Die letzten Sterne der Nacht verblassten im ersten Tageslicht der aufgehenden Sonne, die ihre versilberten Strahlen übers Meer schickte. Sie reflektierten sich in den tanzenden Wellen wie tausend gleißende Tautropfen, bereit, mit ihrem Glanz den düsteren Rest der Dunkelheit zu vertreiben und den neuen Tag anzukündigen.
Inmitten dieses Naturschauspiels zwischen Abschied und Neubeginn war Danielle bereits unterwegs nach Los Angeles.
Schweren Herzens hatte sie sich vor vorhin aus Matts Armen gelöst. Sie spürte noch seinen Abschiedskuss auf den Lippen, seine Wärme, dieses wunderbare Haut-an-Haut-Gefühl, wenn sie morgens erwachte und er neben ihr lag. Ein verträumtes Lächeln glitt über ihr Gesicht. Sie liebte und wurde von ganzem Herzen wiedergeliebt. Alles war perfekt.
Fast alles.
Da war es wieder, dieses dumpfe Gefühl in der Magengegend, dass sie seit geraumer Zeit ständig verspürte. Es verfolgte sie, heimlich, schleichend, allgegenwärtig. Genau wie diese Worte von Dr. Pares:
´Das, was heute hier geschehen ist, wird er nie erfahren. Es sei denn, Sie wollen, dass er es erfährt!´
In ihrem Gedächtnis hallten die Worte wider und wider, während sich die Stimme des Arztes in ihrer Erinnerung veränderte und irgendwann zu Masons Stimme wurde:
´Das, was heute hier geschehen ist, wird Matt nie erfahren. Es sei denn, ich will, dass er es erfährt!´
Danielle stöhnte gequält auf.
Wütend über sich selbst und ihre schier endlose Grübelei atmete sie tief durch und versuchte die trüben Gedanken zu ignorieren, indem sie das Gaspedal durchtrat und das kleine Cabrio die Straße entlang jagte, bis sie schließlich auf den Coast- Highway No1 abbog. Noch eine gute halbe Stunde, dann begann ihr Dienst in der CENTINELA- Airport- Klinik. Ab diesem Zeitpunkt würde glücklicherweise kaum noch Zeit zum Nachdenken sein.
Trotz der morgendlichen Kühle hatte sie das Verdeck geöffnet und genoss den frischen Fahrtwind, der mit ihrem Haar spielte. Früher in Oklahoma hatte sie immer davon geträumt, einen solchen Wagen zu fahren. Nun war dieser Traum Wirklichkeit geworden. Matt hatte ihr sein Auto überlassen, als sei dies die natürlichste Sache der Welt. Er begnügte sich derzeit den Firmenwagen der HSE.
In diesen frühen Morgenstunden herrschte noch relativ wenig Verkehr auf dem Highway, und Danielle zwang sich, während der Fahrt angenehmeren Gedanken nachzuhängen.
Knapp zwei Wochen waren vergangen, seitdem sie nach Sunset City zurückgekehrt und in Matts Strandhaus in der Ocean Avenue eingezogen war. Eine Zeit, die alles andere als langweilig war. Die wenigen gemeinsamen Stunden, die sie mit Matt teilte, vergingen wie im Fluge und schienen ihr wie ein wunderschöner, wahrgewordener Traum.
Sie trafen sich mit Freunden, saßen mit Mitch und Suki zusammen und schmiedeten Zukunftspläne. Am vergangenen Wochenende waren sie auf Paradies Island gewesen, und Rosita hatte Freudentränen vergossen, als sie Danielle beim Wiedersehen in die Arme schloss.
Außerdem waren sie einer Einladung George Freemans gefolgt und hatten ihn auf seinem Anwesen in den Santa Monica Mountains besucht. Endlich konnte Matt die Gelegenheit wahrnehmen, den Mann kennenzulernen, der mit Argusaugen über Danielles Wohlergehen wachte, wie ein Vater über seine Tochter.
Die beiden Männer schienen sich zu mögen, obwohl Danielle bemerkte, dass George Matt anfangs mit einer diskret freundlichen Zurückhaltung begegnete. Sie konnte es ihm nicht verübeln. Schließlich hatte der gutmütige ältere Herr miterleben müssen, wie unglücklich sie nach ihrer Abreise aus Sunset City gewesen war. Und auch, wenn längst klar war, dass andere die Hauptschuld daran trugen, was ihr und Matt widerfahren war, so konnte sie doch nicht leugnen, dass die Sache auf Außenstehende etwas anders gewirkt haben musste, und dass durch ein klärendes Gespräch viele Tränen zu vermeiden gewesen wären.
Sehr interessiert hatte sich George allerdings an HAMILTON & SHELTON ENTERPRISES gezeigt. Er hatte Matt eine Menge Fragen gestellt, die dieser geduldig beantwortete.
Sehr viel gab es momentan jedoch nicht zu sagen, außer dass Edward durch seine heimlichen Transaktionen und zwielichtigen Geschäfte ein ziemliches finanzielles Chaos hinterlassen hatte. Derzeit kämpfte Matt gemeinsam mit seinem Anwalt und Freund Michael Donovan verbissen um den Fortbestand der Firma, die Anerkennung in der Geschäftswelt nach dem rüden Vertrauensbruch durch Georges Verschwinden und nicht zuletzt die Weiterführung des derzeit wichtigsten Projektes der HSE, dem Bau der neuen Ferienanlage. Die beiden saßen meistens bis in die Nacht hinein, rechneten, spekulierten und verhandelten mit Banken und Investoren. Ob ihre Bemühungen erfolgreich sein würden, hing letztlich von vielen verschiedenen Faktoren ab, und obwohl Michael Donovan sein ganzes juristisches Können aufbot, war noch immer nicht sicher, ob die finanziell schwer angeschlagene Firma überhaupt noch zu retten sein würde.
