„So, das haben Sie wirklich ausgezeichnet gemacht.“
Die Physiotherapeutin nahm Claudias Arm und führte sie den Flur entlang zu ihrem Zimmer. „Ich bringe Sie jetzt zurück, damit Sie sich ausruhen können. Schließlich sollen Sie sich ja nicht gleich überanstrengen.“
Claudia, glücklich darüber, dass sie so gute Fortschritte machte, blieb zögernd stehen und hielt sich mit einer Hand an dem Geländer fest, das vom Treppenaufgang her den oberen Flur einsäumte.
„Vielen Dank, aber das letzte Stück schaffe ich allein“, versicherte sie der Therapeutin, die bereits mehrmals unruhig zur Uhr geblickt hatte. „Ich werde ganz bestimmt langsam gehen, genauso, wie Sie es mir gezeigt haben.“
„Na gut“, stimmte die junge Frau lächelnd zu. „Ich bin ohnehin ziemlich spät dran und muss meinen nächsten Termin einhalten. Aber bitte sehen Sie sich vor!“
Claudia atmete erleichtert auf. Wieder stundenlang allein in diesem Zimmer zu hocken, empfand sie als furchtbar. Dann schon eher hier draußen noch ein wenig laufen üben.
Sie sah der Therapeutin nach, die zurück zur Treppe hastete und ihr noch einmal zuwinkte, bevor sie nach unten verschwand.
´Bald... sehr bald schon werde ich auch wieder so laufen können´, dachte sie sehnsüchtig.
Anstatt wie versprochen zurückzugehen, setzte Claudia mechanisch einen Fuß vor den anderen, bis sie vor der Treppe stand, die hinunterführte. Unten hörte sie Madame Dolores in der Küche hantieren.
Manuels Mutter, ihre ehemalige Schwiegermutter. Sie war ihr fremd geblieben, und auch jetzt, nach dem Unfall, begegnete ihr Dolores immer noch mit einer Zurückhaltung, die fast schon an Feindseligkeit grenzte. Claudia konnte sich nicht erklären, warum das so war. Sie hatte dieser Frau doch gar nichts getan. Aber sie spürte auch kein Verlangen, Madame Dolores deswegen zur Rede zu stellen. Also drehte sie sich um und wollte schon zurückgehen, als unten plötzlich die Haustür geöffnet wurde.
Claudia lauschte verwundert. Wer konnte das um diese Zeit sein? Vielleicht Stefano, der eine Pause nutzte, um nach ihr zu sehen? Bei diesem Gedanken begann ihr Herz unwillkürlich schneller zu schlagen und sie reckte neugierig den Hals.
„Mama?“
Das war Marinas Stimme, stellte Claudia enttäuscht fest. Sie hörte, wie Stefanos Schwester ihre Schritte zur Küche hinüberlenkte. „Mama, bist du da?“
„Marina!“ Schwungvoll öffnete Dolores die Tür und kam herausgeeilt, sich die Hände an ihrer altmodischen Schürze abwischend. „Kind, was tust du denn um diese Zeit hier? Hast du schon gefrühstückt?“
„Danke, ich habe keinen Hunger. Mama, ich muss unbedingt mit dir reden!“
Hellhörig geworden blieb Claudia oben an der Treppe stehen und lauschte interessiert. Schien es ihr nur so, oder klang Marinas Stimme heute besonders angespannt und nervös?
„Ich habe etwas sehr Dummes getan“, hörte sie deutlich Marinas aufgeregte Stimme. „Und nun ist Matt kurz davor, alles herauszufinden!“
„Beruhige dich bitte, Marina.“ Madame Dolores warf einen kurzen besorgten Blick in Richtung des oberen Flures und schob ihre Tochter in die Küche. “Komm herein und setz dich erst einmal.“
„Kann Claudia uns hören?“, fragte Marina, der der Blick ihrer Mutter nicht entgangen war.
„Nein.“ Dolores schüttelte den Kopf. „Sie ist oben in ihrem Zimmer und übt mit dieser Therapeutin, die Stefano extra für sie eingestellt hat.“
„Macht sie Fortschritte?“
Dolores schnaubte verächtlich.
„Was weiß ich! Es ist eine Schande, dass mein Sohn sein Geld für diese teure Behandlung zum Fenster hinauswirft. Er trägt schließlich keine Schuld an dem, was geschehen ist.“
„Er meint es doch nur gut“, beschwichtigte Marina ihre Mutter. „Claudia hat es schon schwer genug. Sie tut mir wirklich leid.“
„Was stöbert sie auch mitten in der Nacht in unbefestigten Höhlen herum! Sie hätte ihre Zeit von vorn herein besser nutzen sollen. Beispielsweise als gute Ehefrau, so wie sich das gehört. Dann hätte Manuell auch keinen Grund gehabt, sie zu verlassen.“
„Du bist ungerecht“, widersprach Marina. „Du weißt ganz genau, dass Claudia keine Schuld daran hat, dass er sich letztlich so entschieden hat.“
„Ach nein?“, rief Dolores erbost. „Glaubst du wirklich, dass das Schicksal stärker sein kann als wahre Liebe?“
Marina nickte mit zusammengepressten Lippen.
„Ja, manchmal schon. Leider.“
„Ach papperlapapp“, wehrte Dolores unbeirrt ab. „Jedenfalls haben wir diese Frau nun noch länger auf dem Hals, als uns allen lieb ist!“
„Mama“, rief Marina ungehalten. „Was redest du denn da? Schließlich gehört Claudia zur Familie.“
„Nicht mehr“, widersprach die Wahrsagerin grimmig. „Eigentlich hat sie nie wirklich dazugehört.“
„Sie war immerhin Manuels Frau“, beharrte Marina. „Außerdem habe ich das Gefühl, als ob sie Stefano nicht ganz gleichgültig ist.“
Dolores schnaubte verächtlich.
