Der Krankenwagen raste mit Blaulicht und Sirenengeheul von Venice aus über den Highway zur nahegelegenen Airport Klinik.
George Freeman lag mit hochgelagertem Oberkörper unter einer Sauerstoffmaske und war an ein EKG-Gerät angeschlossen, das seine aktuellen Werte aufzeichnete. Außerdem hing er an einem provisorischen Tropf, über den er mit Morphium und anderen spezifischen Medikamenten versorgt wurde. Er hatte seit seinem akuten Herzanfall das Bewusstsein zwar wiedererlangt, war jedoch durch den Schock und die starken Medikamente kaum ansprechbar. Der zuständige Arzt, ein routinierter Notfallmediziner um die Vierzig, kontrollierte ständig die Vitalwerte, wobei sein Gesichtsausdruck momentan alles andere als hoffnungsvoll erschien.
„Er wird schwächer“, teilte er Kate mit, die nicht von Georges Seite gewichen war. „Wenn der Blutdruck noch mehr sinkt, besteht die Gefahr, dass wir ihn verlieren!“
Kate hatte den Patienten noch vor dem Eintreffen des Krankenwagens in Johns Wohnung reanimiert und erstversorgt und somit verhindert, dass Georges schwaches Herz nach dem Anfall aufhörte zu schlagen.
Seitdem sie losgefahren waren, kreisten ihre Gedanken unaufhörlich um das verhängnisvolle Foto, das allem Anschein nach der Grund für seinen plötzlichen Zusammenbruch gewesen war. Sie hatte ja nicht wissen können, dass er Johns Mutter früher anscheinend sehr gut gekannt hatte, und dass ein bereits mehrere Jahrzehnte altes Foto von ihr eine derartig starke Reaktion bei ihm hervorrief. Nachdenklich strich sie sich über die Stirn. Sollte er am Ende vielleicht… John hatte ihr damals in Chicago zwar erzählt, er wüsste, wer sein Vater sei und würde ihn vielleicht irgendwann kontaktieren, aber danach hatte er dieses Thema ihr gegenüber nie wieder erwähnt.
„Kammerflimmern!“, holte sie der Notarzt schlagartig aus ihren Gedanken. Während er hastig nach dem Defibrillations-Set griff, positionierte sie den Patienten geistesgegenwärtig in Rückenlage und wies den Fahrer an, sofort rechts am Straßenrand zu halten.
„Lade auf 200... und weg!“
George Freemans massiger Körper bäumte sich unter dem Stromschlag auf, doch auf dem Monitor zeigte sich keine Veränderung.
„Komm schon...“, murmelte Kate angespannt. „Durchhalten, Mr. Freeman!“ „Lade auf 300... und weg!“
Erneut wurde Georges Körper unsanft geschockt. Kurz darauf verwandelte sich der schwache Piepton auf dem Monitor, an den der Patient angeschlossen war, in eine Null-Linie.
„Asystolie! Verdammt!“
Der Notarzt warf die Defibrillatoren achtlos beiseite und begann unter Einsatz seiner ganzen Kraft eine Herzdruckmassage. Verzweifelt kämpfte er um das Leben des Patienten. Kate stand daneben, bereit sofort einzugreifen, falls ihre Hilfe nötig war. Das gleichmäßige Piepen, das Sekunden später plötzlich die bedrohliche Null- Linie wieder ersetzte, war wie eine Offenbarung für sie. „300 mg Adrenalin!“, ordnete der Arzt an und wies auf den Medikamentenkoffer. Mit geübtem Griff zog Kate die Spritze auf und reichte sie ihm. Während der Arzt George das vorbeugende Mittel gegen erneutes Kammerflimmern verabreichte, ließ sie die Anzeigen auf dem Monitor nicht aus den Augen. Nach einer Weile atmete sie erleichtert auf und nickte ihrem Kollegen anerkennend zu.
„Gute Arbeit, Doc!“
Er gab dem wartenden Fahrer ein Zeichen.
„Gib Gas!“
Jetzt zählte jede Sekunde.
John erwartete den Krankenwagen bereits am Eingang der Notaufnahme.
In fliegender Eile wurde George Freeman hineingebracht. Sachlich und präzise übermittelte der Notarzt den anwesenden Kollegen die aktuellen Werte und die Kurzdiagnose, während Kate John ihrerseits über den Zustand des Patienten informierte.
„Er wollte dich besuchen, Mall“, sagte sie, während sie dicht hinter Georges Rollbett den Gang entlang eilten. „Dann hat er das Bild gesehen.“
„Welches Bild?“
„Das von dir und deiner Mutter! Er schien sie zu kennen.“
„Verdammt!“, fluchte John verhalten. „Danielle hatte recht. Ich hätte es ihm schon viel früher sagen sollen!“
„Ihm was sagen?“, fragte Kate in banger Vorahnung.