Unmittelbar vor seiner Flucht aus den Staaten hatte Edward seine Aktienanteile an der HSE ins Internet gestellt und meistbietend versteigert. Sie waren sofort aufgekauft worden, und weder Matt noch Michael vermochten bislang nachzuvollziehen, wer sie erworben hatte. Bisher hatte kein Aktionär seine Ansprüche angemeldet, und solange weder Klarheit darüber herrschte, ob es einen oder mehrere Käufer gab, noch darüber, wie diese potentiellen Käufer ihre Interessen bezüglich der Firma einsetzen würden, lag erst einmal alles auf Eis. Immerhin hatte Edward die Aktienmehrheit besessen. Nicht auszudenken, wenn ein einziger Käufer alle erworben hatte und sie gegen die Interessen der HSE einsetzte. Das würde unweigerlich das Ende der Firma bedeuten.
Cynthia Rodrigues hatte die kürzlich von Annabel Parker erworbenen Firmenanteile ebenfalls verkauft. Ein entsprechendes notarielles Schreiben war Matt in den letzten Tagen zugestellt worden. Doch auch hier waren bislang keine Angaben zum Käufer gemacht worden.
Danielle wünschte, sie könnte Matt irgendwie helfen. Sie bemerkte die dunklen Schatten unter seinen Augen, wenn er abends müde von der Firma nach Hause kam, und sie fragte sich insgeheim beunruhigt, wie lange er diesem enormen Druck gewachsen sein würde.
Zu seinem Kampf um die Firma kam noch die Sorge um Mason.
Matts Bruder hatte sich nach seinem Unfall und der schweren Gehirnoperation zwar körperlich sehr gut erholt, aber noch immer fehlte ihm jegliche Erinnerung an die letzten Lebensjahre. Dr. Pares vermochte nicht zu sagen, ob sein Patient diese Erinnerung jemals vollständig zurückerlangen würde. Dabei hätte Matt zu gerne erfahren, was es mit der Firma in Caracas auf sich hatte, die auf Masons fremden Namen lief. Auf den Namen, an den er selbst sich nicht erinnern konnte. Auch die Frage nach einer vermeintlichen Ehefrau, die dort angeblich auf ihn wartete, zeigte keinerlei Wirkung.
Es war zum Verzweifeln.
Matt und Michael hatten auf eigene Faust Erkundungen über die Firma in Venezuela eingezogen. Zu ihrem Erstaunen fanden sie heraus, dass die langjährige Chefin von CASTILLO CORPORATIONS, Joanna Castillo, vor einigen Monaten verstorben war. Dennoch schien sie zu existieren, diese geheimnisvolle Misses Castillo. Aber warum kam sie dann nicht nach Kalifornien, um ihren Mann zu besuchen?
Michael kannte einen vertrauenswürdigen Privatdetektiv, mit dem er schon mehrmals zusammengearbeitet hatte. Diesen Mann schickte er mit dem Auftrag nach Caracas, alles Wissenswerte über die Firma und deren Besitzer zu erkunden. Gespannt warteten er und Matt nun darauf, was der Mann herausfinden würde.
Danielle strich sich eine Haarsträhne zurück, die der Fahrtwind aus ihrem am Hinterkopf zusammengebundenen Haar gelöst hatte.
´Mason´, dachte sie bitter. Immer noch ein Buch mit sieben Siegeln. Würde er sich jemals daran erinnern, was er in den letzten Jahren alles getan hatte? Daran, wie übel er seinem Zwillingsbruder und den ihm nahestehenden Menschen mitgespielt hatte?
Vielleicht war es für alle Beteiligten besser, wenn alles für immer im Dunkeln bliebe... vergeben und vergessen.
Doch was würde geschehen, wenn sich Mason dennoch eines Tages plötzlich an alles erinnern würde?
´Das, was heute hier geschehen ist, wird Matt nie erfahren. Es sei denn, ich will, dass er es erfährt!´
Als das Hinweisschild für die Abfahrt zum Airport vor ihr auftauchte, versuchte Danielle auch den letzten schlimmen Gedanken konsequent aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie setzte den Blinker, ordnete sich gewohnheitsgemäß rechts ein und bog ab auf den Manchester Drive, der direkt zum CENTINELA Hospital führte.
*
Kurz nachdem Danielle das Haus verlassen hatte, machte sich Matt ebenfalls auf den Weg ins Büro. Außer dem Sicherheitsdienst war um diese Zeit noch niemand da, und auch Elisabeth würde erst in gut einer Stunde eintreffen, eine Tatsache, die ihm nur Recht war, denn obwohl sich Edwards ehemalige Sekretärin bisher sehr kooperativ gezeigt hatte, traute er ihr noch immer nicht ganz.
Er nutzte die Gelegenheit des Alleinseins und sah einige geheime Geschäftsakten durch, um sie mit den Aufzeichnungen der Sekretärin zu vergleichen. Doch irgendwie vermochte er sich nicht so recht auf die Zahlen und Tabellen zu konzentrieren. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab...
