„Doktor Pares, Mr. Shelton ist hier.“
Matt nickte der freundlichen Sekretärin, die ihm dienstbeflissen die Tür zum Ärztezimmer aufhielt, dankend zu.
In dem Zimmer, einem kleinen Konferenzraum gleich, saßen mehrere diensthabende Ärzte an einem Tisch und diskutierten eifrig über ein medizinisches Thema. Angesichts des Besuchers erhob sich einer von ihnen, ein hochgewachsener schlanker Mann um die Fünfzig, mit modisch kurz geschnittenem, bereits leicht ergrautem Haar, Nickelbrille und ebenmäßig freundlichen Gesichtszügen.
„Entschuldigen Sie mich bitte, meine Herren! Wir reden später weiter“, unterbrach er das Gespräch und reichte seinem Gast zur Begrüßung die Hand. Seine blaugrauen Augen, die Matt aufmerksam musterten, waren von unzähligen kleinen Fältchen umrahmt, die sich merklich vertieften, sobald er ein Lächeln auf den Lippen hatte.
„Mr. Shelton? William Pares. Danke dass Sie so schnell hergekommen sind.“
Er wies auf das benachbarte Zimmer. „Folgen Sie mir bitte, nebenan sind wir ungestört.“
Die Sekretärin eilte ihnen voraus und rückte einen der Besuchersessel zurecht.
„Bitte, nehmen Sie Platz, Mr. Shelton. Möchten Sie etwas trinken?“
Matt lehnte dankend ab.
„Die Ähnlichkeit mit Ihrem Bruder ist absolut verblüffend“, bemerkte Dr. Pares, während er sich hinter dem massiven Schreibtisch gegenüber seinem Gast niederließ. Matt nickte mit einem bitteren Lächeln.
„Ja, allerdings nur rein äußerlich.“ Sichtlich angespannt wartete er, bis sich die Tür hinter der Sekretärin geschlossen hatte. „Doktor, wie geht es meinem Bruder?“
William Pares nahm die Brille ab und lehnte sich zurück, während er seinen Gast ernst anblickte.
„Die Operation war alles andere als leicht, aber ich denke, Mason hat das Schlimmste überstanden.“
„Also konnten Sie die Einblutung stoppen, die von dem Aufprall mit dem Unfallwagen herrührte?“
„Die Einblutung…“ Dr. Pares zögerte einen Moment und drückte dann auf die Wechselsprechanlage. „Würden Sie mir bitte die Krankenakte von meinem Hirn-Patienten hereinbringen?“
„Einen Augenblick!“
Der Arzt suchte erneut Matts Blick.
„Aufgrund des CT mussten wir zunächst annehmen, dass es sich bei besagter Stelle im Gehirn um ein durch den Unfall verursachtes Hämatom mit nachfolgender Blutung handelte. Nach Öffnen des Schädels wurden wir eines Besseren belehrt. Da war keine Einblutung.“
„Dann rührte das, was Sie gesehen haben, gar nicht von dem Unfall her?“, fragte Matt überrascht. „Was war es dann, Doktor?“
Die Sekretärin kam hereingeeilt und übergab dem Arzt die gewünschte Akte.
Dr. Pares legte die Mappe auf dem Schreibtisch ab und atmete tief durch.
„Ihr Bruder litt an einem sogenannten Kraniopharyngeom.“
Matt starrte ihn verständnislos an und zog die Stirn in Falten.
„Einem... Was?“
William Pares nickte und hob lächelnd die Hände.
„Bitte entschuldigen Sie, Mr. Shelton, aber wir Ärzte neigen immer wieder dazu, während eines Gespräches in die Fachsprache zu verfallen. Ich werde Ihnen erklären, was ich meine.“ Er griff nach einem Notizzettel und einem Stift und begann mit schnellen Strichen eine Skizze zu zeichnen. „Wenn Sie sich einen Schädel vorstellen...“, erklärte er, während er mit dem Stift auf besagte Stelle der Zeichnung tippte „da haben wir das Gehirn. Und ungefähr an dieser Stelle hier befindet sich ein Teil, dass wir umgangssprachlich „Das Gehirn im Gehirn“ nennen, der Hypothalamus.“
Matt nickte.
„Davon habe ich schon gehört.“
Pares klappte die Akte auf und entnahm ihr eine CT-Aufnahme von Masons Schädel. Damit ging er zu einem Bildschirm, der sich neben der Tür befand, schob das Bild hinein und beleuchtete es.
„Hier sehen Sie, was ich meine“, erklärte er anhand der Aufnahme geduldig.
„Dieser Teil des Gehirns, Hypothalamus genannt, ist mitverantwortlich für unser Gefühlsleben, unsere Persönlichkeitsentwicklung, unser Sozialverhalten. Und genau dort haben wir Ihrem Bruder einen Tumor entfernt. Ein äußerst bösartiges kleines Ding an einer fast unzugänglichen Stelle.“
„Mason hatte einen Tumor?“ Matt schüttelte den Kopf und drückte die Fingerspitzen gegen seine Schläfen, als könne er das eben Gehörte nicht glauben. „Wie lange schon?“
Dr. Pares hob die Schultern.