„Natürlich nicht. Der dumme Junge! Er fühlt sich für sie verantwortlich.“
„Er ist schon lange kein Junge mehr, das solltest du endlich begreifen“, erwiderte Marina. „Ich glaube, er mag sie.“
„Dios mio, nur das nicht“, rief Dolores erschrocken.
„Ach Mama“, mahnte Marina kopfschüttelnd, doch Dolores hatte sich entschlossen, das Thema zu beenden. Sie setzte sich ihrer Tochter gegenüber an den Küchentisch und musterte sie gespannt.
„Aber du bist nicht hergekommen, um mit mir über die geschiedene Frau deines Bruders zu reden“, mutmaßte sie. „Was bedrückt dich, mein Kind?“
Marina seufzte.
„Ich glaube, ich habe einen unverzeihlichen Fehler gemacht.“
Dolores horchte auf.
„Was für einen Fehler?“
Marina senkte die Augen unter dem forschenden Blick ihrer Mutter und starrte auf die Tischplatter vor sich.
„Ich wollte, dass es niemand jemals erfährt, zu allerletzt Matt. Es sollte ewig ein Geheimnis bleiben. Aber ich fürchte, ich kann mit dieser Lüge nicht leben.“
„Wovon redest du?“
„Von dem Baby, das ich erwarte.“
„Was ist damit?“
Marina hob den Blick und sah ihrer Mutter schuldbewusst in die Augen.
„Es ist nicht von Matt, Mama. Es ist von Mason.“
Dolores sprang erschrocken auf.
„Was sagst du da? Dios mio, Marina! Du erwartest ein Kind von diesem… diesem Teufel?“
„Er war nicht immer so.“
Ungläubig musterte Dolores ihre Tochter.
„Dann bist du also schon länger schwanger, als du angegeben hast.“
Marina starrte stumm vor sich hin, und plötzlich vermochte sie die Tränen nicht länger zurückzuhalten.
„Ich wollte Matthew zurück, und ich wollte, dass alles wieder so ist, wie früher, und dass wir eine Familie sind, er und ich... und das Baby!“
„Masons Baby“, stellte Dolores mit versteinertem Gesicht klar.
„Mein Baby!“, beharrte Marina schluchzend. „Es ist meines, und ich will es haben!“
„Natürlich willst du es haben“, fuhr Dolores sie an und sank zurück auf ihren Stuhl. „Aber du hättest dir vorher den richtigen Vater dafür aussuchen sollen!“
Marina schüttelte nur den Kopf.
„Das war doch nicht geplant. Als ich meine Schwangerschaft bemerkte, war ich völlig verzweifelt. Und dann kam ich auf den Gedanken, dass es ja vielleicht nicht auffallen würde, wenn...“, flüsterte sie mit versagender Stimme. „Wo die beiden doch Zwillingsbrüder sind!“
„Doch wohl nur äußerlich“, sinnierte Dolores kopfschüttelnd und zog die Augenbrauen zusammen. „Aber du warst doch mit Matt wieder zusammen!“
„Nein.“
„Nein? Ja aber...“
Marina griff sich an ihre Schläfen, hinter denen sich ein dumpfer Kopfschmerz auszubreiten begann.
„Ich war gar nicht mit ihm zusammen, Mama“, gestand sie verzweifelt. „Ich habe nur alles so arrangiert, dass er das glaubt.“
„Was sagst du da? Ich fasse es nicht!“ Dolores sprang erneut auf und lief gleich darauf aufgeregt zur Tür. „Warte einen Augenblick, bevor wir weiterreden. Es ist besser, ich sehe nach, ob diese Therapeutin noch durchs Haus schleicht.“
Auf dem Flur am Treppenaufgang bekam Claudia einen tödlichen Schrecken.
Dolores war auf dem Weg nach oben!
Panisch drehte sie sich um und wollte in ihr Zimmer zurücklaufen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht. Sie strauchelte, verlor das Gleichgewicht und konnte sich nicht mehr halten. Sie spürte, wie sie fiel und noch im Fallen hart mit dem Kopf irgendwo aufschlug. Alles um sie herum verschwamm zu undeutlichen Schatten. Sie hörte wie aus weiter Ferne aufgeregte Stimmen und Schritte, die auf sie zukamen und zusammen mit ihrem eigenen Herzschlag in ihren Ohren wie Trommelschläge widerhallten.
Dann wurde es dunkel um sie herum, und sie verlor das Bewusstsein…
*
Matt saß über einigen Werbeverträgen, die noch durchgesehen werden mussten, doch er konnte sich nicht recht konzentrieren. Immer wieder starrte er auf den Notizzettel, den er in Marinas Krankenakte gefunden und mitgenommen hatte, und dessen Inhalt er bereits auswendig kannte. Außerdem gingen ihm Sukis Worte nicht mehr aus dem Kopf.
„Und wenn du irgendwelche Zweifel an der ganzen Sache hast, dann lass einen Vaterschaftstest machen. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Aber du solltest gut darüber nachdenken.“
Inzwischen war er ziemlich sicher, dass Suki Marinas virtuelle Krankenakte in voller Absicht aufgerufen und den PC dann in seine Richtung gedreht hatte. Schließlich musste sie ihre ärztliche Schweigepflicht wahren, und deshalb hatte sie nach einer Möglichkeit gesucht, ihm trotzdem einen Wink zu geben.