„Das ich sein Sohn bin!“
*
John O`Malley saß an Georges Krankenbett auf der Intensivstation und starrte gedankenverloren auf das bleiche Gesicht des Mannes, der sein Vater war. In den letzten Jahren hatte er so oft darüber nachgedacht und sich ausgemalt, wie es sein würde, wenn er sich George Freeman als dessen Sohn zu erkennen geben würde. Doch irgendwie hatte er nie den Mut gefunden, sich dem millionenschweren Electronic-Mogul zu nähern, teils aus Furcht, man würde ihm nicht glauben und ihn als Schwindler und Erbschleicher darstellen, teils aus Respekt vor seiner verstorbenen Mutter, die ihr bittersüßes Familiengeheimnis bis zum bitteren Ende gewahrt und es schließlich in den letzten Stunden ihres Lebens nur ihrem einzigen Sohn anvertraut hatte. John hatte gewartet, mit sich und dem Schicksal gehadert und immer wieder gezögert, diesen letzten, entscheidenden Schritt zu gehen.
Bis Danielle überraschend in sein Leben getreten war. Danielle, die ihn mit Freeman bekannt machte, ohne auch nur im Geringsten zu ahnen, welche starke Verbindung zwischen den beiden Männern bestand. In seinen Augen schon fast mehr als nur ein Zufall. Er, der bodenständige, rational denkende Mediziner, nannte es insgeheim Schicksal. Und doch hatte er sich auch weiterhin zurückgehalten, dem alten Mann endlich sein Geheimnis zu offenbaren. Und das, obwohl er inzwischen wusste, wie schwer herzkrank George war. Oder vielleicht gerade aus diesem Grund? Um ihn nicht aufzuregen, alte Wunden aufzureißen und ihm dadurch zu schaden?
John seufzte kaum hörbar und strich sich über die Stirn. Auf keinen Fall hatte er bedacht, dass George selbst irgendwann das Geheimnis lüften würde, durch einen dummen Zufall, mit dem keiner hatte rechnen können.
Kate, die nicht von seiner Seite gewichen war und seine Reaktion bemerkt hatte, bedachte ihn mit einem prüfenden Blick und griff beruhigend nach seiner Hand. Ihre Nähe tat ihm gut. Er wusste, ihr sofortiges beherztes Eingreifen unmittelbar nach dem Herzanfall hatte dem Patienten das Leben gerettet. Dafür würde ihr John immer dankbar sein.
Seine Augen wanderten erneut zum Anzeigemonitor. Es war dem Ärzteteam gelungen, George so weit wie möglich zu stabilisieren, so dass dieser momentan nicht mehr in unmittelbarer Lebensgefahr schwebte.
„Er ist verdammt schwach“, sagte der junge Mediziner besorgt. „Ich hoffe, er kommt bald zu sich. Ich habe ihm so viel zu sagen.“
„Er wird es überstehen“, erwiderte Kate leise und drückte seine Hand. „Möchtest du, dass ich Danielle anrufe?“
John überlegte einen Augenblick, dann schüttelte er den Kopf.
„Nein, sie wird ohnehin morgen früh da sein. Ich werde hierbleiben. Wenn es sein muss, die ganze Nacht.“
Kate nickte.
„Okay. Ich bleibe auch.“
John sah sie an und griff nach ihrer Hand, eine Geste, die ihr mehr sagte, als tausend Worte.
„Danke.“ flüsterte er. „Ich bin froh, dass du da bist.“
*
Während sich Danielle auf ihren Dienst vorbereitete, war Matt auf dem Weg zu seinem Bruder. Dr. Pares begleitete ihn den Flur entlang und informierte ihn kurz über den aktuellen Stand der Dinge.
Mason hatte also tatsächlich seine Erinnerung wieder.
Was das für ihn und alle anderen, die mit ihm zu tun hatten, bedeutete, würde sich zeigen. Für Matt war momentan nur wichtig, was Mason über diese Firma in Venezuela zu berichten wusste, damit er Edward finden und Carolines Martyrium so bald wie möglich beenden konnte.
Trotzdem zögerte er einen Augenblick und atmete erst einmal tief durch, bevor er die Tür zum Krankenzimmer seines Bruders öffnete.
Der Raum lag im Halbdunkel.
Mason saß am Fenster vor der halbgeschlossenen Jalousie und starrte nach draußen. Als er hörte, dass jemand das Zimmer betrat, wandte er den Kopf.