„Schwer zu sagen. Die entfernten Tumorzellen werden noch genauestens untersucht, aber ich wage zu behaupten, dass Ihr Bruder schon sehr lange unter diesem Kraniopharyngeom gelitten hat. Vermutlich wurde er sogar damit geboren.“
Matt lehnte sich zurück, fuhr sich nachdenklich mit der Hand über die Stirn und atmete tief durch.
„Jetzt wird mir manches klar“, murmelte er kopfschüttelnd.
Dr. Pares sah ihn aufmerksam an.
„Wie meinen Sie das, Mr. Shelton? Litt Mason häufig unter starken Kopfschmerzen oder anderen stimmungsschwankenden Symptomen?“
Matt nickte.
„Was die Kopfschmerzen betrifft, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen, aber die restliche Symptomatik trifft voll ins Schwarze.“ Er lachte bitter, als er Dr. Pares` erstaunten Blick sah. „Masons Gefühlsleben, seine Persönlichkeit, sein Sozialverhalten... All das war bei ihm speziell darauf ausgerichtet, anderen zu schaden. Auf mich als seinen Zwilling hatte er es dabei besonders abgesehen. Er war regelrecht besessen davon, mich zu verletzen und mir wegzunehmen, was mir am meisten am Herzen lag.“
„Er hat Sie gehasst, seinen eigenen Zwilling?“
„Abgrundtief.“
„Gab es dafür einen bestimmten Grund?“
Matt hob resigniert die Schultern.
„Gute Frage, Doktor. Er hat sich gewissermaßen einen Grund zusammengebastelt.“
„Wie darf ich das verstehen?“
„Unsere Mutter war schwer herzkrank und starb unmittelbar nach unserer Geburt. Mason hat sich bereits im frühen Kindesalter in die wahnwitzige Idee hineingesteigert, ich sei für ihren Tod verantwortlich, weil ich nach ihm geboren wurde.“
Dr. Pares wiegte nachdenklich den Kopf.
„Er glaubt also, ohne Sie wäre Ihre Mutter noch am Leben.“
Matt nickte.
„Verrückt, was?“
„Nicht unbedingt. Ein solcher Tumor kann, wie gesagt, die gesamte Persönlichkeitsstruktur verändern. Das heißt, der Betreffende unterliegt starken Stimmungsschwankungen. Mitunter neigt er zu zwanghaften Handlungen, die er nicht zu kontrollieren vermag. Ein lebhafter Mensch kann durch ein Kraniopharyngeom regelrecht depressiv werden, ein anderer hyperaktiv, oder...“ Er machte eine Pause und sah Matt bedeutungsvoll an. „Oder ein völlig normaler Mensch wird plötzlich aggressiv und bösartig, und diese Charaktereigenschaften gipfeln dann in einer regelrechten Besessenheit, die sich meist gegen ein bestimmtes Ziel richtet. In Masons Fall gegen Sie... seinen Bruder.“
„Wollen Sie mir damit sagen, dass er das alles gar nicht absichtlich tut?“, murmelte Matt fassungslos. „Er ist krank?“
„Er war krank“, verbesserte Dr. Pares bedeutungsvoll. „Wir haben den Krankheitsherd entfernt. Was nun weiter passiert, müssen wir abwarten.“
Matt sah ihn unsicher an.
„Was kann denn passieren?“
Der Arzt verzog bedenklich das Gesicht.
„Solch eine schwere Operation birgt immer ungeahnte Risiken. Eines davon wäre eine totale oder zumindest teilweise Amnesie. Das heißt, Ihr Bruder könnte sich an gar nichts oder nur an bestimmte Lebensabschnitte zurückerinnern. Oder er erinnert sich an alles und kann sich sein Verhalten nicht erklären. Vielleicht benimmt er sich aber auch genauso wie vorher. Das bedeutet, dass man ihn therapieren müsste, um seine Persönlichkeitsstruktur wieder in normale Bahnen zu lenken. Das menschliche Gehirn ist wahnsinnig kompliziert. “
„Könnten durch die Operation in geistiger Hinsicht noch andere Schäden zurückbleiben?“
„Ich muss Ihnen gestehen, dass ich selbst bisher noch keine derart komplizierte Kraniotomie durchgeführt habe. Ein Tumor mit Einwirkung auf die Hypophyse galt lange Zeit als inoperabel. Aber da wir den Schädel ohnehin bereits geöffnet hatten, und ich gesehen habe, um was genau es sich handelt, habe ich es riskiert, um dem Patienten zu helfen. Wie er den Eingriff verkraftet, liegt allein an ihm und seiner Verfassung. Es ist alles möglich.“
Matt fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
„Ich habe mich mit Mason immer auf eine unerklärliche Weise verbunden gefühlt, egal, was er mir angetan hat“, murmelte er kopfschüttelnd.
„Ich kann Sie gut verstehen“, erwiderte Dr. Pares verständnisvoll. „Es wäre sehr hilfreich, wenn Sie mir einige Fragen beantworten und etwas mehr von Ihrem Bruder erzählen, von seinem Verhalten bzw. seinem Fehlverhalten. Dadurch sind wir auf alles vorbereitet und können besser auf ihn eingehen, wenn er erwacht.“
Matt nickte.