Er ärgerte sich, dass er Marina während seines Besuches bei ihr nicht direkt gefragt hatte, ob das Baby, das sie erwartete, wirklich von ihm war. Immerhin war sie sichtlich nervös geworden, als er begonnen hatte, ihr ein paar Fragen zu stellen. Vielleicht war ihre Schwangerschaft wirklich schon weiter fortgeschritten, als sie zugab? Aber wenn das der Fall wäre, dann käme er als Vater des Kindes nicht in Frage.
Vielleicht sollte er seine Ex- Frau einfach zu diesem Ultraschall-Termin begleiten. Am Ende bekam er dort etwas über den genauen Geburtstermin heraus.
Nachdenklich strich er sich über die Stirn.
Marina war das eine Problem. Danielles Verschwinden ein anderes, dass ihn ebenfalls nicht zur Ruhe kommen ließ. Er war gespannt, wann sich dieser Privatdetektiv bei ihm melden würde. Ob er wohl eine Spur von ihr fand? Je eher, desto besser. Er musste unbedingt endlich wissen, wo sie sich aufhielt, er musste sie wiedersehen und mit ihr reden.
Nur mit Mühe unterdrückte er ein Stöhnen. In Augenblicken wie diesen glaubte er, die Sehnsucht nach ihr würde ihn um den Verstand bringen.
So wie vorhin, als er Marinas Wohnung verließ und unweit von ihm ein unbekanntes Auto die Straße hinunterfuhr. Einen Augenblick lang hatte er tatsächlich geglaubt, Danielle säße am Steuer. Aber das war unmöglich, auch wenn er sich das mit jeder Faser seines Herzens wünschte.
Er versuchte sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren, doch er wusste, dass ihm das heute sehr schwer fallen würde.
*
Erleichtert und froh, nach einer endlos langen Schicht endlich Feierabend zu haben, nahm John O`Malley seinen Mantel und winkte im Hinausgehen der zierlichen blonden Schwester kurz zu, die hinter dem Empfangstresen der Notaufnahme ihren Dienst tat.
„Bis morgen, Shelby.“
„Bis morgen, Dr. O`Malley“, erwiderte sie mit strahlendem Lächeln.
„Was für ein Mann“, murmelte sie verzückt. „Und so etwas läuft tatsächlich noch frei herum.“
„Irrtum, Shelby. Der ist schon lange nicht mehr frei“, grinste ihre Kollegin, die unbemerkt hinzugetreten war und die Worte gehört hatte. „Da ist diese Neue, wie heißt sie doch gleich?“
„Danielle“, half ihr Shelby auf die Sprünge. „Danielle Belling. Aber die hat nichts mit ihm. Sie sind nur Freunde.“
„Wer`s glaubt“, lachte die andere spöttisch. „Achte mal auf seine Augen, die glänzen wie Sterne über der Südsee, wenn er sie ansieht. Nein, auf den mach dir lieber keine Hoffnung, der ist bereits vergeben.“
John, der nichts von den Diskussionen der beiden Schwestern über sein Liebesleben mitbekam, verließ schnellen Schrittes den Eingangsbereich der Klinik. Draußen war es bereits dunkel. Ein warmer Wind blies ihm ins Gesicht, und er fragte sich wie fast jede Nacht, wenn er so spät vom Dienst kam, warum er eigentlich seine Jacke mitnahm. Eine Gewohnheit aus der Zeit in Chicago.
„Hallo John!“
Sie stand an der nächsten Ecke, und ihr Lächeln ließ sein Herz sofort höher schlagen.
„Danielle, was tust du denn um diese Zeit hier? Dein Dienst beginnt doch erst in zwei Stunden!“
„Ich habe auf dich gewartet“, erwiderte sie und hakte sich ganz selbstverständlich bei ihm unter. „Allerdings lieber hier draußen vor der Klinik. Ich bin sicher, sie reden sowieso schon über uns beide.“
„Lass sie doch tratschen, wenn es ihnen Freude bereitet“, lachte John. „Das macht mir nichts aus.“
„Okay.“ Danielle sah traurig aus, und ihr Lächeln wirkte gequält. „Dann macht es dir sicher auch nichts aus, wenn ich die zwei Stunden bis zu meinem Dienstbeginn überbrücke, indem ich dich zum Essen einlade. Ich muss dir etwas erzählen.“
*
Claudia schlug die Augen auf und sah sich erstaunt um.
Wo war sie? Was war geschehen?
Noch bevor sie darüber nachgrübeln konnte, wie sie hierhergekommen war, öffnete sich die Tür, und Stefano kam hereingestürmt.
„Claudia!“ Mit wenigen Schritten stand er vor ihrem Bett „Du bist wach, das ist gut. Ich habe mir solche Sorgen gemacht, als meine Mutter anrief und mir sagte...“
„Deine Mutter?“ Claudia zog irritiert die Stirn in Falten. „Sie hat dich angerufen?“
„Ja, sie sagte mir, dass du oben im Flur gestürzt bist und einige Zeit bewusstlos warst. Zum Glück war Marina gerade hier, und sie haben sich beide um dich gekümmert und den Krankenwagen gerufen, als du ohnmächtig warst. Der Notarzt hat dich auf Grund deiner Bewusstlosigkeit sofort in die Klinik bringen lassen.“ Er betrachtete lächelnd ihr fassungsloses Gesicht. „Stell dir vor, meine Mutter war richtig besorgt um dich!“
Irritiert griff sich Claudia an die Stirn.
„Ich verstehe nicht... In meinem Kopf geht alles durcheinander.“
Ihr Blick fiel auf die große Wanduhr, die in ihrem Krankenzimmer kaum hörbar vor sich hin tickte. Dieses Ticken drang in ihr Bewusstsein und schwoll zu einem lauten durchdringenden Ton an, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Tick… Tick... Tick…
Claudia glaubte für einige Sekunden, ihr Kopf müsse von dem Geräusch zerspringen und hielt sich entsetzt die Ohren zu.