Er schien Kopfschmerzen zu haben, denn er blinzelte und griff sich an die Stirn. Langsam erhob er sich und schwankte leicht, als müsse sich sein angeschlagener Kreislauf erst an die neue Situation gewöhnen. Vorsichtig trat er zwei Schritte auf Matt zu, dann blieb er zögernd stehen. Sekundenlang starrten die beiden Brüder einander an, als müsse jeder von ihnen erst einmal abwarten, wie der andere reagieren würde.
Dann endlich brach Mason das erdrückende Schweigen.
„Matt?“
Ein bitteres, kaum wahrnehmbares Lächeln umspielte Matts Lippen, während er die Hand, die sein Bruder ihm verunsichert entgegenstreckte, ignorierte.
„Hallo Mason. Wie geht es dir?“
„Kopfschmerzen“, antwortete Mason und zog seine Hand zurück, als hätte er sich verbrannt. „Der Doc sagt, sie gehen irgendwann vorbei.“
Matt nickte.
„Du hattest einen kleinen... Unfall?“
„Halb so schlimm“, wertete Mason das Ganze ab und wies auf den zweiten Sessel. „Willst du dich nicht setzen?“
„Nein, eigentlich nicht.“
Wieder dieses betretene Schweigen. Es war fast, als würde eine unsichtbare Mauer aus Eis zwischen den Brüdern stehen.
Schließlich drehte sich Mason um, ging zu seinem Sessel zurück und setzte mit einem unterdrückten Aufstöhnen hinein.
„Tut mir leid, Matt, aber mein Kreislauf spielt noch etwas verrückt.“
Matt vergrub seine Hände in den Hosentaschen und trat ans Fenster. Durch die halb geschlossene Jalousie konnte in der Ferne die Santa Monica Mountains sehen.
„Dr. Pares sagt, du erinnerst dich wieder?“, fragte er und versuchte seiner Stimme einen möglichst gleichgültigen Klang zu geben.
Mason hob erstaunt den Kopf.
„Bist du deshalb hier?“
„Ja, unter anderem.“
Mason schluckte und schien verzweifelt nach den richtigen Worten zu suchen.
„Matthew... Matt… ich fürchte, für das, was ich getan habe, gibt es keine Entschuldigung.“
Matt drehte sich abrupt um und sah seinem Bruder in die Augen.
„Da hast du allerdings Recht, die gibt es wirklich nicht. Und ich lege auch keinen Wert darauf. Dr. Pares hat mir hinreichend erklärt, was der Auslöser für deine Eskapaden gewesen ist. Das muss ich akzeptieren. Deine Entschuldigung solltest du dir vielleicht für die beiden Frauen aufsparen, denen du besonders übel mitgespielt hast. Immerhin hast du es geschafft, Marinas Leben komplett auf den Kopf zu stellen, und Danielle hättest du beinahe umgebracht, von allen anderen Gemeinheiten ganz zu schweigen.“
„Ich weiß“, erwiderte Mason leise. Dann hob er den Kopf und warf Matt einen verzweifelten Blick zu. „Alle diese Erinnerungen stürmen seit gestern auf mich ein. Ich habe keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll. Ich habe so viele Dinge getan, die ich selbst kaum fassen kann. Ist es überhaupt möglich, dies alles jemals wiedergutzumachen? Sag es mir, Matt!“
Das darauf folgende Schweigen schien endlos und erdrückend.
„Du solltest lernen, mit dieser Vergangenheit zu leben“, erwiderte Matt nach einer Weile, die beiden wie eine Ewigkeit erschienen. „Und du solltest den Menschen, die dir etwas bedeuten, genügend Zeit geben, um mit der neuen Situation fertig zu werden. Nur so besteht eine winzige Chance, dass sie dir irgendwann wieder vertrauen und vielleicht auch verzeihen können.“
Mason musterte seinen Zwilling sekundenlang und es fiel ihm sichtlich schwer dessen eindringlichen Blick Stand zu halten.
„Kannst du mir verzeihen? Irgendwann?“
Matt wägte seine Worte genau ab.
„Irgendwann vielleicht. Für den Augenblick sollten wir es dabei belassen, dass wir uns fortan ohne Hass begegnen und vernünftig miteinander reden können.“
„Und das ist alles?“
„Ja.“
„Du vertraust mir also nicht“, stellte Mason mit Enttäuschung in der Stimme fest und nickte dann wie zu seiner eigenen Bestätigung. „Du wirst mir nie wieder vertrauen.“
Matt zog die Stirn in Falten und quittierte die Äußerung schließlich mit einem verächtlichen Lachen.
„Dir vertrauen? Ich bitte dich, Mason! Wenn ich das bisher getan hätte, wäre ich wahrscheinlich schon tot.”
Mason starrte ihn einen Augenblick lang schockiert an, dann verzog er sichtlich verbittert das Gesicht.