„Natürlich, Doktor, was immer Sie wissen müssen, ich werde alle Ihre Fragen beantworten.“
*
In der Hoffnung, Matt sei zurück, öffnete Danielle eilig die Wohnungstür, an der es soeben geläutet hatte. Kate stand draußen. Sie wirkte müde und abgespannt, die Strapazen der letzten Stunden hatten deutliche Spuren auf ihrem Gesicht hinterlassen.
„Tut mir leid, ich bin bestimmt nicht die Person, die Sie erwarten, aber ich wollte mich nur kurz zurückmelden, bevor ich es mir nach dieser unvorhergesehenen Schicht auf Malls Couch bequem mache.“
„Wo ist er? Gab es Probleme in der Klinik?“, fragte Danielle besorgt.
Kate schüttelte beruhigend den Kopf.
„Nein, alles in Ordnung. Er konnte noch nicht weg und hat mir seinen Wohnungsschlüssel gegeben. Ehrlich gesagt bin ich nach dem Flug und dieser unerwarteten Sonderschicht ziemlich fertig und war froh, als ich nicht mehr gebraucht wurde.“
Danielle lächelte entschuldigend.
„Ich bin unmöglich, lasse Sie hier draußen auf dem Flur stehen, wo bei uns alle Wände Ohren haben. Bitte kommen Sie doch herein. Matt wurde vor gut zwei Stunden zu einem Gespräch mit Dr. Pares gebeten. Ich würde auch gern wissen, wie die OP verlaufen ist.“
Wenig später hatten Danielle und Kate es sich bei einer Tasse Cappuccino in der kleinen gemütlichen Wohnküche bequem gemacht und warteten auf Matts Rückkehr aus dem Krankenhaus. Kate hatte inzwischen ausführlich über den Verlauf der Operation und den daraus resultierenden Erkenntnissen berichtet. Danielle war erschüttert über diese unerwartete Diagnose, und je mehr Zeit verstrich, desto unruhiger wurde sie.
Wie würde Matt auf die brisanten Neuigkeiten reagieren? Was ging in ihm vor, wenn er erfuhr, dass Mason die ganze Zeit von einer heimtückischen, krankhaften Veränderung in seinem Gehirn beeinflusst worden war?
Wieviel konnte er nach Jahren des gegenseitigen Hasses verkraften?
Irgendwann begann Danielle unruhig im Zimmer auf und ab zu laufen.
„Wer weiß, wie er dies alles aufgefasst hat! Immerhin dachte er die ganze Zeit, sein Bruder habe ihn gehasst, und nun muss er plötzlich erfahren, dass Mason eigentlich gar nicht anders konnte, als so zu handeln!“
„Ja, damit hatte sicher niemand gerechnet, am allerwenigsten Matt“, erwiderte Kate und nickte ihr zuversichtlich zu, während die beiden Frauen im Verlauf ihres Gespräches wie selbstverständlich zum vertrauten „du“ übergegangen waren. „Aber er wird schon damit fertig. Er sieht nicht so aus, als würde er gleich aus den Schuhen kippen.“
Danielle sah sie nachdenklich an.
„Sicher, aber die letzte Zeit war nicht gerade leicht für ihn.“
Kate hob erstaunt die Augenbrauen.
„Nach dem, was du mir erzählt hast, waren die letzten Wochen auch für dich alles andere als einfach. Und? Du hast sie überstanden!“
„Mit Johns Hilfe.“
„Ich bin mir ganz sicher, du hättest es auch allein geschafft. Man ist oft viel stärker, als einem bewusst ist.“
„Mag sein. Aber es wäre schwerer gewesen“, vermutete Danielle und sah Kate fragend an. „Und was ist mit dir? Mir scheint, du bist jetzt auf dem richtigen Weg.“
„Bin ich das?“, fragte Kate und zog unsicher die Augenbrauen hoch.
„Ja“, erwiderte Danielle überzeugt. „Sonst wärst du jetzt nicht hier.“
Nachdenklich nippte Kate an ihrem Cappuccino.
„Ich bin hergekommen, um die Stelle in Santa Monica anzunehmen. Zumindest habe ich mir das bisher einzureden versucht. Die Wahrheit ist, ich habe es in Chicago nicht mehr ausgehalten, seitdem John von dort weggegangen ist. Ich wollte wieder in seiner Nähe sein.“ Sie stellte die Tasse ab und lachte kopfschüttelnd. „Weißt du Danielle, es ist schon komisch. Ich habe dich erst vor ein paar Stunden kennengelernt und schon erzähle ich dir Dinge, die ich mir bis vor kurzem noch nicht einmal selbst eingestanden hätte. Das ist höchst ungewöhnlich.“
Danielle nickte lächelnd.
„Ich glaube, wir beide sind uns auf eine gewisse Art ziemlich ähnlich.“
*
Nach dem ausführlichen Gespräch, in dessen Verlauf sich Dr. Pares mit Matts Einverständnis zahlreiche Notizen gemacht hatte, begleitete der Hirnspezialist seinen Besucher hinauf zur Intensivstation, wohin man Mason nach dem Eingriff verlegt hatte.