„Aufhören!“, rief sie panisch und klammerte sich im nächsten Moment zitternd an Stefanos Schultern fest. „Mach, dass dieses Geräusch aufhört! Gleich fliegt alles in die Luft!“
Stefano hielt sie erschrocken fest.
„Beruhige dich, da ist nichts“, versuchte er sie zu beschwichtigen. „Nichts, wovor du Angst haben musst! Ich bin doch bei dir.“
Claudia schluchzte laut auf.
„Ich... dieses Geräusch...“ Schlagartig hob sie den Kopf und starrte Stefano an.
„Oh mein Gott! Ich weiß es wieder! Ich habe das schon einmal gehört, und zwar in der Höhle! Als ich dort drin war, an dem Abend, als die Höhle einstürzte! Der Zeitzünder, ich habe ihn gesehen, er war an der Felswand angebracht! Da war Sprengstoff und ein Fernzünder. Es waren nur noch Sekunden, bis...“ Entsetzt schlug sie die Hände vors Gesicht. „Es war schrecklich, ich wusste, ich würde es nicht mehr zurückschaffen! Ich bin in die andere Richtung gelaufen, auf das OCEANS zu, ich habe gehofft, dass die Zeit vielleicht noch reicht. Aber dann, dann gab es einen gewaltigen Knall und alles war dunkel!“
Stefano sah sie schockiert an.
„Was sagst du da? Eine Sprengung? Bist du sicher, Claudia?“
Sie nickte heftig.
„Ja, ich erinnere mich genau. Es ist alles wieder da. Ich sehe es glasklar vor mir. Ich muss ohnmächtig geworden sein und bin später noch einmal zu mir gekommen. Da war ich schon eingeklemmt. Ich fand meine Taschenlampe neben mir, habe sie eingeschaltet und dann habe ich gesehen... Oh, es war so furchtbar, Stefano!“
Tränen schossen ihr in die Augen und sie begann am ganzen Körper zu zittern, als sie an diesen Augenblick dachte. „Ich war wie lebendig begraben. Ich habe mit der Lampe auf die Steine geklopft, immer und immer wieder.“
„Es ist ja gut.“ Obwohl Stefano diese überraschende Aussage momentan selbst schockierte, schloss er sie beruhigend in seine Arme und streichelte zärtlich ihr Haar. „Es ist vorbei, jetzt kann dir nichts mehr geschehen.“
Claudias Kopf lag an seiner Schulter.
„Ich hatte so wahnsinnige Angst, Stefano“, schluchzte sie.
„Keine Sorge, du bist hier sicher“, flüsterte er leise. „Ich verspreche dir, ich werde herausbekommen, wer für all das verantwortlich ist, und dann Gnade ihm Gott!“
*
Sie saßen in dem kleinen Imbiss unweit der Klinik. Hier hatten sie schon ein paar Mal ihre Mittagspause verbracht. Die halbe Klinikbelegschaft verkehrte in diesem Lokal, aber heute Abend war zum Glück kein bekanntes Gesicht unter den Gästen zu sehen.
Danielle stocherte lustlos in ihrem Salat herum. John bemerkte besorgt die dunklen Schatten unter ihren Augen, und er brauchte nicht erst zu fragen, um zu wissen, dass sie heute nach der Nachtschicht sicher nicht viel geschlafen hatte.
„Dieses Wochenende haben wir beide frei“, sagte er aufmunternd und griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand. „Du solltest dich als erstes richtig ausschlafen. Und wenn wir mit George hinaus auf diese Insel fahren, legst du dich in die Sonne und faulenzt nach Herzenslust.“
Ein schwaches Lächeln war die Antwort.
„Klingt gut.“
„Hey, was ist denn los, Danielle? Du wolltest mir doch etwas erzählen! Also, komm schon! Was gibt es für Neuigkeiten?“
Sie legte etwas zögernd die Gabel weg.
„Ich hatte mir deinen Wagen geborgt.“
„Ja, ich weiß. Du wolltest zum Einkaufen fahren. Das ist doch in Ordnung.“
„Ich war aber nicht einkaufen, John“, erwiderte sie, hob den Blick und sah ihn bedeutungsvoll an. „Ich war in Sunset City.“
„Wow“, brachte er nur überrascht heraus. „Und weiter?“
„Ich habe deinen Rat befolgt und wollte noch einmal mit Matt sprechen. Also bin ich zu seinem Haus gefahren. Aber er war nicht da.“ Um ihre Lippen lag ein bitteres Lächeln. „Daraufhin bin ich zu Marinas Wohnung gefahren. Ich wollte wissen, ob er bei ihr ist.“
John sah sie fragend an und Danielle nickte nur stumm zur Bestätigung.
„Er war dort. Damit dürfte nun alles geklärt sein.“
„Das tut mir leid, Danielle.“
„Nein“, wehrte sie mit einer entschiedenen Handbewegung ab. „Vielleicht war es gut so. Jetzt weiß ich wenigstens Bescheid. Ich brauche mich nicht ständig zu fragen, was wäre, wenn... Nun habe ich meine Bestätigung. Es ist vorbei.“ Sie atmete tief durch und nahm einen Schluck von ihrem Mineralwasser, bevor sie weitersprach. „Ich war vorhin in Westwood Village und habe mich an der UCLA eingeschrieben.“
Auf Johns Gesicht machte sich Erstaunen breit.