Wer mochte wohl Edwards HSE-Aktienanteile gekauft haben? Es war äußerst merkwürdig, dass sich bisher noch kein Käufer gemeldet hatte, um seine Ansprüche anzumelden.
Und was hatte es mit dieser Firma in Caracas auf sich, die anscheinend seinem Bruder gehörte? Bisher hatte sich der Privatdetektiv noch nicht gemeldet. Michael erwartete dessen Anruf frühestens heute oder morgen. Bis dahin konnten sie nur warten.
Matt strich sich seufzend über die Stirn und spielte mit dem Stift in seiner Hand.
Warten... Immer wieder warten... Aber worauf?
Auf das endgültige „Aus“ für die HSE, auf irgendeinen oder mehrere potentielle Käufer, die dann dank ihrer Aktienmehrheit durchaus in der Lage sein würden, aus einer erfolgreichen Immobilienfirma im Handumdrehen eine nichtsnutzige Kaugummifabrik zu machen?
Verdammt!
Verärgert warf er den Stift auf den Tisch. Es war einfach frustrierend, hier zu sitzen und nichts tun zu können, außer zu warten.
Für einen Moment dachte er an Mason und daran, dass sich sein Bruder wohl zurzeit ähnlich fühlen musste. Auch er wartete. Er wartete darauf, dass sein Gedächtnis nach der komplizierten Hirnoperation wieder funktionierte und er sich erinnern konnte.
Mason musste sich vorkommen wie in einem luftleeren Raum. Er hatte zwar sehr schnell begriffen, dass er kein Teenager mehr war, sondern sich lediglich an die letzten fünfzehn Jahre nicht mehr erinnern konnte, genauso, als sei die Zeit in seinem Kopf stehengeblieben. Und selbst, wenn die Erinnerungen doch noch einstellen sollten, so würden es kaum Gute sein, ganz im Gegenteil. Dann erst würde sich wirklich zeigen, ob Mason mit der Schuld umgehen konnte, die er in der Vergangenheit auf sich geladen hatte, angetrieben von einer unbeeinflussbaren, übermächtigen Kraft, die sein Handeln von innen heraus steuerte. Schuld an allem war nur dieser verdammte Tumor!
Matt atmete tief durch und lehnte sich zurück.
Ein Glück für ihn, dass er Danielle an seiner Seite hatte. Sie war momentan sein Fels in der Brandung, der Halt, den er brauchte, um seiner geschäftlichen Zukunft noch relativ gelassen entgegenzusehen. Selbst, wenn hier letztlich alles den Bach hinuntergehen sollte, so hatte er dennoch das Wichtigste in seinem Leben zurückerobert, die Frau, die er liebte. Seiner Liebe zu ihr war er sich ganz sicher. Wenn er abends heimkam, und sie war da, dann war für ihn die Welt wieder in Ordnung.
Er spürte, dass Danielle genauso fühlte wie er. Sie war glücklich hier in Sunset City, bei ihm. Obwohl sie manchmal in der letzten Zeit etwas still und in sich gekehrt wirkte, so, als würde sie irgendetwas bedrücken. Vor allem, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Aber das war sicher nur der Stress, dem sie momentan ausgesetzt war. Die Arbeit in der Klinik war nicht leicht, und sobald sie ihr Studium begann, hoffte er, dass sie den Schichtdienst in der Notaufnahme aufgab und nur noch zu ihren Praktika nach LA fahren musste.
Er lächelte zuversichtlich. Oh ja, sobald die Diskrepanzen rund um die HSE geklärt waren, würde er alles für die Hochzeit vorbereiten. Es sollte eine Traumhochzeit werden.
Das Läuten des Firmenhandys riss ihn abrupt aus seinen Gedanken.
Es war Michael Donovan.
„Matt, alter Junge, es gibt Neuigkeiten!“
„Gute oder schlechte?“
„Tja, kommt drauf an, aus welcher Perspektive man es betrachtet“, erwiderte Michael etwas ausweichend. „Wie schnell kannst du eine Vorstandssitzung einberufen?“
Matt verzog das Gesicht.
„Um alle Mitglieder zusammenzutrommeln? Frühestens heute Mittag.“
„Das ist okay.“
„Und warum die Eile?“
„Ich weiß, wer Edwards Firmenanteile gekauft hat.“
Matt presste angespannt das Handy an sein Ohr.
„Wer?“
„Ich bin in knapp zwei Stunden bei dir, dann erfährst du alles.“
„Spann mich nicht auf die Folter, Michael!“
„Keine Sorge. Du wirst deinen neuen Teilhaber früh genug kennenlernen. Er kommt heute ebenfalls nach Sunset City.“ Michael machte eine bedeutungsvolle Pause, bevor er weitersprach. „Und Matt, mach dich auf eine Überraschung gefasst!“
*
John O`Malley betrat das CENTINELA Hospital und unterdrückte trotz der Eile ein Gähnen. Er hatte schlecht geschlafen, weil er die halbe Nacht über seine Beziehung zu Kate nachgrübelte und ein paar Mal drauf und dran war, einfach alles hinter sich zu lassen und oben an ihre Tür zu klopfen. Sein Lebensglück war nur zwei Treppen entfernt, und doch brachte er es nicht fertig, zu ihr zu gehen und sie in die Arme zu nehmen.
Er war einfach noch nicht soweit.