„Und was kann ich deiner Meinung nach jetzt tun? Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Die Vergangenheit, die Gegenwart, die vielen Erinnerungen, alles wirbelt in meinem Kopf durcheinander und macht mich total schwindlig. Soll ich mich bei allen entschuldigen und dann abwarten, was geschieht? Du bist mein Zwillingsbruder, du bist wie ein Teil von mir! Erzähl mir, was du von mir erwartest!“
Scheinbar unbeeindruckt von Masons offensichtlicher Verzweiflung lehnte Matt am Fenster.
„Nun, fürs erste könntest du mir ein paar wichtige Fragen beantworten.“
Mason musterte ihn überrascht, doch nach kurzer Überlegung nickte er zustimmend.
„Okay. Sag mir, was du wissen willst.“
*
Danielle ahnte nichts Böses, als man ihr kurz nach ihrer Ankunft in der Klinik mitteilte, sie solle sich umgehend bei Dr. O`Malley auf der Intensivstation melden. Sie hielt das für einen Dienstauftrag und eilte nach oben, wo sie zuerst auf Kate traf, die gerade an einem der Automaten Kaffee holte. Danielle fiel sofort auf, wie übernächtigt die junge Ärztin wirkte.
„Hast du etwa die ganze Nacht durchgearbeitet?“, fragte sie besorgt.
Kate lächelte gequält.
„So könnte man es sagen.“ Sie wies auf eine der Besucherbänke. „Danielle, setz dich bitte einen Augenblick. Ich muss dir etwas Wichtiges erzählen.“
Sofort überfiel Danielle eine seltsame Unruhe.
„Was ist los?“ fragte sie vorsichtig. „Ist John etwas geschehen?“
„John nicht, aber George“, erwiderte Kate. „Sein Herz...“
„George?“ Fassungslos zog Danielle die Stirn in Falten. „Ja aber, ich war gestern nach Dienstschluss noch bei ihm, und da ging es ihm gut!“
„Du weißt doch selbst am besten, wie schnell so etwas passieren kann.“
Entschlossen sprang Danielle auf und wollte schon die Tür zur IST öffnen, doch Kate hielt sie zurück.
„Warte einen Augenblick, bevor du hineingehst. Das war noch nicht alles.“
Schnell berichtete sie, was sich zugetragen hatte. Danielle stöhnte schmerzlich auf.
„Daran bin nur ich schuld“, sagte sie leise. „Warum habe ich bloß meinen Mund nicht gehalten!“
„Wie meinst du das?“, fragte Kate irritiert.
„George hat mich gestern gebeten, bei ihm vorbeizukommen. Er erzählte mir, dass er sich in großem Rahmen bei der HSE eingekauft hat, um Matt aus der geschäftlichen Misere zu helfen, in die ihn Edward mit seinem Verschwinden gebracht hat.“
„Das ist doch erfreulich“, erwiderte Kate. „Aber was hat das mit dem Herzanfall zu tun?“
„George wollte mir seine erworbenen Anteile überschreiben, sozusagen als vorzeitiges Hochzeitsgeschenk“, erklärte Danielle und bemühte sich vergebens, ihre Tränen zurückzuhalten. „Er meinte, er habe doch sonst niemanden, keinen Verwandten und so.“ Sie maß Kate mit einem bedeutungsvollen Blick. „Ich war die Einzige, die wusste, dass John sein Sohn ist. Die Anteile an der HSE sind wahnsinnig wertvoll. Ich hätte doch dieses Geschenk unmöglich annehmen können! Es steht mir nicht zu. Aber begründen konnte ich ihm meine Entscheidung auch nicht. Deshalb habe ich ihn gebeten, zuerst mit John zu sprechen. Ich habe ihm gesagt, er würde ihm alles erklären.“
„Deshalb ist er also vorbeigekommen. Und dann hat er das Foto gesehen. Dieses Foto von John und seiner Mutter“, murmelte Kate und schüttelte resigniert den Kopf. „Ich wünschte, ich hätte etwas eher gewusst, wer George Freeman ist.“
Danielle wischte sich entschlossen die Tränen weg.
„Ich muss zu ihm.“
„Er ist aber noch nicht wieder bei Bewusstsein.“
„Trotzdem.“
„Okay.“ Kate stand auf und nahm Danielles Arm. „Komm mit.“
Gemeinsam betraten sie wenig später den Raum, in dem George, angeschlossen an alle lebensnotwendigen Apparate, blass und scheinbar leblos in den Kissen lag.
John saß noch immer am Bett seines Vaters. Als er hörte, dass jemand hereinkam, drehte er sich um.
„Danielle!“
Sie eilte auf ihn zu und umarmte ihn.