„Bitte nur ein kurzer Besuch“, bat William Pares zum Abschied eindringlich, nachdem er Matt bei der diensthabenden Schwester angemeldet hatte. „Der Patient befindet sich noch immer in einem äußerst kritischen Zustand und wird in den nächsten Stunden sowieso nichts mitbekommen.“
Matt nickte.
„Natürlich, Doktor.“
Dr. Pares reichte ihm die Hand.
„Danke für Ihr Verständnis und für Ihre Geduld, mit der Sie meine Fragen beantwortet haben. Egal wie die Sache mit Ihrem Bruder ausgehen mag, die heute gewonnenen Erkenntnisse sind von großer Bedeutung und sehr hilfreich für die Behandlung von derartigen Hirntumoren. Ich habe noch einige Tage hier in LA zu tun und werde Mason auch weiterhin betreuen. Warten wir ab, wie sich alles entwickelt.“
„Ich danke Ihnen, Dr. Pares“, erwiderte Matt. „Ohne Ihren Einsatz wäre mein Bruder mit Sicherheit gestorben, und geblieben wäre dann nichts als Hass.“
Dr. Pares klopfte ihm verständnisvoll auf die Schulter.
„Die Natur geht manchmal eigenartige Wege, Matt. Denken Sie in Ruhe über alles nach. Und vielleicht können Sie Ihrem Bruder irgendwann verzeihen.“
Zögernd und innerlich angespannt folgte Matt der diensthabenden Schwester den Gang entlang zur Schleuse, die in die IST- Räume führte.
„Legen Sie bitte Kittel, Mundschutz und Handschuhe an“, ordnete die Schwester streng an und wartete geduldig, bis er der Anweisung Folge geleistet hatte. Erst dann öffnete sie die Tür und führte ihn zu Masons Krankenzimmer.
„Wie Dr. Pares bereits sagte, bitte nur ein kurzer Besuch, Mr. Shelton. Ihr Bruder ist erst vor ein paar Minuten aus dem OP in die Überwachung gebracht worden.“
Matt nickte, den Blick unverwandt auf das weiße Krankenbett gerichtet, dass eingerahmt von modernster Technik, verbunden mit zahlreichen Kabeln, wie verloren in dem sterilen Raum stand. Ein monotones Piepsen der Apparate zeigte an, dass der Patient am Leben war und seine Vitalfunktionen momentan im Normalbereich lagen.
Langsam, als hätte er Angst vor dem, was ihn erwartete, trat Matt näher und blieb schließlich vor dem Bett stehen.
Blass wie eine farblose Wachsfigur, mit geschlossenen Augen und frischem Kopfverband lag sein Bruder da, an unzählige Schläuche angeschlossen, die ihn nach dem schweren Eingriff am Leben erhielten. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Matt, sich selbst dort in den Kissen liegen zu sehen, und sein Magen zog sich schmerzlich zusammen.
´Meine andere Hälfte...´, dachte er bitter. ´So fremd und doch so vertraut. Was hast du mir alles angetan, Mason! Dein ganzes bisheriges Leben hast du damit verbracht, mir zu schaden, wo immer es ging und mir alles, was mir etwas bedeutete, zu nehmen. Nun muss ich erfahren, dass du dein Handeln gar nicht steuern konntest, diesen tiefen unbegründeten Hass auf mich, der dich bis an deine Grenzen trieb.´
Er starrte auf Masons unbewegliches Gesicht – sein Gesicht. Die Ähnlichkeit zwischen ihnen war wirklich unglaublich.
Was würde geschehen, wenn Mason erwachte? Wie würde es sein? Würde er sich an irgendetwas erinnern oder funktionierte sein Gedächtnis am Ende überhaupt nicht mehr?
Matt glaubte an dem Kloss, der sich in seinem Hals bildete, ersticken zu müssen.
Was passierte mit ihm? Warum fühlte er sich plötzlich innerlich so zerrissen?
Seine Gedanken wanderten zurück in die Vergangenheit…
Plötzlich sah er wie durch einen Nebel wieder die beiden kleinen Jungen, die sich aufs Haar glichen und auf einem vornehmen englischen Gut einträchtig zusammen im Sand spielten, bis der eine plötzlich ohne Vorwarnung die Schaufel nahm und sie dem anderen mit aller Kraft an den Kopf schlug... Fast konnte er das warme Blut spüren, dass ihm damals über die Stirn gelaufen war, bevor sein Vater die Platzwunde hatte nähen lassen. Zurückgeblieben war eine winzig kleine Narbe am Haaransatz.
Mechanisch fuhr Matt mit dem Finger über die kaum noch sichtbare Stelle.
Die Szene in seiner Erinnerung wechselte.
Die Jungen waren jetzt älter, der eine hatte sich feingemacht und wollte das Haus verlassen, um sein Mädchen zum Abschlussball abzuholen, als ihn kurz hinter den Stallungen jemand mit einem stumpfen Gegenstand niederschlug und einsperrte. Als er zu sich kam, sah er vom Fenster aus den anderen, der aussah wie er selbst, mit seinem Mädchen im Auto, sie küssten sich und fuhren lachend davon.
Matt stöhnte unmerklich auf.