„Guten Morgen allerseits“, grüßte er laut in die Runde, und die anwesenden Schwestern grüßten freundlich zurück. Dr. O`Malley erfreute sich nach wie vor großer Beliebtheit, vor allem beim weiblichen Personal. Immerhin war er ein gut aussehender Arzt, der sich noch nicht offiziell in festen Händen befand. Seitdem sich allerdings herumgesprochen hatte, dass eine neue junge Ärztin ihre Arbeit im CENTINELA aufgenommen hatte, die John von früher aus Chicago kannte, litt so manche Krankenhausangestellte seinetwegen unter chronisch schlaflosen Nächten.
Zu seinem Glück schien John den Wirbel um seine Person gar nicht zu bemerken. Als er am Tresen vorbeieilte, sah er, wie Danielle soeben einen Stapel Krankenblätter sortierte und blieb stehen.
Sie blickte auf und betrachtete ihn prüfend.
„Hey Doc, du siehst müde aus“, stellte sie besorgt fest.
Er lachte etwas gequält und unterdrückte ein weiteres Gähnen.
„Das Kompliment kann ich zurückgeben. Hast du so schlecht geschlafen wie ich?“
„Nein, ich war nur in Gedanken.“
„Das bist du öfter in letzter Zeit“, bemerkte er, beugte sich über den Tresen und sah ihr in die Augen. Eine Geste, die sämtliche anwesende Schwestern zu neidvollen Blicken veranlasste. „Komm schon, was ist los?“
Sie legte die Krankenblätter ab und lehnte sich zurück.
„Nichts. Wirklich, mach dir keine Sorgen.“
„Sicher?“
„Wie geht’s Kate?“, lenkte sie rasch vom Thema ab.
John grinste.
„Sie quält sich durch die Innere.“
„Ah ja.“ Danielle nickte verständnisvoll und zwinkerte ihm dann verschmitzt zu. „Ich bin sicher, sie quält sich gerne, solange sie in deiner Nähe ist.“
Mittlerweile gehörte nun auch Kate Grant zur festen Belegschaft der Klinik, zwar nicht in der Notaufnahme, aber immerhin als Ärztin in der medizinischen Abteilung für Innere Erkrankungen. Das war nicht unbedingt die Arbeit, die Kate sich vorgestellt hatte, denn ihr Gebiet war die Notfallmedizin, aber immerhin war sie erst einmal hier, in Johns Nähe.
Das Verhältnis zu ihm bewegte sich seit ihrer Ankunft in LA zwar nach wie vor auf rein freundschaftlicher Basis, aber alles deutete darauf hin, dass John vielleicht irgendwann bereit sein würde, ihrer Beziehung eventuell noch eine zweite Chance zu geben. Das war mehr, als Kate erhofft hatte, und so tat sie ihren Job, geduldig darauf wartend, dass in der Notaufnahme in absehbarer Zeit vielleicht eine Stelle für sie frei werden würde.
„Irgendetwas bedrückt dich, das kann ich spüren“, unterbrach John Danielles Gedanken, doch bevor sie antworten konnte, blickte er auf die Uhr. „Wann hast du Pause?“
„In einer Stunde“, erwiderte Danielle zögernd. „Aber ich...“
„Okay“, nickte John und ließ ihr keine Chance zu irgendwelchen Ausflüchten. „Dann treffen wir uns in einer Stunde unten in der Cafeteria. Es wird Zeit, dass wir uns mal wieder in Ruhe unterhalten, wie alte Freunde. Du erinnerst dich doch noch an deinen alten Freund John, oder?“
Danielle knuffte ihn liebevoll in die Wange.
„Wer ist John? Nie von ihm gehört!!“
„Ich warte auf dich.“
*
Dr. Pares hatte soeben ein Gespräch mit Mason, als die diensthabende Oberschwester den Kopf zur Tür hereinsteckte.
„Verzeihen Sie bitte die Störung, Doktor, aber hier ist jemand, der Sie dringend sprechen möchte.“
„Jetzt nicht“, erwiderte William Pares etwas unwirsch, doch die Schwester ließ nicht locker.
„Sie sollten sich wirklich einen Augenblick Zeit nehmen, die Sache wird Sie ganz sicher interessieren.“
Seufzend erhob sich Doktor Pares.
„Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment, ich bin gleich zurück. Dann führen wir unser Gespräch weiter.“
Mason nickte.
Als der Doktor den Raum verlassen hatte, lehnte er sich zurück und atmete tief durch. Er saß in einem Sessel am Fenster. Den eingegipsten linken Unterarm trug er noch immer in einer Schlinge. Der dicke Verband um den Kopf war bereits einem kleineren Wundpflaster gewichen, die Operationswunde heilte zur Zufriedenheit der Ärzte wirklich schnell.
Er hatte auch kaum noch Beschwerden, nur, wenn er sich allzu sehr anstrengte, um Licht in das undurchdringliche Dunkel seiner Vergangenheit zu bringen, begann sein Kopf dumpf zu schmerzen.
Darüber hinaus bereiteten ihm sein angebrochenes Brustbein und die gebrochenen Rippen bei bestimmten Bewegungen ziemliche Probleme, aber selbst das würde bald vergehen. Die Bauchnarbe, die vom Entfernen der Milz herrührte, war ebenfalls fast verheilt.
Das alles jedoch waren Dinge, die Mason kaum wahrnahm.