„Es tut mir so leid. Daran bin nur ich schuld!“
„Niemand ist daran schuld, Danielle.“ Das war die Stimme von Roger, der am Fenster stand. „Ich habe ihm nicht umsonst immer wieder gesagt, dass er sein Leben umstellen muss. Er wollte das nicht wahrhaben. Aber man kann niemanden auf ewig vor Aufregungen schützen.“
Plötzlich und unerwartet öffnete George die Augen. Irritiert blickte er sich um. Wegen des Intubationsschlauches in seinem Hals konnte er nichts sagen. Panisch wanderten seine Augen von einem zum anderen.
„Ruf den diensthabenden Stationsarzt!“, wies John Kate rasch an und legte dann beruhigend seine Hand auf den Arm des Patienten.
„Ganz ruhig, George. Du bist in der Klinik“, erklärte er ihm, bemüht, das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken. „Du hast dir gestern etwas zu viel zugemutet, und dein Herz hat sich daraufhin eine kleine Auszeit genommen.“
George tastete verunsichert nach dem Schlauch.
„Den werden wir gleich entfernen, dann kannst du wieder mit uns sprechen“, erklärte John. „Wir warten nur noch auf den Arzt. Ich selbst bin nämlich momentan nicht im Dienst.“
Danielle trat neben John an das Krankenbett und lächelte George ermutigend zu.
„Du hast uns einen ziemlichen Schrecken eingejagt.“
George griff er nach ihrer Hand. Dann wanderten seine Augen wieder zu John zurück. Er sah ihn an und schien angestrengt zu überlegen.
In diesem Augenblick betrat der diensthabende Stationsarzt den Raum.
„Der Patient ist bei Bewusstsein?“, erkundigte er sich und überprüfte routinemäßig die Werte. „Okay“, nickte er George aufmunternd zu. „Dann wollen wir Sie mal rasch von dem lästigen Schlauch befreien, Mr. Freeman. Sie sind zwar noch etwas schwach auf der Brust, aber ich bin sicher, Sie können ab sofort wieder selbstständig atmen.“ Er wandte sich an die anderen. „Bitte verlassen Sie jetzt alle kurz den Raum. John, Sie bleiben hier und assistieren mir.“
*
„Und dann bist du in Caracas gelandet und hast diese Joanna Castillo kennengelernt“, stellte Matt fest. Er hatte seinem Bruder gegenüber Platz genommen und hörte aufmerksam zu, als dieser berichtete, was sich nach seiner Flucht aus Sunset City zugetragen hatte. „Hast du dich eigentlich nie gefragt, was aus dem alten Mann geworden ist, den du auf deiner Flucht so brutal zusammengeschlagen hast? Du hast ihn einfach liegen gelassen und sein Auto gestohlen!“
„Ich habe nie darüber nachgedacht. Zumindest nicht bis heute“, gestand Mason beschämt. „Weißt du etwas über ihn?“
„Nun, viel auch nicht. Nur das, was Stefano Cortez im Rahmen seiner Ermittlungen von den mexikanischen Behörden erfahren hat.“ Matt machte eine bedeutungsvolle Pause, bevor er weitersprach. „Ich kann dich beruhigen, der alte Mann hat deine heimtückische Attacke überlebt.“
„Ich werde mich bei ihm entschuldigen.“
„Das solltest du besser nicht tun“, warnte Matt. „An deiner Stelle würde ich mich im Grenzgebiet für eine Weile nicht mehr blicken lassen. Du kannst ihm ja anonym einen neuen Pick Up zukommen lassen, wenn es deine finanziellen Mittel zulassen.“
Mason lächelte.
„Über meine finanziellen Mittel mache ich mir momentan die wenigsten Sorgen. Durch die Heirat mit Joanna bin ich, was das betrifft, weitgehend abgesichert.“
„Sie war um einiges älter als du, und auch nicht unbedingt der Typ Frau, auf die du bisher gestanden hast“, stellte Matt sachlich fest.
Mason zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
„Du hast anscheinend deine Schularbeiten gemacht.“
„Glaubst du ernsthaft, ich komme ohne Vorkenntnisse hierher und lasse mir von dir Märchen erzählen?“
Mason grinste bitter.
„Soweit zum Thema Vertrauen.“
„Hast du sie umgebracht?“, fragte Matt unvermittelt.
Mason schien die Frage erwartet zu haben, denn er wirkte nicht im Mindesten überrascht.