Unzählige solcher Erinnerungen drängten sich mit einem Mal in sein Gedächtnis, obwohl er sie mit aller Kraft zu blockieren versuchte. Und dann sah er plötzlich wieder Danielles Gesicht, blass und leblos von der Überdosis, die Mason ihr gegeben hatte, um sie zu töten…
Hilfesuchend drückte er erneut seine Fingerspitzen gegen die Schläfen, dass es schmerzte.
„Nein... Schluss damit!“
Entschlossen drehte er sich um und verließ fluchtartig das Krankenzimmer seines Bruders.
Vor der Tür zur Intensivstation blieb er schweratmend stehen. Er konnte nicht mehr genau sagen, wann er auf dem Weg nach draußen Kittel und Mundschutz losgeworden war, er wusste nur, dass er Masons Zimmer in maßloser Wut und Panik verlassen hatte.
Er lehnte sich gegen die kühle Wand und schloss für Sekunden die Augen.
Es waren die Erinnerungen. Er hatte sie viel zu lange verdrängt.
Nach einer Weile fühlte er erleichtert, wie sich sein Herzschlag langsam wieder normalisierte. Mechanisch massierte er seine schmerzende Stirn.
Hatten Mason oft solche Kopfschmerzen gequält? Dr. Pares meinte, die Schmerzen hinter seiner Stirn wären wahrscheinlich zuweilen nahezu unerträglich für ihn gewesen.
Mit einem Schlag wurde ihm bewusst, wie wenig er eigentlich von seinem Bruder wusste. Eigentlich fast gar nichts.
Und dann dachte er wieder an Danielle. Er würde zu ihr fahren und ihr erzählen müssen, was er eben erfahren hatte.
„Tut mir wirklich leid, Danielle, aber dass mein Bruder dich entführt und fasst umgebracht hätte, das war nur ein dummes Versehen. Er hat nämlich zuweilen Dinge getan, die er eigentlich gar nicht so meinte, weil in seinem Kopf nicht alles in Ordnung war...“
Verdammter Blödsinn!
Nein, das würde sie wahrscheinlich nicht verstehen. Wie sollte sie auch! Er verstand es ja selbst noch nicht.
In seiner Jackentasche knisterte der Umschlag mit Masons persönlichen Papieren, die ihm die Schwester vorhin an der Rezeption ausgehändigt hatte.
Gerade, als er danach greifen und hineinsehen wollte, öffnete sich die Tür hinter ihm, und John O`Malley trat heraus. Er sah abgespannt aus, tiefe Schatten lagen unter seinen Augen. Die außergewöhnlich lange Schicht und die Anspannung der letzten Stunden hatten ihre Spuren hinterlassen.
Trotzdem lächelte er.
„Ganz schön viel für einen Tag, was?“
Matt nickte.
„Das kann man wohl sagen. Ich kann kaum fassen, was ich eben von Dr. Pares erfahren musste.“
„Glauben Sie mir, Matt, wir waren während der Operation genauso überrascht“, erwiderte John. „So eine Art von aggressivem Tumor kommt äußerst selten vor, und wir können von Glück sagen, dass ein Spezialist wie William Pares zur Stelle war und Ihren Bruder operiert hat.“
„Ob man hier wirklich von Glück sprechen kann, wird sich noch zeigen“, murmelte Matt. „Und ich bin mir nicht sicher, wie Danielle die Sache verkraften wird.“
John blickte ihn nachdenklich an.
„Sie sollten Danielle nicht unterschätzen. Sie kann mehr verkraften, als Sie glauben.“
Matt warf ihm einen Blick zu, den John zunächst nicht zu deuten wusste.
„Sie haben sie in den letzten Wochen ziemlich gut kennengelernt.“
John vermeinte einen Anflug von Eifersucht aus seiner Stimme herauszuhören und lächelte nachsichtig.
„Oh ja, das stimmt. Sie ist ein ganz besonderer Mensch. Warmherzig und sehr sensibel. Aber gerade diese Eigenschaften machen sie auch verletzlich.“
„Und ich war es, der sie verletzt hat. Ist es das, was Sie damit andeuten wollen?“
„Ich will gar nichts andeuten. Aber ich finde, Danielle hat es nach dieser ganzen Misere verdient, wieder ein wenig glücklich zu sein. Und wenn Sie nicht dafür sorgen, dann wird es irgendwann ein anderer tun.“ Er warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr. „Ich muss wieder an die Arbeit, wir sehen uns später.“ Damit drehte er sich um und ging den Gang entlang in Richtung Fahrstuhl.
Matt stand wie angewurzelt und sah ihm nach. Dann plötzlich schien er sich zu besinnen und fuhr sich nervös mit den Fingern durchs Haar.
Verdammt, warum reagierte er so gereizt? Danielle hatte ihm doch bereits gesagt, dass John O`Malley nur ein guter Freund war!
Mit wenigen Schritten hatte er den jungen Arzt eingeholt.
„Dr. O`Malley... John... Warten Sie!“
Abwartend blickte John sich um.
„Es tut mir leid“, sagte Matt aufrichtig und streckte ihm versöhnlich die Hand entgegen. „Ich war ungerecht, aber momentan liegen meine Nerven ziemlich blank.“
Nach einem kurzen Zögern schlug John ein.
