in meinem Namen regeln. Neben der Lebensversicherung, die euch beiden mit Vollendung des fünfundzwanzigsten Lebensjahres ausgezahlt wird, habe ich Corey vor längerer Zeit bereits finanziell abgesichert. Mit meiner Unterschrift unter diesem Schreiben hier lege ich nun testamentarisch fest, dass unsere Villa mit dem gesamten Grundstück in dein Eigentum übergeht – sobald du rechtskräftig von Dean Lockwood geschieden bist. Das ist meine einzige Bedingung.“
„Ich weiß, was in dem Wisch steht“, knurrte Dean aufgebracht. „Und wenn ich diesen intriganten Mistkerl noch einmal in die Finger bekommen sollte, dann drehe ich ihm den Hals um, egal, ob er dein Vater ist, oder nicht!“
Caroline zog aufgeregt die Augenbrauen hoch.
„Ja verstehst du denn nicht? Wir werden genau das tun, was er will. Wir erfüllen seine Forderung und lassen unsere Ehe annullieren. Danach verkaufen wir die Villa, und von dem Geld holen wir uns das OCEANS zurück. Und dann heiraten wir einfach wieder! Matt hat mir den Tipp gegeben, und ich finde die Idee wirklich gut. Es ist ganz einfach!“
Dean sah sie skeptisch an.
„Bist du sicher?“
Caroline trat auf ihn zu, legte beide Arme um seinen Hals und lächelte.
„Dean, ich bin nicht so wie mein Vater, das dürftest du inzwischen gemerkt haben. Aber ich habe im Laufe meines Lebens eine ganze Menge von ihm gelernt.“
*
„Dieser Verbrecher!“
Mitch, der bereits seit geraumer Zeit ungehalten von einem Ende des Büros zum anderen gewandert war, blieb vor dem Fenster stehen und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Wenn ich doch nur geahnt hätte, was hier vorgeht, dann hätte ich die verdammte Maschine vielleicht noch aufhalten können!“
„Hör endlich auf, dir Vorwürfe deswegen zu machen, Mitch“, beschwichtigte ihn Matt, der hinter seinem Schreibtisch am Computer saß. „Mich gleich zu informieren war das Klügste, was du tun konntest. So hatte ich wenigstens Gelegenheit, die Firmenkonten noch rechtzeitig sperren zu lassen, bevor er vom Ausland aus darauf zugreifen kann.“
Mitch trat hinter seinen Freund und blickte über dessen Schulter auf den Monitor.
„Hast du mittlerweile schon einen ungefähren Überblick? Wieviel fehlt denn?“
Matt wiegte bedenklich den Kopf.
„Auf Anhieb ist das schwer zu sagen. Edward kennt sich bestens aus und er ist nicht dumm. Er kann einiges entsprechend frisiert haben, denn er hat seit seiner Verhaftung genau gewusst, dass die Anschuldigungen gegen ihn nicht aus der Luft gegriffen sind. Wenn die Staatsanwaltschaft weitergegraben hätte, dann wären mit Sicherheit noch einige brisante Dinge ans Tageslicht gekommen. Also hat er sich schnell genommen, was ihm seiner Meinung nach zustand, um hier in Sunset City alles hinter sich zu lassen und irgendwo neu anzufangen. Beispielsweise Anteile an der Firma, Aktien, diverse Gelder und Anlagen. Ich vermute, er hatte nebenbei irgendwo auch noch illegale Gelder angelegt.“
„Hast du dafür Beweise?“
„Leider nicht. Ich hatte zwar seit einiger Zeit einen gewissen Verdacht, aber bisher konnte ich ihm nichts nachweisen.“
„Bis heute“, knurrte Mitch wütend. „Wie hat er es bloß geschafft, alles so schnell abzuwickeln? Er hat doch, seitdem er wieder auf freiem Fuß war, kaum Zeit gehabt!“
„Mitch!“ Matt lehnte sich zurück und warf seinem Freund einen vielsagenden Blick zu. „Edward Hamilton ist ein alter Fuchs, der alle Tricks kennt. In was für dunkle Geschäfte er auch immer verwickelt gewesen sein mag, er wusste stets ganz genau, worauf er sich einließ und hat garantiert schon lange die notwendigen Vorkehrungen getroffen, falls man ihm irgendwann auf die Schliche kommt.“
Mitch nickte.