Was ihm wirklich Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass er sich noch immer nicht vollständig an seine Vergangenheit erinnern konnte. Aus seiner frühesten Jugend wusste er fast alles, aber dann musste der Tumor in seinem Kopf begonnen haben, massiv auf sein Gehirn Einfluss zu nehmen, und nun, da er entfernt worden war, fehlte Mason jegliche Erinnerung an diesen Zeitraum.
So zumindest erklärte ihm Dr. Pares den Umstand, dass er sich nur sehr bruchstückhaft an die vergangenen Jahre erinnerte.
In einigen grundlegenden Sachen hatte der Arzt in den therapeutischen Gesprächen seinem Gedächtnis etwas nachgeholfen, doch nach diesen Unterhaltungen wusste Mason manchmal nicht mehr mit Sicherheit zu sagen, ob das, an was er sich zu erinnern glaubte, wirklich passiert war, oder ob ihm seine Fantasie nur einen Streich spielte, entstanden aus den Dingen, die er von seinem Arzt erfahren hatte.
Er grübelte Tag und Nacht, er kämpfte sich in seinen Träumen durch einen Wirrwarr aus Gedankenfetzen, die irgendwie nicht zusammenpassten, und manchmal fürchtete er, in dem Chaos aus Traum und Wirklichkeit seinen Verstand zu verlieren.
Er wollte sich erinnern, wollte alles wissen, was in der Vergangenheit passiert war, aber da schien eine unüberwindliche Blockade in seinem Kopf zu sein, die dies verhinderte.
Es war zum Verzweifeln...
Sein Bruder Matt hielt sich während seiner kurzen Besuche strikt an die ärztlichen Anweisungen, die besagten, dem Patienten so wenig wie möglich aus seiner Vergangenheit zu erzählen. Überhaupt benahm Matt sich ihm gegenüber irgendwie eigenartig, er war zwar freundlich, aber sehr distanziert, als würde er Masons Verhalten argwöhnisch beobachten, immer auf das Schlimmste gefasst.
Was war das Schlimmste?
Dr. Pares hatte ihm gesagt, er habe seinem Bruder zeitweise ziemlich übel zugesetzt, aber er war dabei nicht ins Detail gegangen, so dass Mason sich den Kopf zermarterte, was er wohl Schlimmes getan haben könnte. Außer an ein paar deftige Jugendstreiche und das vage Gefühl, seinem Zwilling aus verschiedensten Gründen voller Neid und Argwohn begegnet zu sein, konnte er sich im Zusammenhang mit Matt an nichts Konkretes erinnern.
Was hatte er ihm angetan?
Und dann war da noch Matts zukünftige Frau – Danielle.
Er wusste nur, dass sie als Krankenschwester in der Notaufnahme arbeitete, und dass er jedes Mal, wenn er sie ansah, das unbestimmte Gefühl hatte, dass zwischen ihnen beiden eine mysteriöse Verbindung bestand. Sie schien ihm irgendwie vertraut. Dabei war sie bisher nur zweimal gemeinsam mit Matt hier gewesen, um ihn zu besuchen, und währenddessen sie sah ihn an, als hätte sie panische Angst vor ihm.
Warum?
„Ich muss ein Monster gewesen sein“, murmelte er kopfschüttelnd und blickte resigniert zum Fenster hinaus.
In der Ferne sah man wie unter einer Dunstglocke in der flirrenden Hitze die Hochhäuser von Downtown, und ganz hinten in den Bergen erinnerte weißglänzend voller heuchlerischer Unschuld in fetten Lettern das Wort „HOLLYWOOD“ symbolisch an eine typisch amerikanische Traumfabrik, die in Wirklichkeit nie eine gewesen war.
´Nichts als ein schöner Schein...´, dachte Mason und lächelte bitter. ´Eine Lüge. Genau wie mein ganzes bisheriges Leben! ´
*
„Ich hoffe, Sie haben einen guten Grund, mich mitten in diesem wichtigen Patientengespräch zu stören“, knurrte Dr. Pares verärgert. Die Oberschwester, die geschäftig neben ihm herlief, ließ sich nicht einschüchtern.
„Da bin ich sicher. Es sei denn, Sie möchten nicht als Erster mit der jungen Frau reden, die hergekommen ist, um Ihren Patienten zu besuchen.“
Dr. Pares blieb erstaunt stehen.
„Besuch für Mason?“
Die Oberschwester nickte bedeutungsvoll.
„Ja, sie sagt, sie kennt ihn von früher.“ Sie trat näher an ihn heran und senkte vertraulich die Stimme. „Und die Dame ist schwanger. Da dachte ich...“
Ein zuversichtliches Lächeln glitt über das Gesicht des Arztes.
„Richtig gedacht“, lobte er anerkennend und lief dann eiligen Schrittes den Gang entlang. Gespannt öffnete er die Tür zum Ärztezimmer.
Die junge Frau stand mit dem Rücken zu ihm am Fenster und blickte hinaus. Sie war schlank, hatte schulterlanges mittelblondes Haar und trug ein leuchtend blaues Kleid, das mit zwei breiten Bändern hinten in der Taille zusammengehalten wurde. Als sie sich zu ihm umdrehte, sah er deutlich, dass sie ein Baby erwartete, obwohl ihre Schwangerschaft noch nicht allzu weit fortgeschritten zu sein schien.
Sie lächelte etwas unsicher.
„Dr. Pares?“
Als er bestätigend nickte, trat sie einen Schritt auf ihn zu und streckte ihm zögernd die Hand entgegen. Er blickte in ein ebenmäßig hübsches Gesicht mit hohen Wangenknochen und strahlend blauen Augen.