„Kein Problem, Matt. Ich kann das verstehen. Und was Danielle betrifft...“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause und nickte dann bestätigend. „Ich habe sie wirklich gerne und würde fast alles für sie tun. Aber ich bin keine Konkurrenz für Sie, denn ich habe begriffen, dass in ihrem Herzen nur Platz für einen Einzigen ist.“
Die beiden Männer sahen einander in die Augen.
„Danke John“, sagte Matt ehrlich. „Und es ist mir sehr wichtig, dass Sie eines wissen: Ich hatte keine Schuld daran, was zwischen Danielle und mir vorgefallen ist. Die Misere, von der Sie eben sprachen, haben wir vornehmlich Mason zu verdanken. Mason und meiner Ex-Frau. Die beiden hätten mit ihren gemeinen Intrigen fast Erfolg gehabt. Aber das war hoffentlich die letzte Gemeinheit meines Bruders. So oder so.“ Unweigerlich dachte er daran, wie er Mason vor ein paar Minuten gesehen hatte, bewusstlos, an unzählige Schläuche angeschlossen um sein Leben kämpfend.
John nickte, als könne er Matts Gedanken lesen.
„Er wird nicht mehr derselbe sein, wenn er erwacht. Aber wie sich das äußert, ist jetzt wirklich noch nicht abzusehen.“
Matt atmete tief durch und versuchte gegen das beklemmende Gefühl in seiner Brust anzukämpfen.
„Ja, Dr. Pares erwähnte es bereits.“
„Fahren Sie zu Danielle?“
„Ich weiß noch nicht, ich brauche ein wenig Zeit, um meine Gedanken zu ordnen.“
„Das kann ich gut verstehen.“
Johns Beeper meldete sich. Er zog ihn aus der Kitteltasche und blickte kurz auf die angezeigte Nummer. „Tut mir leid, aber die Pflicht ruft. Bis später, Matt.“
*
Kate war Danielles wachsende Unruhe nicht entgangen.
„Vielleicht solltest du Matt auf seinem Handy anrufen“, schlug sie schließlich vor.
„Das habe ich bereits versucht, aber es ist ausgeschalten. Vielleicht will er nach dem Gespräch mit dem Arzt einen Augenblick allein sein“, mutmaßte Danielle achselzuckend, und ihre Augen wanderten erneut zur Uhr.
In diesem Augenblick meldete sich ihr Handy. Auf dem Display wurde Johns Name angezeigt. Eilig nahm sie das Gespräch an und erfuhr, dass Matt bereits vor über einer Stunde die Klinik verlassen hatte. Nachdenklich gab sie das Handy schließlich an Kate weiter. „Er möchte dich sprechen.“
Was auch immer John am Telefon zu ihr sagte, seine Worte zauberten ein Lächeln auf das Gesicht der jungen Ärztin.
„Kein Problem, ich werde mal sehen, ob ich mit den Vorräten in deinem Kühlschrank etwas anfangen kann. Dann warte ich mit dem Abendessen auf dich. Ist das okay? ... Fein, bis dann, Mall!“
Kate reichte Danielle ihr Handy zurück und sah deren besorgtes Gesicht.
„Was ist los?“
„John sagte, er habe mit Matt gesprochen, und er erschien ziemlich durcheinander. Er meinte, er wolle für eine Weile allein sein, um über alles in Ruhe nachdenken zu können.“
Kate nickte verständnisvoll.
„Nach allem, was du mir über Matt und seinen Zwillingsbruder erzählt hast, ist das irgendwie verständlich. Vor allem und nach der Nachricht heute.“ Sie überlegte kurz. „Mall sagt, er wird in etwa einer Stunde zu Hause sein. Ich bereite währenddessen ein Abendessen für uns vor. Leiste uns doch Gesellschaft!“
„Nein danke, Kate, ich bin sicher, ihr beide habt eine Menge zu besprechen. Ich würde heute bestimmt nur stören. Außerdem glaube ich, Matt braucht mich im Moment nötiger.“
„Weißt du denn, wo er sein könnte?“, fragte Kate erstaunt.
Danielle hob vage die Schultern.
„Zumindest habe ich so eine Ahnung. Es gibt da einen Platz...“
Kate sprang auf und griff nach ihrer Tasche.
„Na dann los, lass dich nicht aufhalten! Viel Glück!“
*
Ein lang anhaltendes wütendes Hupkonzert brachte Matt in die Wirklichkeit zurück, und er bemerkte, dass er aus der Überholspur heraus zu weit auf die rechte Fahrbahn geraten war. Der Fahrer des Wagens, den er dadurch fast in die Leitplanken abgedrängt hätte, zeigte ihm in einer unmissverständlichen Geste, was er von diesem unverantwortlichen Verhalten hielt, gab Gas und brauste davon. Matt fluchte und biss die Zähne aufeinander.
„Reiß dich zusammen“, ermahnte er sich kopfschüttelnd und nahm die nächste Ausfahrt. Erst jetzt registrierte sein überreiztes Gehirn, dass er, ohne nachzudenken, auf der Küstenstraße fast bis Sunset City gefahren war.