„Darauf kannst du wetten. Aber nicht nur er. Die Rodriges hat natürlich auch binnen kürzester Zeit alle Zelte abgebrochen. Vermutlich steckte die feine Dame von Anfang an mit Edward unter einer Decke und hat sich nur deswegen in die Firma eingeschlichen.“
„Nach dem neusten Stand wäre das fast anzunehmen“, stimmte Matt zu. „Allerdings hatte sie Anni ihre Firmenanteile ganz legal abgekauft. Das ist alles notariell beglaubigt.“ Er seufzte und hob hilflos die Schultern.
„Nun ja, wie dem auch sei, wir können nichts mehr daran ändern, dass Edward sich feige aus dem Staub gemacht hat. Wer mir bei der ganzen Sache allerdings besonders leid tut, ist Caroline.“
„Oh ja, Cary“, stimmte Mitch zu. „Sie wird ihre Eltern vermissen. Besonders ihre Mum. Trotzdem, als sie vorhin hier im Büro war, fiel es mir wieder auf, dass sie ganz anders ist, als die Hamiltons.“ Er sah, wie Matt lächelte und nickte ihm anerkennend zu. „Du hast sie gut beraten, trotz der Probleme, die ihr Vater dir durch seine Flucht bereitet hat. Sie und Dean werden schon irgendwie zurechtkommen.“
„Ich fühle mich in gewisser Weise für Caroline verantwortlich. Sie war noch ein Schulkind, als ich nach Sunset City zog, und sie kam oft zu mir, wenn sie ein Problem hatte.“
„Da haben wir`s“, schnaufte Mitch missbilligend. „Normalerweise geht ein junges Mädchen mit seinen Problemen zu seinen Eltern. Aber was ist an den Hamiltons jemals normal gewesen!“
Matt lachte bitter und wandte sich wieder der Tastatur zu.
„Lass uns weitermachen, die Bestandsaufnahme ist noch lange nicht zu Ende, und ich befürchte, das endgültige Resultat wird mir nicht gefallen.“
„Und was willst du dann tun?“, erkundigte sich Mitch vorsichtig.
Matt seufzte.
„Tja, gute Frage. Allein werde ich die Firma auf keinen Fall halten können. Bleibt abzuwarten, in welche Richtung Edward seine Anteile verhökert hat.“
„Und was wird nun aus der Ferienanlage?“
Bevor Matt antworten konnte, öffneten sich draußen im Vorzimmer die Türen vom Aufzug, und Edwards Sekretärin Elisabeth stürzte aufgeregt ins Büro.
„Mr. Shelton…“, keuchte sie völlig außer Atem. „Ich bin nach Ihrem Anruf so schnell hergekommen, wie ich nur konnte!“ Sie bemerkte die Blicke der beiden Männer und stutzte. Misstrauisch sah sie von einem zum anderen. „Was ist denn passiert?“
Matt stand auf und geleitete Elisabeth mit sanftem Nachdruck nach draußen zu ihrem Platz.
„Es ist besser, Sie setzen sich erst einmal“, schlug er seelenruhig vor und nahm vor ihr auf der Schreibtischkante Platz. „Unser gemeinsamer Freund Edward hat sich quasi über Nacht aus den Firmengeschäften zurückgezogen.“ Er ließ seine Worte ein paar Sekunden wirken, während er Elisabeth, die unter seinem Blick zusehends nervöser wurde, eindringlich musterte. „Wussten Sie davon?“
Edwards langjährige Assistentin wurde um mindestens einen Schein blasser, und ihre Lippen begannen zu zittern.
„Was sagen Sie da? Nein, um Gottes Willen, ich hatte keine Ahnung!“
Matt nickte geduldig.