„Du hast dich also entschieden!“
„Ja. Ich werde Medizin studieren, hier in LA“, nickte sie mit einer Entschlossenheit, die ihn überraschte. „So geht wenigstens einer meiner Träume in Erfüllung.“
„Okay“, lächelte John, hob sein Glas und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Dann lass uns auf deine Zukunft anstoßen, Frau Doktor Belling! Ich werde mich gleich morgen darum kümmern, dass du dein Praktikum an unserer Klinik absolvieren kannst, und dass du einen Mentor bekommst, der dir so richtig das Leben schwer macht!“
Danielle lachte, zum ersten Mal an diesem Abend.
„Du redest doch nicht etwa von dir, oder?“
„Ja klar, von wem sonst!“
„Du würdest dich dazu bereit erklären, mein Mentor zu sein?“
„Warum nicht? Ich schikaniere für mein Leben gerne attraktive junge Studentinnen.“
Danielle beugte sich spontan vor und küsste ihn auf die Wange.
„Vielen Dank, John du bist wirklich ein guter Freund. Der beste, den ich habe!“
Keiner von beiden hatte den Mann bemerkt, der unweit von ihnen in einer Nische saß. Auch das mehrmalige kurze Klicken einer Handykamera ging im allgemeinen Gaststättenbetrieb unter.
Zufrieden lächelnd winkte der Mann dem Kellner, zahlte, erhob sich und verließ den Imbiss, ohne sich noch einmal umzudrehen.
*
Mason und Cynthia saßen gemeinsam in Masons Hotelzimmer und sprachen über die derzeitige finanzielle Situation von HAMILTON & SHELTON ENTERPRISES. Etwas gelangweilt blickte Mason auf die Unterlagen, die Cynthia vor ihm ausbreitete.
„Allmählich erholt sich die HSE von den enormen Ausgaben, die durch den Bau der Ferienanlage entstanden sind“, erklärte sie geschäftig. „Dank einiger wichtiger Investoren, vor allem aber durch die präzise Leitung der Firma ist alles noch relativ überschaubar geblieben. Die HSE hat in der Immobilienbranche einen makellosen Ruf.“
„So etwas kann sich manchmal schlagartig ändern“, erwiderte Mason trocken. „Du bist also der Meinung, Matt führt die Firma gut?“
„Er ist zwar nur einer von drei stimmberechtigten Teilhabern, aber er ist zweifellos der Beste“, nickte Cynthia überzeugt. „Er ist ein umsichtig, loyal und verantwortungsbewusst. Und er ist clever. Wenn ihr beide zusammenarbeiten würdet, anstatt gegeneinander, könntet ihr wirklich viel erreichen.“
Mason glaubte sich verhört zu haben. Seine Augen verengten sich augenblicklich und Cynthia verstummte erschrocken, als sie seinen finsteren Blick sah.
„Sagtest du eben zusammenarbeiten?“, fragte er fassungslos. „Hast du vergessen, warum wir hier sind? Verdammt Cynthia, ich will die Firma übernehmen oder sie vernichten, und nicht mit meinem Bruder zusammenarbeiten!“
„Also ich finde, Matt ist wirklich nicht...“, versuchte Cynthia vorsichtig einzulenken, doch er sprang auf und hieb wütend mit der Faust auf den Tisch.
„Hat dich dieser Bastard etwa auch schon um den Finger gewickelt? Das kann er nämlich richtig gut! Allerdings hatte ich dich um einiges klüger eingeschätzt! Man kann ihm nicht trauen! Keiner kann das!“ Er funkelte sie böse an. „Herrgott nochmal, wie naiv bist du eigentlich?“
Cynthia blickte ihn erschrocken an und presste dann beleidigt die Lippen zusammen.
„Immerhin naiv genug, um mich mit dir einzulassen“, murmelte sie leise und wandte sich ab, damit er nicht sah, wie sehr seine Worte sie verletzt hatten.
„Was hast du gesagt?“, fragte er lauernd.
„Ach nichts. Vergiss es“, erwiderte sie abweisend und begann, die herumliegenden Firmenunterlagen zusammenzupacken.
Mason achtete nicht weiter auf sie, sondern trat zum Fenster und starrte hinaus. Hinter seiner Stirn pochte sofort wieder dieser quälende dumpfe Kopfschmerz. Nichts konnte ihn mehr verletzen, als wenn jemand in seiner Gegenwart die Vorzüge seines Zwillingsbruders anpries. Clever, verantwortungsbewusst, loyal. So verdammt loyal, dass ihm allein schon von dem Wort schlecht wurde!
´Sie versteht das nicht. Keiner kann das verstehen´, dachte er zerknirscht. ´Ich werde erst Ruhe finden, wenn mir all das gehört, was ihm lieb und teuer ist: Seine Firma, die Frau, die er liebt, sein Leben...´
Er drehte sich abrupt zu Cynthia um, als diese mit den Unterlagen im Arm soeben das Zimmer verlassen wollte.
„Gib mir die Key Card!“
„Wie bitte?“, fragte sie ungläubig und blieb stehen.
„Deine Schlüsselkarte zur HSE. Ich will mich dort ein wenig umsehen!“
*
Nach Feierabend verließ Matt das Büro. Er ging allerdings nicht, wie so oft in letzter Zeit, in Richtung Hafen, um mit seinem Boot nach Paradise Island zu fahren, sondern schlug noch einmal den Weg zum Ocean Drive ein.
Entschlossen, endlich die Wahrheit herauszufinden, läutete er an Marinas Tür. Er würde nicht eher wieder gehen, bis auch der letzte Zweifel beseitigt war, so oder so.