Er lenkte den Wagen in eine der Parkbuchten am Straßenrand und stieg aus. Langsam ging er den Weg entlang, den er von früher kannte, und der über einen schmalen Pfad direkt bis zum oberen Rand der Klippen führte, von wo aus sich dem Betrachter ein atemberaubendes Panorama aus Himmel, Meer und der weit unter den Felsen malerisch daliegenden Stadt bot. Der bevorstehende Sonnenuntergang tauchte alles ringsum in ein märchenhaft goldenes Licht.
Doch für die Schönheit der Natur hatte Matt heute keinen Blick.
Direkt am Abgrund blieb er stehen, die Hände tief in den Taschen seiner Lederjacke vergraben und starrte gedankenverloren hinunter in die tödliche, aus scharfkantigem Fels und aufschäumendem wilden Wasser bestehende Gruft, die so gefährlich und dennoch unvergleichlich schön und faszinierend war. Hier hatte er sich oft mit Marina getroffen, damals, als sie frisch verliebt waren, und die ganze Welt noch in Ordnung schien. Sie glaubten zu dieser Zeit beide fest daran, dass ihre Gefühle füreinander unbesiegbar seien, und ihre Liebe ewig andauern würde. Und doch war diese einmalige, große Liebe eines Tages plötzlich und unerwartet zerbrochen, genauso schnell wie die Wellen, die sich unaufhörlich unten an den Felsen brachen und in Sekundenschnelle in Milliarden von glitzernden Wassertröpfchen zerbarsten. Matt erinnerten sie an Glasscherben, die sich schmerzhaft in die Haut bohrten und tiefe Narben hinterließen. So hatte er gefühlt, als Marina ihn plötzlich verlassen hatte. Damals, als Mason sie mit überlegenem, eiskaltem Lächeln einfach mit sich nahm, und seinen eigenen Bruder in einem Strudel aus Wut, Verzweiflung und innerem Schmerz zurückließ.
Und das sollte er jetzt alles einfach so vergessen und verzeihen?
Zwei endlos lange Jahre hatte er gebraucht, um über die Trennung von seiner großen Liebe hinwegzukommen, und wenn auch die Zeit manche Wunden zu heilen vermochte, so war der alles verzehrende Schmerz in seinem Inneren damals doch nur allmählich einer dumpfen, verbissenen Gleichgültigkeit gewichen, die jeden einzelnen Tag und jede Nacht seines Lebens beherrschte.
Bis er Danielle getroffen hatte...
Sie erwischte ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sie war der lang ersehnte Sonnenstrahl in seinem düsteren einsamen Leben. Und selbst wenn er sich am Anfang noch hartnäckig gegen seine Gefühle wehrte, so hatte er doch bereits in dem Augenblick, als sich ihre Blicke das erste Mal begegneten und einander festhielten, irgendwie gefühlt, dass diese bezaubernde junge Frau vielleicht alles verändern würde.
Doch kurz darauf war Mason erneut aufgetaucht und hatte mit allen Mitteln versucht, ihm nun auch Danielle zu nehmen. Es war ihm nicht gelungen. Im Gegenteil, um ein Haar hätte er seinen fanatischen Hass auf seinen Bruder und seine Jagd auf dessen geliebte Frau mit seinem und mit ihrem Leben bezahlt.
Matt strich sich über die Stirn.
Vielleicht wäre es besser gewesen, Mason hätte die Operation nicht überlebt.
Er erschrak fast bei diesem Gedanken.
Okay, versuchte er sich zu beruhigen, zwar hatten alle lange Zeit geglaubt, dass Mason auf der Flucht vor der Polizei tödlich verunglückt sei. Aber ihm bewusst den Tod wünschen? Nein, das hatte er selbst niemals wirklich getan. Und das würde er auch jetzt nicht tun.
Er atmete tief durch, während er weiter auf die tosende Brandung starrte, ohne wirklich etwas davon zu sehen.
Seine Gedanken wanderten unaufhörlich in die Vergangenheit und wieder zurück in die Gegenwart. Wie oft hatte er sich früher gewünscht, ein normales Verhältnis zu seinem Bruder zu haben. Jetzt würde er vielleicht seine Chance bekommen. Aber wollte er sie überhaupt noch, nach allem, was geschehen war? Konnte er Mason wirklich alles verzeihen, was er ihm angetan hatte?
Und selbst wenn, was würde Danielle dazu sagen? Immerhin hatte Mason skrupellos mit ihrem Leben gespielt und sie nach der Entführung aus der Berghütte beinahe umgebracht. Würde sie seine Nähe ertragen und wirklich vergessen können, was geschehen war?
Er presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Nein, das konnte sie ganz sicher nicht, sie war zwar überaus gütig und verständnisvoll. Aber das war nun wirklich zu viel verlangt.
Also würde er sich entscheiden müssen, zwischen seinem Bruder und der Frau, die ihm alles bedeutete. Und auch wenn es schmerzte, er wusste ganz genau, wie diese Entscheidung ausfallen würde.