„Ich habe Joanna nicht aus Liebe geheiratet, sondern aus purer Berechnung, das ist wahr. Aber umgebracht habe ich sie nicht.“
„Cynthia Rodriges sieht das anscheinend etwas anders.“
„Cynthia?“ Jetzt war Mason wirklich überrascht. „Was weißt du von ihr?“
„Sag du es mir“, erwiderte Matt trocken. „Immerhin hat sich die Dame blitzschnell in meine Firma eingekauft und ist genauso schnell wieder von der Bildfläche verschwunden, um in Caracas die Firma ihres Mannes zu führen.“
„Die Firma ihres...“ Mason starrte Matt sprachlos an. „Wovon redest du, zum Teufel?“
Matt lehnte sich zurück und verschränkte die Arme, während er seinen Bruder abschätzend musterte.
„Ich rede davon, dass Cynthia Rodriges behauptet, sie sei mit dir verheiratet und würde ab sofort deine Firma leiten, während du dich auf einer längeren Geschäftsreise befindest, von der du vermutlich nie zurückkommen wirst.“
*
Der Intubationsschlauch war in Sekundenschnelle entfernt. George hustete qualvoll und griff sich an die schmerzende Brust. Erschöpft fiel sein Kopf zurück in die Kissen. Es dauerte einen Augenblick, bis er sich soweit erholt hatte, dass er wieder sprechen konnte.
„John...“, ächzte er.
„Ich bin hier, George.“
Der Stationsarzt warf seinem Kollegen einen vielsagenden Blick zu.
„Sorgen Sie dafür, dass er sich möglichst nicht aufregt“, sagte er leise und wandte sich an den Patienten. „Ich werde nachher noch mal nach Ihnen sehen, Mr. Freeman.“
George wartete, bis er hörte, dass die Tür geschlossen wurde.
„Ich war... in Venice, bei dir, doch du warst nicht da“, murmelte er angestrengt und tastete mit zitternder Hand nach Johns Arm. „Diese junge Frau war in deiner Wohnung... wir haben geredet… und dann war da dieses Foto... Shannon… meine Shannon… sie war deine Mutter?“ Er brach ab und sah den jungen Mann aufmerksam an. „Ist es wahr? Bist du...“
John nickte.
„Ja, George. Es ist wahr. Ich bin dein Sohn. Sie hat es mir gesagt, kurz bevor sie starb.“
*
Verbittert starrte Mason vor sich hin.
„Ich kann mir denken, was sie vorhat, dieses Miststück. Sie wollte mich schon die ganze Zeit um den Finger wickeln, und weil das nicht geklappt hat, rächt sie sich nun auf ihre Art. Keine kennt sich in der Firma so gut aus wie sie. Sie war viele Jahre Joannas rechte Hand.“
„Und nun hat sie anscheinend noch einen erstklassigen Immobilienmakler an ihrer Seite – Edward Hamilton.“
„Hamilton ist in Caracas?“
„Allerdings. Mit einem großen Teil der Firmengelder, auf Nimmerwiedersehen.“
„Erzähl mir mehr!“
Matt berichtete Mason, was sich in den letzten Wochen seit seinem Unfall zugetragen hatte.
„Jetzt wird mir einiges klar“, murmelte dieser schließlich und griff sich an seine schmerzenden Schläfen. „Dr. Pares hat sich einmal während eines Gespräches bei mir erkundigt, ob ich verheiratet sei, und ob mir der Name Cynthia etwas sagen würde. Sie muss hier angerufen haben, oder sie hat jemanden damit beauftragt, alles auszuspionieren. Sie weiß von meinem Unfall und glaubt sicher, dass ich meine Erinnerung verloren habe und nicht zurückkommen werde.“
„Und wenn doch, hat sie gewisse Vorkehrungen getroffen, fürchte ich“, ergänzte Matt. „Sie wird versuchen, dich zu erpressen.“
„Womit? Mit Joannas Tod?“ Mason winkte lachend ab. „Ich sage dir doch, ich habe sie nicht umgebracht.“
„Kannst du das beweisen?“
„Joanna hatte einen Autounfall.“
„Den du inszeniert hast.“
„Nein, das habe ich nicht!“ Unter Matts prüfendem Blick verzog Mason das Gesicht. „Okay, ich habe einen Streit provoziert, einen sehr schlimmen Streit, ich habe ihr deutlich gesagt, dass ich sie ausschließlich wegen ihres Geldes geheiratet hätte. Ich hoffte, sie würde die Scheidung einreichen, und ich wäre sie auf diese Art los, wobei die Hälfte ihres Vermögens automatisch an mich übergegangen wäre, da sie bei unserer Hochzeit auf einen Ehevertrag verzichtet hatte. Ich konnte doch nicht wissen, dass sie sich angetrunken ins Auto setzen und vor den nächsten Baum fahren würde!“
„Tja, das sieht nicht gut aus, fürchte ich. Cynthia Rodriges ist clever. Und eine von ihrem Liebhaber verschmähte, rachsüchtige Frau sollte man niemals unterschätzen.“
„Wem sagst du das“, murmelte Mason. „Was soll ich denn jetzt tun? Nach Caracas fliegen?“
„Überlass mir deine Papiere“, erwiderte Matt.