In der Wohnung jedoch blieb alles still. Erneut drückte er auf den Klingelknopf, diesmal mit Nachdruck. Nichts. Er fluchte leise vor sich hin und hatte das Gefühl, einmal mehr auf der Stelle zu treten und einfach nicht voranzukommen. Enttäuscht wandte er sich ab und wollte bereits wieder gehen, als die Tür zur Nachbarwohnung einen Spalt breit geöffnet wurde, und das spitze, neugierige Gesicht einer alten Dame zum Vorschein kam.
„Wollen Sie zu Misses Cortez-Shelton?“, fragte sie.
Matt nickte und bemühte sich um ein halbwegs verbindliches Lächeln. „Wissen Sie, wo ich sie finden kann?“
„Sie ist nicht zu Hause“, erklärte die Dame überflüssigerweise und taxierte ihn mit ihren kleinen, wieselflinken Augen von Kopf bis Fuß. Ein äußerst attraktiver Mann, der Marina da besuchen wollte. War der nicht heute Morgen schon mal dagewesen? Das wäre doch ein nettes Thema beim nächsten Kaffeekränzchen!
„Sind Sie ein Freund von ihr?“, erkundigte sie sich neugierig und gab, während sie sich ein Stück weiter durch den Türspalt schob, den Blick auf eine buntkarierte Kittelschürze und riesige Filzlatschen frei. Mit ihrer Hakennase erinnerte sie Matt an eine nicht gerade sympathische Märchenfigur aus seiner Kindheit, deren Namen er vergessen hatte.
„Nein, ich bin ihr Ex-Mann, Ma`m“, erwiderte er zerknirscht.
„Oh, Mister Shelton, wie nett, Sie kennenzulernen!“ Die Tür öffnete sich noch ein Stück weiter und die Nachbarin watschelte auf den Flur. „Das tut mir leid, dass Sie umsonst hergekommen sind. Aber wie gesagt, sie ist nicht da.“
„Na gut, dann werde ich später noch einmal vorbeischauen“, antwortete Matt hastig, um endlich den sensationslüsternen Blicken der älteren Dame zu entgehen.
„Tja also, ich fürchte, das wird Ihnen nicht viel nützen“, meinte diese und genoss es sichtlich, mehr zu wissen als er. „Sie werden sie nämlich weder jetzt noch später antreffen.“
Matt, schon im Gehen begriffen, blieb stehen und spürte, wie sich seine Geduld langsam aber sicher dem Ende neigte.
„Ach nein?“, fragte er so höflich wie möglich. „Wären Sie bitte so freundlich mir zu sagen, wieso nicht?“
Die Wieselaugen blitzten triumphierend auf.
„Weil sie nämlich verreist ist!“
*
Mason öffnete mit Hilfe von Cynthias Key Card mühelos die Eingangstür zu den Büroräumen der Chefetage. Seine Verkleidung hatte er unten im Wagen gelassen. Momentan war er wieder einmal „Matt“.
Nachdem er aus sicherer Entfernung von seinem Wagen aus heimlich beobachtet hatte, wie nach und nach alle Angestellten der HSE sowie sein Bruder und dessen Geschäftspartner die Firma verlassen hatten, war er hineingegangen.
Der Wachdienst schöpfte keinen Verdacht, als „Mr. Matthew Shelton“ noch einmal zurückkehrte. Er hatte anscheinend oben in seinem Büro etwas vergessen. So etwas sollte ja gelegentlich vorkommen...
Mason betrat das Büro seines Bruders und sah sich interessiert um. Der Raum war überraschenderweise nicht abgeschlossen, wohl aber Matts Schreibtisch, sowie der daneben stehende Aktenschrank und der im Büro befindliche Safe, der mit Sicherheit alle wichtigen Geschäftsunterlagen enthielt.
Nun, das dürfte kein großes Problem sein, fand Mason angesichts der recht einfach erscheinenden Sicherungstechnik. Damit würde ein Profi wie er schon fertigwerden.
Während er noch überlegte, womit er beginnen sollte, summte die Wechselsprechanlage, die mit dem Sicherheitsdienst verbunden war.
Mason fuhr erschrocken zusammen. Verdammt, er würde rangehen müssen, denn der Beamte hatte ihn ja gesehen. Um keinen Verdacht zu erregen, drückte er schließlich auf den Knopf und meldete sich.
„Was gibt es?“
„Mister Shelton, da ist ein Sam Logan, der Sie unbedingt sprechen will. Er behauptet, Sie würden ihn jederzeit empfangen, da er wichtige Neuigkeiten für Sie hätte, auf die Sie angeblich warten!“
Masons Gesicht verzog sich zu einem Grinsen.
Neuigkeiten, die Matt oder die Firma betrafen, waren immer gut.
„Schicken Sie ihn herauf!“
Er setzte sich hinter dem Schreibtisch in Positur, als sich kurz darauf die Aufzugtür öffnete, und ein Mann mittleren Alters hereintrat.
Mason fand, dass der Unbekannte auf den ersten Blick wenig vertrauenswürdig aussah. Er fragte sich insgeheim, was sein Bruder mit solch einem Mann wohl Wichtiges zu besprechen hatte. Nun, er würde es gleich erfahren.
„Mister Logan“, begrüßte er „seinen Gast“ mit einem distanzierten Lächeln. „Was kann ich für Sie tun?“
Logan grinste anzüglich.
„Soll das ein Scherz sein? Ich glaube, es ist wohl eher so, dass ich etwas für Sie tun konnte, Sir.“ Er zog einen größeren Umschlag aus der Innentasche seines abgetragenen Jacketts und legte ihn mit bedeutungsvollem Lächeln vor Mason auf den Schreibtisch. „Ich habe sie gefunden. War nicht besonders schwer“, erklärte er beiläufig und wies auf den Umschlag. „Sie hält sich zurzeit in Venice auf. Die Anschrift ihrer Wohnung steht da drin.“
Mason hatte keine Ahnung, um was es eigentlich ging, aber es musste wohl etwas sehr Geheimnisvolles sein, wenn Matt für diesen Mann sogar außerhalb der Geschäftszeiten zu sprechen war. Er griff nach dem Umschlag und öffnete ihn.