Ihre Stimme zitterte leicht und verriet ihre Nervosität, während sie leise sagte:
„Entschuldigen Sie die Störung, aber die Schwester meinte, es wäre sinnvoller, zuerst mit Ihnen zu reden, bevor ich Mason besuche. Mein Name ist Shelton. Marina Cortez- Shelton, seine Ex-Freundin.“
*
John betrat die Cafeteria der CENTINELA-Klinik und sah sich suchend um.
Ganz hinten, an einem der kleinen Tische am Fenster saß Danielle und winkte ihm zu. Er ging hinüber und nahm ihr gegenüber Platz.
„Kaffee und einen Donat“, bestellte er bei der Kellnerin, die, kaum dass er sich gesetzt hatte, an den Tisch geeilt kam.
„Du wirst noch dick und fett, wenn du immerzu diese Dinger in dich hineinschlingst“, zog Danielle ihn auf und rührte dabei in ihrem Cappuccino.
John lachte.
„Tja, in einem Punkt hast du Recht, ich schlinge sie hinein, deshalb setzen sie bei mir auch nicht an.“ Er beugte sich etwas vor und sah Danielle erwartungsvoll an. „Ich habe leider nicht viel Zeit, oben wartet eine Endoskopie auf mich. Also, raus mit der Sprache: Was bedrückt dich?“
Ein Blick genügte und sie wusste genau, sie konnte ihm nichts vormachen.
„John, ich habe bisher mit niemandem über diese Sache gesprochen.“
„Deshalb bin ich hier“, erwiderte er unbeirrt und lächelte.
Unsicher lächelte Danielle zurück.
„Es ist etwas, das Dr. Pares sagte, als Stefano hier war, um Mason in ein Gefängnishospital zu bringen“, begann sie zögernd. „Matt fragte ihn, ob Mason davon erfahren würde, dass er wegen meiner Entführung unweigerlich ins Gefängnis gewandert wäre, wenn sein Bruder die Anzeige nicht zurückgezogen hätte.“
„Ja und? Was sagte Pares?“
„Er meinte, Matt solle sich keine Sorgen machen, was heute geschehen sei, bliebe unter uns. Wenn wir es nicht wollten, würde Mason es nie erfahren.“ Danielle blickte John vielsagend an. „Fast genau diese Worte hat Mason zu mir gesagt, als ich während der Entführung in seinem Schlafzimmer aufwachte und ihn entsetzt fragte, was zwischen uns beiden passiert sei.“ Sie schluckte mühsam. „Er hat ganz gemein gegrinst und gemeint, mit ein paar Drogen im Blut wäre ich ein völlig anderer Mensch. So wunderbar kooperativ.“ Sie fuhr sich nervös über ihre Stirn. „Ich war total benommen von dem Mittel, das er mir gegeben hatte und versuchte ihm trotzdem klarzumachen, dass Matt derjenige sei, den ich liebe, aber er lachte nur höhnisch und meinte: ´Das, was heute hier geschehen ist, wird Matt nie erfahren. Es sei denn, ich will, dass er es erfährt!´ Ich habe das wohl bisher irgendwie verdrängt, und erst in dem Augenblick, als ich die Worte von Dr. Pares hörte, fiel es mir plötzlich wieder ein.“
John hatte aufmerksam zugehört. Er sah die Unsicherheit in Danielles Augen und griff spontan über den Tisch hinweg nach ihrer Hand.
„Selbst, wenn es tatsächlich so gewesen ist, wie du befürchtest, dann macht das auch keinen Unterschied. Mason hat dich unter Drogen gesetzt, du hattest keinerlei Einfluss auf das, was geschah. Du erinnerst dich ja nicht einmal daran.“
Danielle seufzte.
„Das macht die Sache für mich auch nicht leichter. Wie meinst du, wird Matt sich fühlen, wenn er glauben muss…“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ich darf gar nicht daran denken, was passiert, wenn Mason sich irgendwann vielleicht wieder erinnern kann. Wenn meine Befürchtung stimmt, dann wäre das etwas, dass Matt seinem Bruder niemals verzeihen würde.“
„Und was ist mit dir?“, fragte John vorsichtig. „Könntest du…?“
Sie starrte ihn einen Augenblick lang an und schüttelte dann entschieden den Kopf.
„Nein. Alles, aber das nicht.“
Die Kellnerin eilte heran und brachte Johns Bestellung. Dankend nickte er ihr zu und wandte sich dann wieder an Danielle.
„Hör auf, dir darüber Gedanken zu machen“, beschwor er sie eindringlich. „Mason wird sich vielleicht nie mehr vollständig erinnern können. Ganz egal, was wirklich an jenem Tag zwischen euch geschehen ist, dich trifft absolut keine Schuld daran. Du machst dir damit nur unnötig das Leben schwer. Dir und Matt. Versuch es zu vergessen, Danielle.“
„Das kann ich nicht.“ Verzweifelt schüttelte sie den Kopf. „Ich werde Mason fragen, sobald er sich besser fühlt. Vielleicht kann er mir ja doch sagen, was an diesem Tag in seinem Strandhaus wirklich geschah.“
John wollte widersprechen, doch in diesem Augenblick ging sein Beeper los.
„Verdammt!“, fluchte er leise, nahm rasch einen Schluck Kaffee und schnappte sich den Donat. „Ich muss los.“
Danielle hielt ihn spontan am Ärmel fest.