„Ganz ruhig, Liz, ich glaube Ihnen. Aber ich bezweifle, dass der Staatsanwalt das unter den gegebenen Umständen ebenfalls tun wird.“
„W… wie meinen Sie das?“
„Nun“ Er furchte bedeutungsvoll die Stirn. „Immerhin waren Sie über viele Jahre Edwards engste Vertraute in der Firma. Die Herren von der Staatsanwaltschaft werden davon ausgehen, dass Sie in einige interessante Dinge eingeweiht waren. Legale und illegale Dinge.“
„Oh... Mr. Shelton, ich kann Ihnen versichern...“, stammelte Elisabeth, doch er unterbrach sie sogleich. „Versichern Sie mir nichts, meine Liebe. Helfen Sie mir lieber, diese Firma, und damit Ihren Arbeitsplatz, und nicht zuletzt Ihr eigenes Ansehen zu retten!“
„Und wie?“
„Indem Sie ab sofort mit mir zusammenarbeiten und mir alles verraten, was Sie über Edwards diverse Transaktionen wissen.“ Er erkannte den Zweifel in ihrem Blick und beugte sich etwas vor. Eindringlich sah er sie an. „Sie haben nichts zu verlieren, Elisabeth. Edward kommt nicht zurück, er hat Sie feige im Stich gelassen. Die Herren von der Staatsanwaltschaft werden nicht zimperlich mit Ihnen umgehen. Für die sind Sie mitschuldig. Es sei denn...“
„Ja?“, hauchte Elisabeth mit hochroten Wangen.
Matt lächelte.
„Es sei denn, ich verbürge mich für Ihre Loyalität und bekomme als Gegenleistung dafür alle Informationen, die mir weiterhelfen können.“
Elisabeth nickte heftig.
„Ich wollte niemanden betrügen, das müssen Sie mir glauben! Ich werde alles tun, um Ihnen zu helfen.“
„Fein.“ Matt stand auf, griff sich Block und Stift und reichte ihr beides. „Dann möchte ich Sie bitten, sofort damit anzufangen. Schreiben Sie alles auf, was Sie wissen! Jede Kleinigkeit kann wichtig sein.“
Einen Augenblick lang starrte ihn Elisabeth schockiert an, dann jedoch nickte sie nur stumm und machte sich an die Arbeit.
„Matt, Telefon für dich“, rief Mitch und reichte ihm das Firmenhandy. „Danielle ist dran. Sie klingt aufgeregt.“
*
„Na, das sieht doch alles recht gut aus“, meinte Dr. Pares mit einem zuversichtlichen Lächeln, nachdem er Mason gründlich untersucht hatte. Die auf der anderen Seite des Bettes stehende Schwester gab eifrig die von ihm genannten Werte in den Computer ein.
„Würden Sie mir jetzt endlich sagen, was mit mir passiert ist“, forderte Mason eindringlich.
Dr. Pares nickte.
"Dazu kommen wir gleich. Nur noch einen Augenblick Geduld.“ Er holte eine kleine Lampe aus der Kitteltasche und leuchtete damit in Masons Augen.
„Pupillentätigkeit normal“, diktierte er der Schwester als abschließenden Befund und bedeutete ihr mit einem Kopfnicken, dass sie gehen konnte, bevor er sich wieder an seinen Patienten wandte. Er zog sich einen Hocker ans Bett heran und setzte sich.
„Tja, Mister...“
„Mason. Bitte nennen Sie mich Mason.“
„Okay, Mason also Sie sind hier im CENTINELA Hospital in Los Angeles, Kalifornien. Können Sie sich erinnern, wie Sie hier her gekommen sind, und was Sie hier wollten?“
Mason schüttelte den Kopf.
„Ich habe keine Ahnung, Doc.“
„Leben Sie vielleicht in LA?“
„Nein, in Cambridge.“
“Wo liegt denn das?”
„In Südost-England.“
„Dann sind Sie nur zu Besuch hier?“
„Ich kann mich nicht erinnern, es ist gerade so, als ob ich im Nebel stehe“, flüsterte Mason verwirrt.
Dr. Pares nickte verständnisvoll.
„Lassen Sie sich Zeit, Mason. Nebel lichtet sich irgendwann, deshalb werde ich Ihnen immer wieder Fragen stellen. Vielleicht finden wir ja auf irgendetwas eine Antwort. Das wäre ein Anfang.“
Der Patient nickte mit zusammengebissenen Zähnen. Das Reden fiel ihm schwer, sein Kopf schmerzte, als würde darin jemand mit einem Presslufthammer arbeiten, und er fühlte sich kaputt und leer.