„Na dann lassen Sie mal sehen, was Sie Interessantes für mich haben.“
Zum Vorschein kamen drei Fotos, auf denen zwei Personen deutlich zu sehen waren. Mason erkannte eine davon sofort, und für einen Bruchteil der Sekunde schien sein Herzschlag auszusetzen. Wie hypnotisiert starrte er auf die Bilder in seiner Hand.
„Und... ist das die Person, die Sie suchen?“, fragte Logan und beobachtete argwöhnisch Masons Reaktion.
„Ja, das ist sie... Danielle“, brachte dieser nur mühsam heraus, ohne den Blick von den Fotos zu wenden. Seine Danielle... und ein anderer Mann, den er nicht kannte. Das erste Foto zeigte die beiden, wie sie zusammen die Straße entlangliefen. Sie schienen sehr vertraut miteinander zu sein, denn Danielle hatte sich bei ihm eingehängt. Auf dem zweiten Foto saßen beide gemeinsam in einem Lokal, der Mann hielt ihre Hand, sie lächelte ihn an, und auf dem letzten Foto küsste sie ihn sogar auf die Wange.
Mason spürte, wie das Blut in seinen Adern förmlich zu kochen begann.
„Wann wurde das aufgenommen?“, brachte er mühsam heraus.
„Gestern Abend“, erwiderte Logan und beobachtete ihn genau. „Alles in Ordnung, Mr. Shelton?“
„Ähm... ja.“ Mason versuchte sich mühsam zu beherrschen. „Alles bestens.“
Als Logan keine Anstalten machte zu gehen, er die Stirn in Falten.
„Sonst noch etwas?“
„Nun ja... mein Honorar, Sir. Wir hatten Barzahlung vereinbart, sofort nach Lieferung.“
Masons Gedanken überschlugen sich. Allem Anschein nach schien Matt diesen Mann engagiert zu haben, um Danielle zu finden. Was für ein Zufall!
Er musste dafür sorgen, dass sein Bruder und dieser Schnüffler sich vorerst unter keinen Umständen begegneten.
„Ja, das hatten wir vereinbart“, erwiderte er gedehnt, während sich seine Gedanken überschlugen. Jetzt nur nichts verkehrt machen, damit der Kerl keinen Verdacht schöpfte. „Allerdings trage ich nicht den ganzen Tag eine solche Summe in der Hosentasche mit mir herum, das müssen Sie verstehen. Kommen Sie in drei Stunden auf den Parkplatz hinter dem BEACHWOOD-MOTEL. Dort wird eine schwarze Limousine auf Sie warten. Steigen Sie ein, damit uns niemand beobachten kann, und Sie werden Ihr Geld bekommen.“
Logan nickte mit säuerlichem Gesicht und es war ihm deutlich anzusehen, dass ihm diese Regelung nicht sonderlich gut gefiel.
„Also gut, ich werde da sein. Und ich hoffe, Sie auch, Mr. Shelton.“ Er wandte sich zum Gehen, doch die Stimme seines vermeintlichen Auftraggebers hielt ihn zurück.
„Noch eines, Mr. Logan...“
„Ja?“
„Ich will auf gar keinen Fall, dass uns irgendwer miteinander in Verbindung bringt. Also vermeiden Sie es, jemals wieder dieses Büro zu betreten.“
Zögernd wandte sich Logan um.
„Aber wie Sie wissen, arbeite ich gelegentlich für Mister Hamilton!“
Mason musterte ihn aus seinen undurchdringlich dunklen Augen.
„Nun, Sie haben gute Arbeit geleistet, Logan. Also werde ich mein Honorar dem entsprechend erhöhen. Sind wir uns einig?“
„Natürlich, Sir. Sie können sich auf meine Diskretion verlassen.“
*
Etwas später betrat Matt das Grundstück der Familie Cortez. Madame Dolores schien ihn erwartet zu haben, denn sie öffnete die Tür, noch bevor er Gelegenheit hatte, anzuklopfen.
„Wo ist Marina?“, fragte er ohne Umschweife und blinzelte sie argwöhnisch an. Seiner ehemaligen Schwiegermutter hatte er noch nie so recht über den Weg getraut, nicht einmal zu der Zeit, als er und Marina noch glücklich miteinander verheiratet gewesen waren. Ihr strenges Gesicht verzog sich zu einem säuerlichen Lächeln, als hätte sie seine Gedanken erraten.
„Oh, sieh mal einer an“, rief sie und musterte ihn boshaft. „Matthew Shelton erinnert sich tatsächlich daran, dass er eine Familie hat.“
„Ich hatte eine Familie, und wenn ich mich recht erinnere, war nicht ich es, der sie zerstört hat. Aber das ist lange her“, erwiderte Matt so gelassen wie möglich. „Lass also deine Giftpfeile im Köcher, Dolores. Beantworte einfach meine Frage, und du bist mich sofort wieder los.“
„Ich denke gar nicht daran, dir irgendwelche Fragen zu beantworten“, keifte sie ihn an. „Du hast meine Tochter und die Tatsache, dass sie ein Kind von dir erwartet, wochenlang ignoriert. Was willst du jetzt von ihr?“
„Ich will nur mit ihr reden“, erwiderte er ungerührt. „Ist sie hier?“
Dolores stand in der Tür und machte keine Anstalten, ihn hereinzubitten.