„Ich werde mit ihm reden“, wiederholte sie entschlossen. „Und du... du solltest auch endlich mit der Sprache herausrücken.“
„Was meinst du?“, fragte er erstaunt.
„Dein Vater-Sohn-Gespräch mit George ist längst überfällig!“
John biss in seinen Donat, kaute nachdenklich und nickte dann.
„Ja, ich weiß, aber ich habe bisher einfach nicht den Mut dazu gefunden. George ist sehr krank, und ich befürchte...“
„Er kann mehr verkraften, als du glaubst. Es wäre viel schlimmer, wenn er die Wahrheit eines Tages durch einen dummen Zufall selbst herausfindet!“
„Ja, das schon, aber...“
„John!“ Danielle sah ihn eindringlich an. „Rede mit ihm! Bald!“
*
„Mason, hier ist Besuch für Sie“, rief die diensthabende Schwester und riss diensteifrig die Tür zum Krankenzimmer auf, nachdem sie laut und vernehmlich angeklopft hatte. Er saß noch immer in dem Sessel am Fenster. Erwartungsvoll drehte er sich um.
Die junge Frau, die mit scheuem Lächeln an der Tür stehen blieb, kam ihm vage bekannt vor, aber er wusste weder ihren Namen, noch wo er sie schon einmal gesehen hatte. Langsam stand er auf und ging ein paar Schritte auf sie zu.
„Bitte“, sagte er freundlich mit einer einladenden Handbewegung.
Etwas zögernd trat Marina näher und musterte ihn befangen und misstrauisch zugleich. Dr. Pares hatte sie zwar über den Zustand seines Patienten unterrichtet und sie gebeten, ihm möglichst nicht zu viel aus seiner Vergangenheit zu erzählen, aber es schien ihr noch immer unmöglich, dass Mason sich an fast nichts von all dem erinnern konnte, was in den letzten Jahren geschehen war.
Wie konnte man das alles einfach vergessen?
Aber vielleicht spielte er ja auch nur wieder eines seiner gemeinen Spielchen. Darin war er immer ein Meister gewesen.
„Hallo Mason“, sagte sie mit belegter Stimme. „Wie geht es dir?“
Er nahm die Hand, die sie ihm entgegenstreckte und stellte überrascht fest, dass sie eiskalt war. Wer zum Teufel war diese hübsche junge Frau, die ihn ansah, als würde sie nichts Gutes von ihm erwarten? Er hielt ihre Hand fest in der seinen, entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.
„Du bist...?“
„Marina“, erwiderte sie eilig und suchte vergebens in seinen Augen ein Zeichen des Wiedererkennens. Konnte man sich so perfekt verstellen? Oder wusste er wirklich nichts mehr?
„Marina Cortez-Shelton, Matts Ex-Frau.“
Mason zog erstaunt die Augenbrauen zusammen.
„Matts Ex?“
„Ja, ganz recht. Matt und ich sind seit gut einem Jahr geschieden.“ Es sollte so klingen, als würde ihr das nichts ausmachen, aber das unterschwellige Zittern in ihrer Stimme strafte sie lügen. Mason musterte sie aufmerksam und deutete dann auf ihren Bauch, der in dem Kleid kaum zu übersehen war.
„Aber du bist schwanger.“
„Ja“, nickte sie und entzog ihm ihre Hand. „Das ist wahr. Matt ist nicht der Vater des Babys.“
„Setz dich, Marina.“ Mason deutete auf den Sessel am Fenster und zog sich selbst einen Stuhl heran, ohne jedoch seine Besucherin aus den Augen zu lassen. „Warum bist du hier?“
„Ich habe von deinem Unfall gehört. Und davon, dass du eine schwere Operation hattest“, erwiderte sie zögernd.
Mason lächelte wissend. Auch wenn er sich momentan nicht an seine Vergangenheit erinnern konnte, so hieß das noch lange nicht, dass er auch seine gut ausgeprägte Menschenkenntnis eingebüßt hatte.
„Und da wolltest du dich persönlich davon überzeugen, ob ich wirklich nichts mehr von alledem weiß, was vorher geschehen ist.“
„Ja... Nein...“, stotterte Marina, während sie nervös ihre Finger ineinander verknotete. „Ich wollte nur sehen, wie es dir geht. Immerhin bist du Matts Bruder.“
Masons Verstand arbeitete auf Hochtouren.
Sie war garantiert nicht zufällig hier. Zwischen ihr und ihm musste irgendetwas Schwerwiegendes vorgefallen sein, er konnte es in ihren Augen lesen. Und wenn er vor seinem Unfall wirklich so ein boshafter Mensch war, wie Dr. Pares erwähnt hatte, konnte das mit Sicherheit nichts Gutes gewesen sein. Außerdem war Marina ausgesprochen hübsch und er brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, um was es dabei ging.
„Hatten wir ein Verhältnis miteinander?“, fragte er ganz unvermittelt.
Ihr fassungsloser Gesichtsausdruck war Bestätigung genug. Er grinste und nickte zufrieden. „Also hatten wir eins. Okay, dann hat sich wenigstens mein guter Geschmack nicht geändert. Erzähl mir davon. Seid ihr beide wegen mir geschieden? Ist mein Bruder deswegen sauer auf mich?“
Die Stille im Zimmer wirkte erdrückend.
Marina spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Sie starrte ihn feindselig an und ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.