„Also“, fuhr Dr. Pares geduldig fort. „Sie müssen irgendetwas hier im CENTINELA zu tun gehabt haben. Oder wollten Sie jemanden besuchen? Der Unfall passierte direkt vor dem Eingang zur Klinik.“
„Ein Unfall?“ Mason hob unter größter Anstrengung den Kopf und starrte den Arzt neben seinem Bett erschrocken an. „Ich hatte einen Unfall?“
„Ein betrunkener Autofahrer hat Sie mit seinem Jeep frontal erwischt. Wir mussten Ihre Milz entfernen, Sie haben eine Fraktur des linken Unterarmes, den wir aus diesem Grund vorübergehend in Gips gelegt haben, Ihr Brustbein und zwei Rippen sind angeknackst, was Ihnen sicher in nächster Zeit noch ein paar Probleme beim Bewegen verursachen wird, von diversen Prellungen und Blutergüssen ganz abgesehen.“
Mason griff mit der Hand nach dem Kopfverband.
„Und... das hier, Doc? Was ist damit? Ich habe höllische Kopfschmerzen!“
„Hatten Sie die schon früher?“
Mason nickte.
„Oh ja, schon immer. Aber diese hier sind anders.“
„Der Schmerz, den Sie jetzt in Ihrem Kopf fühlen, rührt von der Operation her. Sie hatten eine Kopfverletzung, die uns einige Sorgen bereitet hat.“ Der Arzt sah Mason deutlich an, dass er das eben Gehörte erst einmal verarbeiten musste und schwieg einen Moment, während sein Patient den Kopf in die Kissen zurückfallen ließ. „Ich werde veranlassen, dass die Schwester die Dosis des Schmerzmittels übergangsweise erhöht“, sagte er nach einer Weile.
Mason suchte seinen Blick.
„Doc... Warum habe ich die ganze Zeit das Gefühl, dass das noch nicht alles war, was Sie mir sagen wollten?“
„Sie sollten erst einmal etwas schlafen, Sie sind noch sehr schwach. Wir reden morgen weiter.“
„Nein! Wenn da noch irgendetwas ist, dann will ich es sofort wissen!“, beharrte Mason unter größter Anstrengung.
„Also gut.“ Dr. Pares straffte die Schultern. „Während der Operation an Ihrem Gehirn haben wir einen Tumor entdeckt. Ihn zu entfernen, war sehr schwierig, aber es ist geglückt.“
„Ein Tumor? Sie meinen, eins von diesen kleinen, bösartigen Dingern, die einen früher oder später langsam umbringen?“
„Ob er Sie irgendwann umgebracht hätte, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Sicher ist, dass Sie ihn schon ziemlich lange in sich getragen haben. Daher auch die Kopfschmerzen“, erwiderte Dr. Pares etwas ausweichend. Er wollte den Patienten nicht unnötig beunruhigen, sondern sich erst vorsichtig vortasten, um zu erfahren, in wie weit Masons Gedächtnis nach der OP wieder funktionierte. „Die Operation ist sehr gut verlaufen“, meinte er diplomatisch und nickte Mason aufmunternd zu. „Nun müssen wir langsam und schrittweise versuchen, Ihr Gedächtnis wieder auf Touren zu bringen. Wie bereits gesagt, ich helfe Ihnen dabei. Fürs Erste würde es reichen, wenn Sie mir verraten, was das Letzte ist, an was Sie sich spontan erinnern können.“
Mason schloss für einen Moment erschöpft die Augen.
„Das Letzte... Ich muss kurz nachdenken...“, murmelte er, während in seinem Kopf Gedankenfetzen wie grelle Blitze aufleuchteten und wieder verschwanden, ohne dass er einen davon greifen konnte. „Verdammt, Doc... Sind Sie sicher, dass Sie in meinem Oberstübchen nicht irgendeine Hauptleitung gekappt haben?“, fragte er sarkastisch, obwohl ihm eigentlich nicht nach Scherzen zumute war.
Dr. Pares lachte und stand auf.