„Mit ihr reden? Etwas spät, wie mir scheint, mein Lieber! Du hättest mit ihr reden sollen, bevor du damit angefangen hast, ihren Kummer und ihre Einsamkeit auszunutzen, um erneut Hoffnungen in ihr zu wecken und sie wieder in dein Bett zu locken!“
Matt holte tief Luft und wollte protestieren, doch ein Blick in Dolores` Augen zeigte ihm deutlich, dass dies keinen Sinn gehabt hätte.
„Was zwischen Marina und mir geschehen ist, geht dich nichts an“, erwiderte er daher nur abweisend. „Also, wo ist sie?“
„Da, wo du ihr mit deinem Verhalten nicht wehtun kannst, wo sie zur Ruhe kommt und sich erholen kann. Sie ist verreist, auf Anraten ihrer Ärztin.“
„Eine Kur?“, fragte Matt erstaunt.
Dolores hob die Schultern.
„Nenne es, wie du willst.“
„Ist sie krank?“ Beunruhigt blickte er sie an, doch sie verzog nur geringschätzig das Gesicht.
„Krank? Sie ist schwanger, Matthew, und sie fühlt sich seit Wochen verraten und alleingelassen von dem einzigen Mann, dem sie vertraut hat und den sie noch immer liebt. Natürlich, in gewissem Sinne macht so etwas krank.“ Sie klopfte sich mit der Faust an ihre Brust „Und zwar genau hier drin!“
Matt verdrehte genervt die Augen. Er konnte sich an diese theatralischen Auftritte nur zu gut zurückerinnern.
„Wann kommt sie zurück?“, fragte er sachlich.
„Das weiß ich nicht.“
„Sag mir endlich, wo ich sie finde, dann werde ich hinfahren und in Ruhe mit ihr reden.“
Misstrauisch sah sie ihn an. „Worüber?“
„Darüber, wie es in Zukunft weitergehen soll.“
So etwas wie Hoffnung klomm plötzlich in Dolores Augen auf.
„Um ihr zu sagen, dass du sie liebst und wieder mit ihr zusammen sein willst?“
Er musterte sie erstaunt und straffte dann die Schultern.
„Um eines klarzustellen, Dolores: Ich bin bisher immer ehrlich zu Marina gewesen. Ich werde sie auch dieses Mal nicht anlügen. Lügen machen nämlich ebenfalls krank.“
Wütend hob sie die Hände und ballte sie zu Fäusten.
„Fahr zur Hölle, Matthew Shelton!“
Er lächelte.
„Nein, den Gefallen werde ich dir bestimmt nicht tun.“
Mit diesen Worten drehte er sich um und ging davon.
Hause angekommen, rief er im Sunset City Memorial an und verlangte Dr. Yamada zu sprechen.
„Suki? Hier ist Matt. Bitte beantworte mir eine Frage: Hast du Marina eine Kur verordnet oder ihr sonst irgendwie geraten, für längere Zeit zu verreisen?“
„Aber nein!“, klang Sukis erstaunte Stimme aus dem Hörer. „Dazu gab es keinerlei Veranlassung. Wieso fragst du?“
„Weil ihre Mutter genau das gesagt hat. Marina sei verreist auf deinen ärztlichen Rat hin.“
„Wie kommt diese Frau dazu, so etwas zu behaupten?“, entrüstete sich Suki. „Ich habe Marina seit ihrem letzten Arztbesuch vor ungefähr zwei Wochen nicht mehr gesehen!“
Matt nickte zufrieden. Somit hatte sich seine Vermutung fürs Erste bestätigt.
„Danke Suki“, sagte er und dachte dabei an die rot markierte Notiz aus Marinas virtueller Krankenakte. „Danke für alles.“
„Matt, warte mal...“, rief Suki, doch er hatte bereits aufgelegt.
*
Die Dämmerung brach langsam über Sunset City herein, als Sam Logan auf dem etwas abgelegenen Parkplatz hinter dem BEACHWOOD-MOTEL ankam.
Die besagte schwarze Limousine erwartete ihn bereits. Sie hatte getönte Scheiben, so dass er niemanden im Inneren des Fahrzeuges erkennen konnte. Aber das war ihm egal, Hauptsache, er würde sein Geld bekommen.
Als Logan die Tür zum Fond des Wagens öffnete, wurde er plötzlich mit eisernem Griff am Revers seines Jacketts gepackt und hineingezogen. Er war so überrascht, dass er sich nicht zu wehren vermochte, zudem er kurz darauf die kalte Klinge eines Messers deutlich an seiner Kehle spürte.
„Hören Sie mir gut zu, Mister Logan“, flüsterte der Mann hinter ihm, den er nicht sehen konnte, mit merkwürdig heiserer Stimme. „Hier ist ein hübsche Summe Bargeld, mit dem Sie sich für eine ganze Weile unsichtbar machen werden. Das sollte übrigens ganz problemlos von statten gehen, ansonsten...“
Der Druck der scharfen Klinge an seinem Hals verstärkte sich merklich, und Logan sog angespannt die Luft durch die Zähne ein.
„Ja“, ächzte er. „Kein Problem, ich wollte sowieso für längere Zeit verreisen!“
„Wunderbar“, flüsterte die heisere Stimme hinter ihm und eine Hand schob ihm einen dick gefüllten Umschlag in seine Tasche. „Tun Sie das. Am besten heute noch. Und reden Sie mit niemandem über ihre Aufträge, ansonsten…“ Der Unbekannte lachte leise, und Logan fuhr unwillkürlich ein Schauer über den Rücken. „Ansonsten könnte Ihr Urlaub ganz schnell eine Reise in die Unendlichkeit werden. Leben Sie wohl, Mister Logan.“