„Wenn du glaubst, du kannst schon wieder irgendwelche Spielchen mit mir spielen, dann hast du dich getäuscht!“, fauchte sie ihn plötzlich wütend an.
Unbeeindruckt zog er die Augenbrauen hoch.
„Schon wieder? Also habe ich richtig geraten. Wir beide haben schon irgendwann... Wie nanntest du es soeben? Spielchen gespielt!“
Marina war aufgesprungen.
„Du Mistkerl! Ich weiß genau, dass du dich erinnerst! Die Ärzte kannst du vielleicht an der Nase herumführen, aber mich nicht!“
Langsam stand Mason auf und trat einen Schritt auf sie zu, worauf sie erschrocken vor ihm zurückwich.
„Fass mich bloß nicht an!“
Resigniert hob er seinen gesunden rechten Arm, ein Zeichen, dass er nichts Böses im Schilde führte.
„Bitte Marina“, meinte er mit versöhnlichem Lächeln. „Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt oder etwas gesagt habe, was dich aufgeregt hat. Ich weiß, ihr wollt alle nur mein Bestes, aber keiner sagt mir, was vor meinem Unfall alles geschehen ist. Ich versuche eben auf meine Art, so viel wie möglich herauszubekommen.“ Er presste verbittert die Lippen zusammen und setzte sich wieder. „Weißt du, es ist verdammt frustrierend, wenn man sich plötzlich an nichts mehr erinnern kann.“
„Frustrierend, oder… wohl eher angenehm für dich?“, platzte Marina heraus und beobachtete ihn argwöhnisch. Irgendetwas hatte sich verändert. Sein Gesicht war noch immer das Gleiche, aber es war der Ausdruck in seinen Augen, der sie irritierte. Wenn Mason sie in der letzten Zeit ihres Zusammenseins angesehen hatte, dann war da meist etwas Verschlagenes in seinem Blick, dieses Funkeln, das sie an ein heimtückisches Raubtier erinnerte.
Das war jetzt anders. Er sah sie an, ganz offen. Sein Blick signalisierte Ehrlichkeit und... Verzweiflung. Vielleicht sagte er ja wirklich die Wahrheit?
„Dr. Pares hat mir verboten, dir aus deiner Vergangenheit zu erzählen“, verriet sie ihm vorsichtig.
„Ja, kann ich mir denken“, brummte er unwirsch. „Er meint, ich müsse mich selbst an alles erinnern. Aber...“ Frustriert presste er die Fingerspitzen an die Schläfen „Es funktioniert einfach nicht!“
„Vielleicht brauchst du noch etwas Zeit.“
„Ich hatte Zeit genug“, erwiderte er heftiger als beabsichtigt. „Aber es passiert rein gar nichts. Tag und Nacht zermartere ich mir den Kopf, aber da ist nur Nebel. Undurchdringliche Dunkelheit. Alles kann passiert sein, alles! Und glaub mir, das macht mir eine Höllenangst!“
Gegen ihren Willen musste Marina lachen.
„Du und Angst? Oh mein Gott, Mason! Angst war immer ein Fremdwort für dich!“ Erschrocken hielt sie inne. „Tut mir leid, ich wollte nicht.“
„Schon gut“, wehrte er ab und sah sie erwartungsvoll an. „Wieder etwas, was ich von mir erfahren habe. Bitte, Marina, erzähl mir, was zwischen uns passiert ist! Vielleicht hilft es mir, mich zu erinnern.“
„Selbst, wenn ich das tue, ich glaube nicht, dass dir gefallen würde, was du zu hören bekommst.“
„Dieses Risiko muss ich eingehen.“
„Na schön.“ Entschlossen nickte sie und warf ihm zugleich einen warnenden Blick zu. „Aber sieh` dich vor, wenn ich herausfinde, dass du mich nur wieder belügst, dann sind wir fertig miteinander. Für immer!“
*
Atemlos kam Michael in den Konferenzraum geeilt.
„Dem Himmel sein Dank, dass ich es noch rechtzeitig geschafft habe“, schnaufte er und warf seinen Aktenkoffer auf einen der bequemen Ledersessel. „Wann beginnt die Vorstandssitzung?“
Matt, der allein an dem langen Tisch saß und noch einige Unterlagen studierte, sah auf die Uhr.
„In einer halben Stunde.“
„Okay“, nickte Michael zufrieden und setzte sich zu ihm. „Dann lass uns vorher alle Fakten noch mal durchgehen.“
„Nicht bevor du mir gesagt hast, was du weißt.“
„Du willst wissen, wer die HSE-Anteile gekauft hat?“ Michael grinste. „Geduld, Matt, er wird gleich hier sein.“
„Michael!“ Drohend blickte Matt seinen Freund an. „Hör gefälligst auf mit diesem Rätselraten, es geht hier immerhin um meine Existenz und um die der Firma. Also, wer ist der neue Teilhaber? Kenne ich ihn?“
Michael nickte vergnügt.
„Ja, das kann man wohl sagen.“
Die Türen zum Konferenzraum hatten sich fast geräuschlos geöffnet. Der Mann, der gefolgt von seinem Anwalt eintrat, hörte die letzten Worte und lächelte zufrieden.
„Guten Tag meine Herren“, sagte er laut und vernehmlich. „Wir kennen uns ja bereits. Ich bin der neue Teilhaber von HAMILTON & SHELTON ENTERPRISES.“
Matt blickte überrascht auf und traute seinen Augen kaum.
Vor ihm stand George Freeman.