„Hören Sie, Mason, Sie können denken, und Sie können kommunizieren. Dabei sollten wir es vorerst belassen. Sie brauchen Ruhe. Ich sehe später noch einmal nach Ihnen.“ Er legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. „Bis dahin versuchen sie ein wenig zu schlafen, und vor allem hören Sie auf, sich unnötig zu quälen. Die Erinnerung kommt meist von ganz allein zurück.“
„Wenn Sie das sagen...“
Die Stationsschwester steckte den Kopf zur Tür herein.
„Doktor Pares? Er ist jetzt da. Soll ich ihn hereinschicken?“
Der Arzt überlegte einen Augenblick und nickte dann kurz entschlossen.
„Gut, aber nur ein paar Minuten.“ Er wandte sich an Mason. „Können Sie noch einen kurzen Besuch verkraften? Da ist jemand, der Sie unbedingt sehen möchte.“
Zögernd betrat Matt Masons Krankenzimmer, den Blick erwartungsvoll auf seinen Bruder gerichtet, der dort lag, noch immer an zahlreiche Apparate und diverse Schläuche angeschlossen.
Gleich nachdem Danielle ihn aus der Klinik angerufen und ihm mitgeteilt hatte, Mason sei aufgewacht, hatte er im Büro alles stehen und liegen gelassen und war hergefahren.
„Er erinnert sich nicht, was vor dem Unfall passiert ist“, hatte Dr. Pares ihn an der Tür kurz informiert. „Wir müssen behutsam vorgehen. Bitte keinerlei Aufregung!“
Nein, er würde ihn nicht aufregen, nicht, wenn es sich vermeiden ließ. Was aber, wenn sein Anblick ausreichte, um alles wieder hervorzuholen?
Matt atmete tief durch. Egal, was geschah, er musste wissen, wie es um seinen Bruder stand.
Mason lag mit geschlossenen Augen da und wirkte ziemlich erschöpft. Als er Schritte vernahm, öffnete er die Augen und starrte seinen Besucher sekundenlang wie gebannt an, bevor er reagierte.
„Du?“, brachte er erstaunt heraus.
„Hallo Mason“, sagte Matt und trat zögernd näher. „Wie geht es dir?“
Masons blasse Lippen verzogen sich zu einem gequälten Lächeln.
„Ging schon mal besser.“ Seine Augen fixierten Matt. „Du hättest wegen mir nicht so eine weite Reise machen müssen. Aber es ist schön, dass du da bist. Ich vermute, ich habe euch einen ziemlichen Schrecken eingejagt!“
Matt überlegte insgeheim, wen er wohl mit „euch“ alles meinen könnte.
„Du bist stark, du schaffst das schon.“
„Bleibst du hier?“
Er nickte, unendlich erleichtert darüber, dass Mason ihn allem Anschein nach wiedererkannte und ihm überdies sogar freundlich gesinnt zu sein schien.
„Wenn du mich brauchst, werde ich da sein.“
Mason lächelte zufrieden und schloss die Augen.
„Dann ist es gut“, murmelte er.
Matt setzte sich für eine Weile ans Bett seines Bruders und sah auf dessen entspanntes Gesicht. Mason schien eingeschlafen zu sein, denn sein Atem ging regelmäßig, unterstützt von dem monotonen Piepton auf dem Überwachungsmonitor.
´Vielleicht wird nun doch noch alles gut, und wir können in Zukunft wie zwei vernünftige Menschen miteinander umgehen´, dachte Matt in einem Anflug vorsichtiger Zuversicht.
Er schrak zusammen, als Dr. Pares unbemerkt hinter ihn getreten war und ihm seine Hand auf die Schulter legte.
„Es ist besser, wenn wir den Patienten jetzt allein lassen“, sagte der Arzt leise. „Er ist erschöpft und muss erst allmählich zu Kräften kommen. Ich möchte nicht, dass er sich überanstrengt.“
Matt nickte verständnisvoll und erhob sich. Mit einem letzten Blick auf Masons ruhiges, bleiches Gesicht drehte er sich um und folgte Dr. Pares zur Tür.
„Warte...“
Mühevoll hob Mason den bandagierten Kopf und starrte seinem Besucher nach, der eben das Zimmer verlassen wollte.
Der drehte sich überrascht um.
„Ja?“
„Wo ist Matt?“, fragte Mason gespannt. „Warum ist er nicht mitgekommen? Sei ehrlich Dad, ist er noch immer sauer auf mich?“