Er war so tief in seine Gedanken versunken, dass er nichts um sich herum wahrnahm. Für Bruchteile von Sekunden drohte sein Herzschlag auszusetzen, als irgendwann plötzlich ein Geräusch hinter ihm in sein Bewusstsein drang, und sich eine Hand unvermittelt auf seine Schulter legte...
*
„Haben Sie noch einen Wunsch, Mister Hamilton? ... Misses Hamilton?“, fragte Rosita und blickte abwartend von einem zum anderen, während sie neben dem großen ovalen Tisch im Esszimmer stehenblieb.
„Nein, verschwinden Sie“, erwiderte der Hausherr mit einer unwirschen Handbewegung, während sich Sophia aufgrund seiner unfreundlichen Äußerung empört räusperte. Sie tupfte sich mit der Serviette ihre Lippen ab und reichte der Haushälterin mit einem betont freundlichen Lächeln ihren Teller.
„Vielen Dank, meine Liebe, das Essen war hervorragend. Machen Sie sich einen schönen Abend, Rosi, wir benötigen Ihre Hilfe heute nicht mehr.“
Rosita nickte.
„Danke, Misses Hamilton. Gute Nacht.“
Kaum, dass die Hausangestellte die Tür hinter sich geschlossen hatte, sprang Edward auf und begann nervös im Zimmer auf und ab zu laufen.
„Du bist zu freundlich, Sophia“, beklagte er sich. „Das Personal muss man härter anpacken, sonst tanzen sie einem auf der Nase herum.“
Sophia nippte an ihrem Wein und schüttelte missbilligend den Kopf.
„Rosita arbeitet bereits seit fast zwanzig Jahren für uns. Sie war immer loyal, und sie tanzt bestimmt niemandem auf der Nase herum.“
Edward antwortete nicht. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, verharrte er vor dem Fenster und starrte hinaus.
Sein Schweigen wirkte eher bedrohlich als beruhigend, und irgendwann stand Sophia auf und ging zu ihm hin.
„Worüber machst du dir Sorgen?“, fragte sie sanft.
„Ich frage mich, wo Matt die ganze Zeit über steckt“, knurrte Edward anstatt einer Antwort ungehalten. „Ausgerechnet jetzt, wo ich ihn dringend brauche, ist er nirgends zu erreichen.“
Sophia legte beschwichtigend ihre Hand auf seine Schulter.
„Es wird schon alles gut gehen. Ich glaube nicht, dass dich wirklich eine Gefängnisstrafe erwartet.“
Edward verzog das Gesicht.
„Darauf verlass dich lieber nicht, Sophia.“
„Weshalb?“, fragte sie gutgläubig. „Du bist der angesehenste Immobilienmakler weit und breit. Wer sollte es wagen, dich zu verurteilen?“
„Dieser verdammte Staatsanwalt!“, fauchte er verbissen und ballte die Fäuste. „Er wartet schon lange darauf, dass er mir eine reinwürgen kann, und diesmal sieht es ganz so aus, als würde ihm das auch gelingen.“
Sophia musterte ihn argwöhnisch von der Seite.
„Also gibt es einen Grund, weshalb er...“
„Natürlich gibt es einen Grund, verdammt!“, brüllte Edward. „Den gibt es immer! Man darf sich nur nicht erwischen lassen!“
Sophia schluckte und trat einen Schritt zurück.
„Schrei nicht so, es könnte dich jemand hören.“
Edward verdrehte wütend die Augen, ging zurück zum Tisch und griff nach seinem halbvollen Weinglas.
„Wer zum Teufel sollte mich hier hören? Unsere Haushälterin hat Feierabend, und Caroline konnte es mit ihrem neuen Bräutigam kaum erwarten, das Haus wieder zu verlassen. Sie behandelt mich wie einen Aussätzigen.“
„Was erwartest du denn von ihr? Soll sie dir um den Hals fallen, wo du sie fast umgebracht hättest?“
„Das war ein Unfall!“
„Nenn es wie du willst“, erwiderte Sophia unwirsch. „Immerhin hat Dean dafür gesorgt, dass du nicht länger in Untersuchungshaft bleiben musstest.“
„Der gute Dean“, höhnte Edward und stürzte den Inhalt seines Glases in einem Zug hinunter. „Was glaubst du wohl, warum er das getan hat? Aus Nächstenliebe?“
„Aus Liebe zu Cary.“
„Das ich nicht lache...“
Das Läuten an der Haustür ließ sie beide aufhorchen.
„Erwartest du noch Jemanden?“, fragte Sophia mit einem erstaunten Blick zur Uhr.
„Nein.“
Edward stellte das leere Glas auf den Tisch, machte jedoch keinerlei Anstalten, zur Tür zu gehen. Voller wachsender Ungeduld trat Sophia von einem Fuß auf den anderen.
„Du solltest vielleicht trotzdem nachsehen. Rosita ist nicht mehr da.“
Edward stöhnte gequält, als es abermals läutete, diesmal allerdings mit Nachdruck und mehrmals hintereinander.
„Verdammt, ich komme ja schon!“
Mit wenigen Schritten war er an der Tür, riss sie wütend auf und sah sich einer Person gegenüber, mit deren Besuch er wohl zuallerletzt gerechnet hätte.
„Sie?“