„Wozu?“
„Weil ich etwas tun werde, was ich selbst nie für möglich gehalten hätte. Du hast dich in der Vergangenheit mehr als nur einmal für mich ausgegeben. Nun tauschen wir noch einmal die Rollen, aber nicht, um uns gegenseitig zu schaden, sondern um einander zu helfen.“
„Was hast du vor?“
Matt atmete tief durch.
„Ich werde für kurze Zeit Mister Mason Castillo sein. Nicht du wirst nach Caracas fliegen, sondern ich, unter deinem Namen. Mitch Capwell wird mich begleiten.“ Er blickte auf die Uhr. „Nun denk bitte genau nach und sag mir alles, was ich noch wissen muss. Und beeil dich, spätestens heute Abend geht mein Flug.“
*
George fühlte sich nach Johns Geständnis erschöpft und müde. Und er fühlte noch etwas Anderes. Ein unerklärliches Gemisch aus Freude, Schmerz, Verzweiflung und Angst tobte in seiner Brust und machte ihn schwach und schwindlig.
Er hatte einen Sohn.
Shannon, seine Shannon, die er so sehr geliebt hatte, dass er sie nie wirklich vergessen konnte, sie hatte heimlich ihren gemeinsamen Sohn aufgezogen. All die vielen Jahre! Verlorene Jahre...
Und jetzt hatten sie einander gefunden, jetzt, wo es fast zu spät war!
„Zu spät“, murmelte er und schloss für einen Augenblick die Augen. Nein, er würde nicht zulassen, dass er noch mehr Zeit verlor. Jede Minute war kostbar.
„Bitte lasst mich einen Augenblick mit Roger allein.“
Als die anderen den Raum verlassen hatten, sah George seinen besten Freund bedeutungsvoll an.
„Du wirst in den nächsten Stunden viel zu tun haben, fürchte ich“, sagte er.
Roger nickte.
„Sag mir nur, wie alles sein soll, und ich werde es erledigen.“
„Guter Junge“, lächelte George Freeman matt. „Auf dich war schon immer voll und ganz Verlass.“
Roger klopfte ihm sanft auf die Schulter.
„Wir kennen uns schließlich lange genug.“
„Ja, eine Ewigkeit“, bestätigte Freeman. „Ohne dich hätte ich es in meinem Leben nicht halb so weit gebracht.“ Er musste husten und verzog schmerzhaft das Gesicht. „Lass uns schnell zur Sache kommen“, ächzte er, mühsam nach Luft ringend. „Hör gut zu und schreib dir alles genau auf. Und dann beeil dich, Roger. Ich fürchte, mir bleibt nicht mehr viel Zeit.“
*
„Ich kann kaum glauben, dass du das für mich tust“, sagte Mason, als sich die beiden Brüder verabschiedeten. Matt schüttelte bedeutungsvoll den Kopf.
„Irrtum, Mason. Ich tue das nicht für dich und auch nicht für mich, sondern für einen Menschen, an dem mir sehr viel liegt, und der sich in sehr großen Schwierigkeiten befindet, weil Edward Hamilton sich illegal ins Ausland abgesetzt hat.“
Überrascht zog Mason die Stirn in Falten.
„Von wem redest du?“
„Es handelt sich um Hamiltons Tochter Caroline. Sie wurde entführt, weil ihr Vater vor seiner Flucht aus Sunset City irgendwelche Leute betrogen hat, die nicht mit sich spaßen lassen.“
„Und diese Leute wollen ein Lösegeld?“
„Nein. Sie wollen ihn. Persönlich. Und ich werde ihre Forderung erfüllen, koste es, was es wolle. Caroline darf nichts geschehen.“
Mason nickte.
„Ich wünsche dir viel Glück!“, sagte er ernsthaft, und Matt hoffte, dass er sich die Aufrichtigkeit in seiner Stimme seines Bruders nicht nur einbildete.
Diesmal nahm er die Hand an, die Mason ihm zum Abschied entgegenstreckte, bevor er eilig das Krankenhaus verließ und sich auf den Weg zum Flughafen machte, wo Mitch bereits auf ihn wartete.
*
„Roger, du weißt, wie es um mich steht. Hast du alles dabei?“
Der Anwalt nickte.
„Sicher, George.“
„Dann gib mir die Papiere, damit ich sie unterschreiben kann. Du wirst später alles andere regeln, wie wir es eben besprochen haben.“
„Natürlich.“
Mühevoll kritzelte George seine Unterschrift unter mehrere Dokumente, die Roger ihm nacheinander reichte. Anschließend ließ er erschöpft die Arme sinken.
„So, mein Lieber, nun sorg dafür, dass Matt Shelton die entsprechenden Papiere bekommt. Er kann sie auch später unterschreiben. Ich für meinen Teil habe getan, was ich konnte. Es ist Zeit…“
Schmerzvoll presste Roger die schmalen Lippen aufeinander. In stillem Einvernehmen blickten die beiden Männer, die bereits seit Ewigkeiten Freunde waren, einander an. Dann wandte Roger sich um und öffnete die Tür.
Leise traten John und Danielle an Georges Krankenbett.
Dessen Stimme war schwach, ein heißeres Flüstern.
„Ich fürchte, ich werde mich von dieser Welt verabschieden müssen.“
„Was redest du denn da“, beschwichtigte John den alten Mann. „Du wirst wieder gesund, und dann werden wir die verlorene Zeit gemeinsam nachholen.“
George lächelte wehmütig.
„Ja, das wäre schön.“ Seine Augen suchten die seines Sohnes, und John wusste genau, wen er darin zu finden hoffte.
„Erzähl mir von ihr, von Shannon...“, bat George. „Hattest du eine schöne Kindheit?“
„Oh ja, ich konnte mir keine bessere wünschen“, erwiderte John ehrlich. „Sie war eine wundervolle Mutter.“
„Das kann ich mir vorstellen. Wenn sie mir damals nur ein wenig mehr vertraut hätte, dann...“ Er musste wieder husten und presste mit schmerzverzerrtem Gesicht seine Hände auf die Brust.
„Ich werde die Dosis des Schmerzmittels erhöhen“, schlug John vor, doch George schüttelte den Kopf.
„Nein, nicht nötig. Ich möchte mich mit einem klaren Kopf von dieser Welt verabschieden, wenn es soweit ist. Bleib einfach hier.“ Er lächelte mühsam. „Du und Danielle, ihr beide habt in den letzten Monaten dafür gesorgt, dass ich wieder viel mehr Freude am Leben hatte. Wirklich schade, dass ihr kein Liebespaar seid.“ Trotz seiner Schmerzen huschte ein schelmisches Lächeln über sein Gesicht. „Ich habe übrigens gleich vom ersten Tag an bemerkt, dass ihr beide keins seid! Den alten George haut man nicht so leicht übers Ohr.“
John tauschte einen bedeutungsvollen Blick mit Danielle.
„Woran hast du es gemerkt?“ fragte er.
„Dieses ganz spezielle Leuchten in euren Augen hat gefehlt, wenn ihr einander angesehen habt. Ich habe einen Blick für so etwas, glaub mir, mein Junge.“ Mühsam hob er den Kopf, als suche er jemanden.
„Aber diese andere, Kate, die junge Ärztin... ihre Augen leuchten, wenn sie dich ansieht. Genauso, wie man es Matt und Danielle ansieht, dass sie sich lieben. Mach nicht den gleichen Fehler, wie ich damals. Lass sie nicht gehen, hörst du?“
Er sank zurück in die Kissen, rang nach Atem und suchte Danielles Blick. „Ich wäre zu gern bei eurer Hochzeit dabei.“
Ihre Hand zitterte, als sie ihm behutsam den Schweiß von der Stirn tupfte.
„Streng dich bitte nicht so an, denk daran, was der Arzt gesagt hat.“
„Ach was“, widersprach George. „Ich werde bald mehr Zeit zum Ausruhen haben, als mir lieb ist.“ Erneut hob er mühsam den Kopf und sah seinen Freund Roger an.
„Wirst du klarkommen?“
Roger nickte.
„Natürlich. Verlass dich darauf.“
„Gut.“ George ließ seinen Kopf wieder sinken und schloss erschöpft die Augen. Besorgt beobachtete John das EKG auf dem Monitor. Er wusste, dass es zu Ende ging.
„Kann man nichts mehr tun?“, flüsterte Danielle kaum hörbar. Mit schmerzlich zusammengepressten Lippen schüttelte er den Kopf.
„Nein, nichts mehr.“
Ein paar Minuten später öffnete George noch einmal die Augen. Sein Blick war verklärt, doch er lächelte.
„Ich habe einen Sohn...“, murmelte er und hob mühsam die Hand.
John ergriff sie und hielt sie fest.
„Und ich habe endlich den Vater, den ich mir immer gewünscht habe“, sagte er mit belegter Stimme.
Dann war es vorbei.
Still und friedlich war George hinübergeglitten in den ewigen Schlaf.
Sein krankes Herz hatte aufgehört zu schlagen.